Bis zum letzten Schlag

Von Bastian Obermayer

Wenn ein neues Herz die einzige Chance ist: die Geschichte eines schwerkranken Mannes, der wartete und nie aufgab. Eine Geschichte der Verzweiflung – und der Hoffnung.

Der Frühling drängt, der März beginnt, und Wolfgang Budig wartet darauf, dass ein Mensch stirbt. »Es regnet, das ist schlecht«, sagt er und schaut aus dem Fenster, »bei Regen fahren keine Motorradfahrer.« Er lächelt matt. Wenn sie nicht fahren, verunglücken sie nicht. Krankenhaushumor.

Budig ist schwer herzkrank, aber er ist 1,94 Meter groß und fast 95 Kilo schwer, er braucht das Herz eines Menschen, der mindestens seine Ausmaße hat. Solche Herzen sind selten. Alle zehn Stunden stirbt in Deutschland ein Motorradfahrer bei einem Unfall, Motorradfahrer sind meistens männlich, und Männer sind im Schnitt größer und schwerer. Nur regnet es jetzt. Wolfgang Budig, 39, braune Haare, sanfte Stimme, verheiratet mit Anja Budig, 35, zwei Kinder, Florian, drei, und Nina, eineinhalb, wartet also.

Er wartet im dritten Stock des Münchner Krankenhauses Großhadern, in der Herzchirurgie, in einem schmalen Zimmer, kaum größer als sein Bett. Um ihn gruppieren sich medizinische Apparaturen. Er wartet dort, weil ihn seit Ende Februar nur noch ein Kunstherz am Leben hält: Ein mobiler Druckluftmotor neben dem Bett treibt – keuchend und zischend, als würde ein Roboter schlecht Luft bekommen – zwei faustgroße Herzkammern aus durchsichtigem Hartplastik an, die auf seinem Bauch liegen. Sie tun, was sein krankes Herz nicht mehr kann, sie pumpen das Blut durch seinen Körper.

Wenn er aus dem Fenster blickt, sieht er nur die graue Wand des gegenüberliegenden Trakts, keinen Himmel. Wenn er das Zimmer verlässt, sein Kunstherz wie einen Trolley neben sich herziehend, traut er sich nicht an die Sonne oder an die Luft zu gehen, sondern nur auf den Gang der Station. Sicher ist sicher. Wie lang er mit dem Kunstherz leben kann, weiß er nicht und wissen die Ärzte nicht.

»Sein neues Herz wird bald kommen, wir rechnen im Prinzip jeden Tag damit «, sagt in seinem Büro drei Stockwerke tiefer Bruno Reichart, 65, dunkelblondes Haar, hellwacher Blick. Er ist Chef der Münchner Herzchirurgie und einer der besten Herzspezialisten weltweit. »Herr Budig wird nicht lang hier sein, er steht auf der HU-Liste, da hat noch niemand länger als drei Monate gewartet.«

Wolfgang Budig steht auf dieser HU-Liste für Organspenden, HU wie »high urgent«, auf Deutsch: höchste Dringlichkeit, seit er an das Kunstherz angeschlossen werden musste. Und weil er kurz nach dieser Operation auch noch einen kleinen Schlaganfall erlitt, rangiert er auf der Liste sogar relativ weit oben.

Gut für ihn. Und schlecht.

Denn wer auf dieser Liste so weit oben steht, ist todkrank. Permanente akute Lebensgefahr, sagen die Ärzte. Einem Menschen mit Kunstherz kann vieles zum Verhängnis werden, ein Gerinnsel, eine Entzündung, eine banale Infektion. Nur zwei Drittel der Patienten mit Kunstherz schaffen es überhaupt auf den OPTisch. Die anderen sterben vorher. Während sie auf das Herz warten.

27. Mai 2008. Fast drei Monate später. Wolfgang Budig liegt noch immer in seinem Zimmer. Aber jetzt ist ein Mensch hirntot, irgendwo bei Ulm. Gegen 16:30 Uhr steht die Kardiologin Sieglinde Kofler, 37, blond, energisch, leichter Südtiroler Akzent, in Wolfgang Budigs Zimmer und sagt: »Ich hab ein Organ für Sie. Laborwerte, Pumpfunktion, Blutgruppe, Alter und Größe des Spenders passen. Allerdings haben wir es noch nicht gesehen.«

Budigs Puls und Blutdruck machen sich sofort auf und davon, er sieht das auf dem Monitor neben sich, der rund um die Uhr seine Werte anzeigt. Und er spürt es: Ihm wird schwummerig, in seinem Kopf tanzt das Glück. Endlich ist da ein echtes Herz! Er ermahnt sich: Nicht zu früh freuen! Ruhig bleiben! Beides fällt ihm schwer. Mit zittrigen Fingern nimmt er den Telefonhörer ab und wählt die Nummer seiner Frau. »Ich bin’s, die haben ein Herz, es geht los«, sagt er.

17 Uhr. Budig bekommt ein leichtes Beruhigungsmittel, etwas Starkes darf er nicht nehmen, er soll ja bald eine Narkose bekommen – wenn das Herz auch aus der Nähe noch gesund aussieht, und wenn nach der sogenannten Kreuzprobe feststeht, dass es in Budigs Blut keine Antigene gegen das Blut des Spenders gibt.

Währenddessen organisiert Sieglinde Kofler vom Büro der Transplantationsambulanz im Erdgeschoss aus den Einsatz. Sie schickt einen Hubschrauber nach Ulm, wo die Organe des potenziellen Spenders am Leben gehalten werden. An Bord das Entnahmeteam: Oberarzt Ingo Kaczmarek und ein Perfusionist, der das Herz für den Transport konserviert. Gleichzeitig alarmiert Kofler die Mannschaft, die das neue Herz dann in Großhadern sofort einsetzen soll: drei Herzchirurgen, ein Anästhesist, eine Anästhesieschwester, zwei OP-Schwestern und ein Herz-Lungen-Maschinist.

17:30 Uhr. Wolfgang Budig wird am ganzen Körper gewaschen, rasiert und mit einer alkoholischen Lösung desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze gesteckt. Seine Frau Anja und seine Mutter Gertraud Budig sitzen neben ihm am Bett. Mutter Budig nickt viel vor sich hin und sagt alle fünf Minuten: »Jetzt hast du es bald hinter dir, Bub.« Noch immer fehlt das Okay aus Ulm.

Gegen 18 Uhr schiebt eine Schwester Budig in den OP-Trakt, gleiches Stockwerk, nur ein paar Gänge und Ecken weiter. An der letzten Schiebetür küsst Anja Budig ihren Mann – »wird schon hinhauen«, sagt sie und lächelt. Er nickt, kaum mehr ansprechbar vor Aufregung. Die Schwestern drängen, er hebt noch einmal die Hand. Wenn sie sich das nächste Mal sehen, wird er ein neues Herz haben. Das ist der Plan.

19 Uhr. In einem Vorbereitungsraum vor dem OP-Saal wird Budig in der Leiste ein Schlauch eingesetzt und festgenäht, zur Blutdruckdauermessung während der Operation; außerdem werden ihm am ganzen Oberkörper Elektroden aufgesetzt. Dann ist er bereit. Auch das Implantationsteam ist bereit. Alle warten auf den einen Anruf aus Ulm, darauf, dass Budig ein paar Meter weitergeschoben, anästhesiert, an ein Beatmungsgerät angeschlossen und sein Brustkorb geöffnet wird. Anschließend käme er an eine Herz-Lungen-Maschine, das Kunstherz würde abgetrennt und das alte Herz entfernt. Das neue Herz müsste nur noch eingesetzt werden.

Es ist 20:30 Uhr. Der Anruf aus Ulm soll gegen 21 Uhr kommen.

Anja Budig räumt derweil das Zimmer ihres Mannes aus, nach der OP soll er auf die Intensivstation. Viel ist es nicht, er wollte ja nicht lang bleiben: drei Zeichnungen von Florian, ein paar Bücher, einen Stapel Kicker und Handballmagazine, Kulturbeutel und Unterwäsche.

21 Uhr. Im OP-Vorbereitungsraum versucht Wolfgang Budig ruhig zu atmen. Im Aufenthaltsraum sprechen seine Frau und seine Mutter über das Danach. Im Transplantationsbüro erfährt Sieglinde Kofler, dass sich alles um eine halbe Stunde verzögert: Das Münchner Entnahmeteam darf den Brustkorb des Toten noch nicht öffnen, die Ärzte anderer Krankenhäuser, die dem Spender ebenfalls Organe entnehmen wollen, sind noch nicht angekommen.

Kurz nach 21:30 Uhr ruft Oberarzt Ingo Kaczmarek aus Ulm an und sagt: »Das Herz ist nichts. Die Coros sind verkalkt.« Coros sind Koronararterien, und ein derart verkalktes Herz hält nicht lang. Wolfgang Budig sieht den zwei Schwestern die schlechte Nachricht schon an ihren vorsichtigen Blicken an, als sie an seine Liege treten. Ihr »War nichts, Herr Budig, leider« nimmt er noch wahr, bevor ein Rauschen in seinem inneren Ohr zu einem Dröhnen anschwillt und ihn davonträgt.

Dann wird es wieder still in ihm, und er spürt einen eisenharten Klumpen im Bauch. Er will nicht weinen. »Für Sie ist ein besseres Herz reserviert«, sagt eine Schwester, während sie den stillen, erstarrten Wolfgang Budig von den Geräten nimmt.

Als er gegen 22:15 Uhr zurück in sein Zimmer geschoben wird, schaut er in die enttäuschten Gesichter seiner Frau, seiner Mutter und seiner beiden Geschwister, die gerade erst aus der Schweiz angekommen sind. Die Mutter sagt: »Das wird schon«, weil sie nicht weiß, was sie sonst sagen soll, »das wird schon.« Anja Budig verteilt die Sachen ihres Mannes wieder im Zimmer. Es ist nicht vorbei.

Wolfgang Budig – nie geraucht, selten Alkohol getrunken – bekam mit 28 Jahren einen Herzinfarkt, weil sich bei ihm wegen eines Gendefekts leicht Gerinnsel bilden. Sein Herz war danach schwächer als das anderer Menschen, aber er lebte elf Jahre ein normales Leben: Er wachte auf in einem Reihenhaus in Unterhaching, fuhr morgens zur Arbeit und abends zurück, wurde Vater zweier Kinder und drückte am Wochenende dem FC Bayern die Daumen. Seinen Sohn Florian nannte er sogar mit zweitem Namen Christian, sodass dessen Initialen FCB lauten.

Dann, am 26. Februar 2008, wurde Wolfgang Budig auf der Straße ohnmächtig. Als es ihm am nächsten Tag nicht besser ging, überwies ihn sein Arzt nach Großhadern, zur Beobachtung. Budig gehorchte, sagte den Ärzten aber gleich, dass alles gar nicht so schlimm sei. In der Nacht darauf brach sein Körper völlig zusammen – Multiorganversagen – und er kam erst fünf Tage später wieder zu Bewusstsein, mit einem künstlichen Herzen, auf der Intensivstation. Seither wartet er.

Seine Tage sind immer gleich, im März, im April, im Mai. Budig liest viel, sieht fern und hat Besuch, er schläft tagsüber wenig, damit er nachts schlafen kann, alle vier Stunden messen die Schwestern Blutdruck, Temperatur und Sauerstoffsättigung.

Alle paar Tage wird Blut abgenommen, einmal am Tag ist Visite der Stationsärzte, einmal die Woche Chefarztvisite: 7 Uhr, grelles Licht: »Guten Morgen!« Jeden Mittag bringt Gertraud Budig ihrem Sohn ein selbst gekochtes Essen vorbei. Jeden Abend verabschiedet sich Anja Budig am Telefon von ihrem Mann mit den Worten: »Vielleicht bis später.« Später: falls in der Nacht ein neues Herz kommt.

Den ersten Tagen im März begegnet Budig mit einem Lächeln, die Aussichten auf ein Herz scheinen gut. »Wir reden hier von Tagen«, sagen die Ärzte. Ende März verschlechtert sich seine Laune, er bekommt Nasenbluten: jeden Tag, weil er hohe Dosen Blutverdünnungsmittel braucht, um einem weiteren Schlaganfall vorzubeugen. Einmal rinnt über Nacht so viel Blut von der Nase die Kehle hinunter, dass er am nächsten Tag Magenprobleme hat, und Husten, weil die Lunge verklebt ist.

Das Herz wird bald kommen, sagt er sich und sagen ihm alle. Er versucht, nicht bei jedem Klopfen an der Tür zu hoffen, dass eine Schwester die Nachricht vom neuen Herzen bringt. Er versucht: nicht zu warten. Aber er wird leerer. Er kann sich nicht mehr auf seine Krimis konzentrieren, starrt stattdessen aus dem Fenster, an die graue Wand. Nachrichten schaut er schon länger nicht mehr; wenn Freunde ihm Neuigkeiten erzählen, hört er nicht wirklich zu. Er will nichts von einer Welt wissen, an der er kaum mehr Anteil hat.

Früher war er am Vatertag mit Freunden unterwegs, feiern, Bier, was man so macht. In diesem Jahr fragt Budig am Vatertag, dem ersten Mai, seine Ärzte, ob auch betrunkene Motorradfahrer als Spender in Frage kommen. Kein Problem, sagen die. Wolfgang Budig wünscht niemandem den Tod, aber er wartet nun mal bereits seit mehr als zwei Monaten darauf, dass ein Mensch stirbt.

Der Stillstand in Budigs Leben trifft auch seine Familie. Sohn Florian versteht nicht, warum der Papa nicht endlich nach Hause kommt und mit ihm Fahrradfahren übt wie andere Väter. Anfangs freut sich Florian noch auf das Krankenhaus, vor allem wegen der automatischen Tür der Herzchirurgie: Wenn er ihr nahekommt und sie sich surrend öffnet, behauptet sein Vater, die Tür gehe nur auf, weil Florian einen Keks in der Hand habe. »Nein«, kreischt der, und beweist begeistert das Gegenteil. »Dann wegen deinem blauen Pulli!«, sagt der Vater, und so geht es immer wieder, auf, zu, auf, zu.

Inzwischen ist die Tür eine Tür. Langweilig. Jetzt spielen sie meistens Autoquartett, zusammen gegen die Mama, und fast immer einigen sie sich auf Unentschieden. Damit keiner traurig ist.

Anja Budig und ihr Mann kämpfen gemeinsam und doch allein. Sie, blond, Brille, sportlich, früher Assistentin der Geschäftsführung eines Verlags, seit drei Jahren zu Hause bei den Kindern, muss draußen alles auf die Reihe bekommen. Sie kümmert sich um Mann und Kinder, um jeden Anruf, jedes Formular, spricht mit Krankenversicherung, Ärzten und dem Arbeitgeber ihres Mannes, einer Versicherung. Sie steht unter Dauerstress, sie kommt nicht zum Nachdenken.

Wolfgang Budig hat viel Zeit, um zu grübeln. Darüber, warum es ausgerechnet ihn getroffen hat, oder ob das alles die Ehe belasten wird. Mit solchen Gedanken muss er allein fertig werden, da helfen die Stimmungsaufheller wenig, die er jeden Tag schluckt.

28. Mai 2008, der Tag nach dem abgebrochenen ersten Transplantationsversuch. Die Aufregung der Nacht ist verhallt, Sieglinde Kofler steht auf dem Gang vor Wolfgang Budigs Zimmer. Sie weiß, dass ihr Patient verzweifelt ist, erschöpft vom Hoffen. »Aber er muss jetzt durchhalten, und wir müssen ein Lächeln auf sein Gesicht bringen. Dieser Kampf wird im Kopf gewonnen«, sagt sie.

Und sie hat etwas, was ihm zumindest über diesen Tag helfen wird: Budig ist mittlerweile auf der europaweiten HU-Liste die Nummer eins. Alle vor ihm haben ein Herz bekommen oder sind gestorben. Jetzt steht Budig ganz oben, das heißt: Jedes zu vergebende Herz aus den sieben Ländern, die der Vereinigung Eurotransplant angehören, wird darauf geprüft, ob es ihm passen würde. Und allein in Deutschland werden 400 Herzen pro Jahr vergeben, was zwar viel zu wenig ist für die 600 bis 800 Menschen, die auf ein Herz warten – von denen jeder Fünfte stirbt, während er wartet –, andererseits ist das im Schnitt mehr als ein Herz pro Tag, und Budig ist auf Platz Nummer eins.

Aber er braucht eben ein sehr starkes Herz, der Spender muss fast zwei Meter groß sein, das ist das Problem. Bevor Budig auf die Warteliste kam, musste er mit einem Psychologen sprechen. Es haben sich schon Menschen umgebracht, weil sie es nicht ertrugen, das Organ eines anderen Menschen in sich zu tragen. Eine solche Verschwendung von Organen wollen die Ärzte verhindern, dafür gibt es zu wenige.

Anfang Juni. Seit über drei Monaten hat Wolfgang Budig den dritten Stock des Krankenhauses nicht mehr verlassen. Die Ärzte sagen: Es kann sich nur noch um Tage handeln. Das sagen sie seit März. Es ist ein bisschen wie beim Roulette, wenn man immer wieder auf Rot setzt, und jedes Mal kommt wieder Schwarz: Es ist klar, dass irgendwann Rot kommen wird. So lang muss Budig am Leben bleiben. Darum geht es.

6. Juni 2008, das zweite Herz. 12 Uhr, draußen scheint grell die Sonne. »Nierchenwetter«, sagen Sanitäter, wenn sie an solch schönen Tagen dauernd von Motorradfahrern überholt werden. Budig wartet gewaschen, rasiert, desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze in seinem Zimmer, die Krankenakte schon aufs Bett gepackt. Da stürzt Sieglinde Kofler herein: »Passt nicht, falsche Antikörper, tut mir leid.« Wieder Schwarz.

10. Juni 2008, das dritte Herz. Gewaschen, rasiert, desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze, mit Arterienzugang und aufgesetzten Elektroden liegt Wolfgang Budig vorm OP-Saal, im Kreislauf ein Beruhigungsmittel, das kaum wirkt. Um Mitternacht erfährt er, dass das Herz nicht passt. Eine Kammer war krankhaft vergrößert.

Er wollte nicht hoffen dieses Mal, einfach nicht darauf hoffen, mit neuem Herzen aus der Nacht zu kommen und ein Leben hinter sich zu lassen, das sein früheres nicht einmal mehr imitiert. Er braucht eine Tablette, um einzuschlafen.

Dreimal kam das Herz. Dreimal. »Es dringt langsam weiter nach innen bei mir, es wird härter«, sagt Budig. Er hat das Vertrauen in das eine, das rettende Herz verloren. Wenn seine Mutter wieder einmal »wird schon« sagt, und dass es beim nächsten Mal doch klappen muss, fährt er sie an: »Sei endlich still!« Er kann das hilflose Gerede seiner Besucher nicht mehr hören. »Ich weiß selber, dass ich arm dran bin, das muss mir keiner sagen. Die machen die Tür hinter sich zu, ich muss hierbleiben.« Er bekam in den vergangenen Monaten mehr Hoffnung und Trost zugesprochen, als er vertragen konnte.

Nachts wacht er auf, weil seine Beine zucken. Wohl eine Nebenwirkung eines seiner vielen Medikamente. Oder Nervensache.

12. Juni 2008, ein Tag nach dem EM-Spiel Deutschland gegen Österreich. Oberarzt Ingo Kaczmarek fragt Budig bei der Visite, ob er das Spiel gesehen hat. »Ich kann ja nicht weg«, sagt der. Ein Witz, den er schon so oft gemacht hat, dass er nicht mehr mitlacht.

Am 20. Juni, einem Donnerstag, spielen die Deutschen gegen Portugal. Sie führen zur Halbzeit 2:0. Dann fällt im Krankenhaus das Fernsehen aus. Dass die Deutschen 3:2 gewonnen haben, wird später per Lautsprecher durchgesagt.

Um 23:30 Uhr ruft Anja Budig an, auch sie will ihrem Mann das Ergebnis durchgeben. »Bis später vielleicht«, sagt Budig zum Abschied.

Später, kurz nach Mitternacht, weckt ihn eine Schwester – »wir haben ein Herz«, sagt sie. Das vierte.

Um 1:15 Uhr wird Budig OP-fertig gemacht, ab 2:15 Uhr sitzen seine Frau Anja, Mutter Gertraud und Bruder Thomas bei ihm. Sie reden über Wolfgang Budigs Schwester, die gerade auf Bali ist, über die Fußball-EM und über die teigigen Krankenhaussemmeln. Über alles, nur nicht über das Herz. Seiner Mutter fällt es am schwersten, sie würde am liebsten mit allen gemeinsam hoffen. »Aber wenn man was sagt, regt er sich nur auf, also hab ich meinen Mund gehalten«, wird sie später sagen.

Nachts fühlt sich ein Krankenhaus anders an, dunkel, leiser, nichts rührt sich. In einem der wenigen erleuchteten Zimmer wartet Wolfgang Budig auf sein neues Leben.

Um 5:30 Uhr sollte er eigentlich in den OP geholt werden.

Gegen 5 Uhr heißt es, es dauere doch länger, Herz und Spender seien weiter weg. Budig schließt die Augen und versucht, das nicht als schlechtes Zeichen zu sehen. Es wird hell.

Um 6:30 Uhr fehlt das Okay des Entnahmeteams noch immer, aber eine Krankenschwester soll ihn in den OP-Bereich schieben. Mutter Gertraud will ihm noch einmal über die Backe streicheln, er zuckt weg. »Lass, Mama!«, sagt er. Er zittert vor Nervosität, auch wenn es das vierte Mal ist, dass er der Operation entgegengeschoben wird. Anja Budig geht mit ihm, sie hält seine Hand, die eiskalt ist, sie hält sie, bis er durch die letzte Schiebetür gleitet. Zurück im Zimmer, weigert sich Anja Budig, die Sachen ihres Mannes zu packen – »erst, wenn er wirklich operiert wird«, sagt sie.

Um 8:15 Uhr tritt eine OP-Schwester an Wolfgang Budigs Bett und sagt: »Das Herz passt. Sie werden operiert.« Ein paar Minuten später erfahren die Wartenden draußen davon. Sie fallen sich um den Hals, endlich ist es so weit, endlich, endlich. Anja Budig räumt zum zweiten Mal das Zimmer ihres Mannes.

10:30 Uhr. Das Herz, das Wolfgang Budig bekommen soll, ist noch nicht in München, aber es soll jeden Moment kommen, sagt Kofler. Dann ist es da: Am 21. Juni 2008 um 10:45 Uhr bringt Oberarzt Paolo Brenner das Herz in den OP-Saal, es wurde erst geflogen, dann im Auto gefahren, mehr dürfen die Ärzte nicht sagen.

Um 11:30 Uhr legt jemand Budigs 39 Jahre altes krankes Herz auf einen Beistelltisch.

Um 11:55 Uhr betritt Professor Bruno Reichart – feine Schuhe, graue Anzughose, darüber blauer Klinikkittel – das Aufenthaltszimmer, in dem die Budigs warten. Reichart sagt Guten Tag, er wirkt konzentriert, angestrengt. Er nickt allen zu und setzt sich an den Tisch. Dann erklärt er: »Ich komme mit guten Nachrichten. Das alte Herz ist draußen, das neue Herz schlägt schon. Es sieht gut aus.«

Budigs Mutter schnauft tief auf, »oh Gott«, sagt sie, ihr treten Tränen in die Augen. Anja Budig beugt sich im Stuhl nach vorn, fragt sofort nach: »Wie geht es weiter?« – »Gegen 14 Uhr dürften wir fertig sein. Gehen Sie nach Hause, rufen Sie um 18 Uhr hier an, da müsste Ihr Mann schon auf der Intensivstation

liegen, 2633 ist die Nummer.« Anja Budig schüttelt den Kopf, irgendetwas sagt ihr: Das geht zu glatt. »Keine Blutungen?«, fragt sie, die Stimme fest. »Nein, alles gut«, sagt Bruno Reichart.

Anja Budig bleibt angespannt, sie wird nicht nach Hause fahren. »Erst, wenn er auf der Intensivstation liegt«, sagt sie. In Wolfgang Budigs altem Zimmer wird gerade der Boden gewischt, das Bett ist schon neu bezogen.

15 Uhr. Sieglinde Kofler kommt zu den Wartenden. Sie sagt, es habe Schwierigkeiten beim Abschalten der Herz-Lungen-Maschine gegeben, die rechte Herzkammer wolle nicht richtig mitschlagen, ein Hilfsapparat musste eingesetzt werden. Budig bekomme starke Medikamente, die ihn am Leben halten, die man ihm aber nur ein paar Tage geben könne. Wenn es bis dahin nicht besser wird, wäre das sehr schlecht, sagt die Ärztin. Anja Budig presst ihre Lippen zusammen. »Wie schlecht?«, will sie wissen. »Wir müssen mit allem rechnen«, sagt Kofler.

Am frühen Abend besucht Professor Reichart noch einmal die drei Wartenden. Zu diesem Zeitpunkt wird Wolfgang Budig seit fast acht Stunden operiert.

Reichart erklärt leise noch einmal, was passiert ist. Sagt, dass sie alles Menschenmögliche tun werden, und dass ihnen schon etwas einfallen wird.

19:00 Uhr. Budig wird auf die Intensivstation gebracht, sein Zustand ist kritisch. Er schläft. Es ist seine erste Nacht mit dem neuen Herzen. Für ihn hat das Warten ein Ende. Tags darauf steht Anja Budig zur Besuchszeit um 15 Uhr am Bett ihres schlafenden Mannes in der Intensivstation, ein großer Raum mit sechs Behandlungsboxen, die mit blauen Vorhängen voneinander abgetrennt sind. Hinter Wolfgang Budig hängen an einer Wand automatische Spritzen, Flaschen und Tröpfe, die 23 verschiedene Medikamente in seine Blutbahn pumpen. Er wird von einem ECMO-Gerät, einer Art kleiner Herz-Lungen-Maschine, einem Dialysegerät und einem Beatmungsapparat am Leben gehalten.

Anja Budig, mit blauem Mundschutz und Besucherkittel, streichelt seinen Arm, erzählt, wie es ihr geht, grüßt ihn von den Kindern und denkt sich: Seltsam, da schlägt jetzt ein anderes Herz in meinem Mann. Die nächsten Tage verlaufen lähmend. Budigs Organismus ist stark geschwächt, die Ärzte halten ihn die meiste Zeit im künstlichen Schlaf. Er wird von der Beatmungsmaschine genommen und einige Tage später wieder drangehängt, weil er Schleim in der Lunge hat und kaum Luft bekommt.

Einmal ist Budig so wach, dass er einfache Fragen durch Blinzeln beantworten kann, am nächsten Tag liegt er im Bett wie ein Wachkomapatient, reißt den Kopf herum, stöhnt laut, der Speichel läuft aus dem hängenden Mundwinkel, die Lider sind nur einen Spalt geöffnet, die Pupillen irren umher. Die Ärzte wissen nicht, ob sein Körper das Herz abstoßen will, sie wissen nur, welche Probleme sie haben: Die Nieren funktionieren nicht. Die Leber funktioniert schlecht. Der Entzündungswert steigt. Fünf Tage, zehn Tage, 15 Tage vergehen.

Florian erzählt im Kindergarten stolz, dass sein Papi ein neues Herz hat, aber noch nicht sofort nach Hause kann, weil es so neu ist. So in etwa hat Anja Budig es ihm erklärt. Das neue Herz, das ersehnte Herz, das verdammte Herz ist da und Anja Budig einem Zusammenbruch nahe.

»Das ist schlimmer als die Warterei«, sagt sie, »davor wusste ich, dass er kämpft, dass er leben will, weil er seine Kinder aufwachsen sehen will. Jetzt weiß ich überhaupt nicht, was in ihm vorgeht. Wahrscheinlich nicht viel, so wie er aussieht«, sagt sie. Zuvor waren sie ein Team, konnten gemeinsam scherzen, reden, sich drücken, heulen und wütend sein. Jetzt ist sie allein. Ihr Mann ist weit weg, und niemand kann sagen, ob er wieder zurückkommt.

Die Ärzte sind weiterhin optimistisch. Auch am 17. Tag nach der Transplantation sagt Sieglinde Kofler noch, sie habe ein gutes Gefühl, das sei bei der Intensivmedizin wichtig, und Budig habe ein Bombenherz von einem jungen Spender. Am nächsten Tag, dem 8. Juli, muss Budig notoperiert werden, im rechten Lungenflügel hat sich viel Blut gesammelt. Einen Grund dafür finden die Ärzte bei der Operation nicht, möglicherweise liegt es an den Blutverdünnungsmitteln, die ihm gegeben werden.

Außerdem hat Budig jetzt noch eine Lungenentzündung, und die Ärzte entdecken im Lungensekret einen Keim, gegen den die bisher gegebenen Antibiotika nicht wirken. Im März hatte Sieglinde Kofler erklärt, wovor die Ärzte nach einer Transplantation am meisten Angst haben: Das Horrorszenario bestand aus einer Abstoßung, begleitet von einer Lungenentzündung. Dagegen kämpfen sie jetzt.

Wolfgang Budig schläft weiter. 20 Tage, 25 Tage. Auf einmal macht er Fortschritte. Die Keime sterben, die Lungenentzündung vergeht, die Entzündungswerte sinken. Der Herzmuskel schwillt ab, das neue Herz schlägt mit jedem Tag kräftiger, der Körper wird besser durchblutet, Leber und Nieren erholen sich. Budigs Organe funktionieren langsam wieder, jedes für sich, und alle miteinander. Der Körper arbeitet sich zurück ins Gleichgewicht. Dann wacht Budig auf.

Aber nicht plötzlich, nicht von einer Minute auf die andere, er dämmert drei Tage lang hoch, die Sinne werden heller und finden zueinander, sein Bewusstsein kehrt zurück. Ihm wird klar, dass er nicht in einem Krankenhaus hinter Rostock liegt, wie er die ganze Zeit über in seinem wirren Wachtraum glaubte. Er versteht, was um ihn herum passiert, dass er in Großhadern ist, auf der Intensivstation, und endlich das Herz hat, auf das er so lang gewartet hat. Dann merkt er, dass er sich nicht bewegen kann.

Er wird panisch, ruft die Pfleger. Sie sagen ihm, dass seine Nerven sich zurückgebildet haben, weil sie so lange keine Reize erhalten hatten. Und dass er sich davon wohl bald erholen wird.

Mit jedem Tag wird Wolfgang Budig belastbarer, auch seelisch. Stück für Stück erfährt er von seiner Frau und den Ärzten, wie es um ihn bestellt war. Dass er so gut wie tot war. Und dass man ihm das jetzt ruhig so sagen kann, weil er über den Berg ist.

Ende Juli wird er verlegt nach Bad Aibling, bei Rosenheim, in die Neurologische Klinik. Station 21, Zimmer 10: sein letztes Krankenhauszimmer. Von dort sieht er die Berge, hat einen Balkon, auf den die Sonne scheint, davor ein Maisfeld und ein Wald, in den ein kleiner Weg führt. Im August wird Wolfgang Budigs Luftröhrenschnitt zugenäht, er sieht Florian zum ersten Mal wieder, er kann die rechte Hand bewegen und bald auch die linke. Im September spürt er seine Zehen, er kann zum ersten Mal seit Februar wieder duschen, er bekommt einen Rollstuhl und kann seine Füße wieder bewegen. Im Oktober zieht er zum ersten Mal nach fast acht Monaten wieder feste Schuhe an, Turnschuhe, er geht an die frische Luft, er blinzelt in die Sonne, er steht, er atmet, sein Herz schlägt. Sein Herz. Er darf nach Hause.

»Ich hab’s geschafft«, sagt Wolfgang Budig, er wirkt gelöst. Es ist November, bald wird er wieder arbeiten; er sitzt im Wohnzimmer seines Reihenhauses, neben ihm im Stühlchen gluckst Tochter Nina, bald zwei Jahre. Sie hat einen Herzfehler, auch Leber, Lunge, Nieren und Galle sind geschädigt. Ihr musste ein Tumor aus dem Bauch entfernt werden, ein künstlicher Darmausgang wurde gelegt, sie braucht eine Magensonde.

Ninas Körper hat sich einfach nicht richtig entwickelt im Bauch ihrer Mutter: eine genetische Fehlbildung, so etwas passiert, ist nicht vererblich, hat nichts mit der Krankheit ihres Vaters zu tun. Die meisten Probleme haben die Ärzte inzwischen im Griff, sie sagen, mit etwas Glück kann Nina ein relativ normales Leben führen. Wenn sich auch die Leber erholt: Im Frühling sollte Nina schon auf die Warteliste für eine neue Leber, dann ging es ihr wieder besser. Jetzt ist sie vorgemerkt. Wolfgang Budig kennt das.

Er lächelt und sagt: »Das wird schon.«

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Nr. 299 vom 24. Dezember 2008