Eines Morgens an der Sonnenuhrhütte
Von Frank Buchmeier
Der schreibende Waldschrat und seine gute Fee: eine ungewöhnliche Begegnung am Rande der Großstadt.
In Volkssagen halten sich Schrate in Wäldern auf, sie werden als scheue Einzelgänger beschrieben. Feen sind zauberhafte Wesen, die sich um das Schicksal anderer kümmern. Dies ist eine Großstadtsage, sie beruht auf mündlichen und schriftlichen Überlieferungen.
Der Nebel des Frühherbstes wabert durch den Augenwald, als Edeltraud Wetzel am 7. Oktober 1996 ihren japanischen Kleinwagen am Parkplatz Oberer Kirchhaldenweg abstellt. Wie jeden Morgen gegen halb acht joggt die 54-Jährige in Richtung Saufang. Auf halber Strecke kommt sie an der Sonnenuhrhütte vorbei, die trotz ihres märchenhaften Namens lediglich eine wetterfeste Grillstelle ist. Dort sitzt der Schrat. Eine hagere Gestalt, unrasiertes Gesicht, dreckiges Hemd, löchrige Hose. In einer aufgeschnittenen Coladose hat er sich Kaffee gekocht. Edeltraud Wetzel bleibt stehen. »Ist das Ihr Frühstück«, fragt sie. Der Schrat nickt, und die Fee spricht: »Morgen bringe ich Ihnen etwas Anständiges vorbei.« Tags drauf am selben Ort zur selben Zeit. Edeltraud Wetzel stellt eine Thermoskanne auf den feuchten Holztisch und frische Brötchen von der Bäckerei Klinsmann. Auch die Stuttgarter Zeitung vom Vortag hat sie eingepackt. Der Schrat sagt danke, mehr nicht. Die Fee spricht übers Wetter. So geht es Morgen für Morgen und Woche für Woche. Irgendwann, es ist bereits Winter, stellt der Schrat sich vor: Heinz Kobald, Jahrgang 1940, obdachlos. Er zeigt sein Schlafzimmer, irgendwo im Dickicht hat er eine Plastikplane gespannt. »Hier kann kein Mensch leben«, sagt die Fee. An jenem Abend findet sie die erste Botschaft im Briefkasten.
Botnang, 15. Januar 1997
Sehr geehrte Frau Wetzel,
Sie machen sich ernsthaft Sorgen um mich, das sollten Sie nicht. Gegen die Kälte kann ich mich schützen, da wird fest in den Schlafsack gefurzt, das gibt Wärme.
Herzliche Grüße
Ihr Heinz Kobald
Fortan teilt ihr der Schrat regelmäßig mit, was ihn bewegt. Morgens redet er, und mittags schreibt er. Aus hunderten Frühstücksgesprächen und tausenden Briefseiten setzt Edeltraud Wetzel im Laufe der Zeit seine traurige Lebensgeschichte zusammen.
Ende der 70er Jahre wirft sich Kobalds Tochter in Backnang vor die S-Bahn. Kurz darauf stirbt auch seine Mutter, sein Vater erleidet einen Herzinfarkt, seine Frau lässt sich scheiden und nimmt den Sohn mit. Kobald verunglückt mit dem Auto auf schneeglatter Straße, erleidet schwere Hirnverletzungen. Er verliert ein Auge und später auch seinen Job, weil er im Wareneingang falsche Zahlen in den Computer tippt. Kobald beantragt Frührente, doch es dauert Monate, bis alle Formulare bearbeitet sind. Er hat Mietrückstände, fliegt aus seiner Wohnung, zieht unter eine Neckarbrücke und wird von jüngeren Obdachlosen vertrieben. So landet der Schrat draußen vor der Stadt.
Botnang, 14. Januar 1999
Liebe Frau Wetzel,
stellen Sie sich vor, Sie liegen im Bett, werden wach und über Ihnen liegt eine dicke Schneedecke, Sie heben den Kopf und schon rutscht Ihnen eine Handvoll Schnee den Rücken hinunter, brrr.
Besuche morgen um 9 Uhr, wie Sie es mir geraten haben, die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit beim Tagblattturm. Wäre es also möglich, dass Sie ein paar Sekunden früher an die Sonnenuhrhütte kommen, damit ich meinen Termin einhalten kann?
Liebe Grüße
Heinz Kobald
Edeltraud Wetzel ist eine viel beschäftigte Frau. Sie hat zwei Töchter, zwei Enkelkinder, eine pflegebedürftige Mutter, einen Hund und arbeitet als freiberuf liche Lektorin. »Warum kümmerst du dich um den Penner«, fragt ein wohlhabender Nachbar, »bei dem holst du dir nur Krankheiten.« Edeltraud Wetzel überhört das gnadenlose Geschwätz und versorgt den Schrat mit Nahrung, Decken, Geschirr und der abgelegten Kleidung ihres Ehemannes. Eines Morgens ist alles weg. Gestohlen. Der Schrat kauert schwermütig vor der Sonnenuhrhütte. Die Fee sagt: »Wir müssen Ihnen jetzt endlich einen festen Wohnsitz suchen.«
Es dauert fünf Monate, bis der Schrat in einem ausrangierten Bauwagen in Luginsland unterkommt, am Rand des Sportplatzes. Ein Bettgestell, ein Hängetisch, ein Spind, Toilette im Nebengebäude. Kobald tauft seine halbrunde Blechdachbehausung »Trommel«. Die Trommel ist ein heruntergekommenes Loch. Im Teppichboden hängen festgetretene Essensreste vom Vormieter, es stinkt bestialisch. In der Sonnenuhrhütte war es gemütlicher. Die Fee hilft beim Schrubben und organisiert eine Matratze. Darauf streckt sich der Schrat aus und träumt von Reisen.
Luginsland, 19. Oktober 1999
Liebe Frau Wetzel,
bitte vormerken: Vom 23.07. bis 25.07.2000 bin ich nicht zuhause, egal wo das sein mag. In dieser Zeit bin ich in Österreich, Formel-1-Grand-Prix in Zeltweg. Muss dem Michael Schumacher den Weg zeigen und die Reifen kontrollieren, nicht dass wieder einer fehlt.
Mit sportlichen Grüßen
Heinz Kobald
Ein paar Wochen später will der Schrat lieber nach Mallorca, weil es dort im Winter warm ist. Auch daraus wird nichts. Das einzige Fortbewegungsmittel, das Kobald besteigt, sind seine Schuhe. Stundenlang wandert er durch die Stadt, durch die Weinberge und durch den Wald. Manchmal schaut er an seiner geliebten Sonnenuhrhütte vorbei und eines Tages, es geht wieder auf den Winter zu, besichtigt er das Männerwohnheim am Feuersee. Den Schrat lockt die Aussicht auf eine Zentralheizung und trockene Füße.
Luginsland, 17. November 1999
Sehr geehrte Frau Wetzel!
Heute wieder mal einige Nachrichten aus meiner Trommel. Nach einer Stunde Heizen gibt es hier drin keinen Sauerstoff mehr. Dann ging ich auf mein WC, zuvor war vor meiner Trommel ein Fußballspiel, und die mussten wohl alle mal. Ich hätte Gummistiefel zum Pinkeln gebraucht.
Liebe Frau Wetzel, nun setzten Sie sich bitte hin. Ich werde am 1.12.99 umziehen, ich habe diese Trommel satt.
Mit ganz herzlichen Grüßen
Heinz Kobald
Die Fee ist von der neuen Bude nicht begeistert. Zwölf Quadratmeter für 490 Mark und eine Dusche, die sich der abstinente Schrat mit fünf trinkfreudigen Mitbewohnern teilen muss. Edeltraud Wetzel schreitet aufs Sozialamt: »Herr Kobald benötigt dringend eine Unterkunft, wo er seine Ruhe hat!« Die Sachbearbeiterin ist skeptisch. Es sei fraglich, ob sich der Schrat überhaupt wieder in die menschliche Gesellschaft eingliedern könne, zumal er ja hirngeschädigt sei. Feen sind gemeinhin sanfte Wesen, doch wenn sie gereizt werden, machen sie den Mund auf.
Edeltraud Wetzels rhetorischer Zauber wirkt. Im Dezember 2000 bezieht Heinz Kobald eine Zweizimmersozialwohnung in der Reinsburgstraße. Die Fee besorgt in ihrem Bekanntenkreis eine Schrankwand, ein Bett und eine Ledercouch. Alles scheint in bester Ordnung. Zumal sich der Schrat mit einer 80-jährigen Nachbarin anfreundet, die ihn in die Gottesdienste der evangelisch-methodistischen Kirche mitnimmt. Die Fee hat das Gefühl, dass ihre Mission erfüllt ist. Der Schrat benötigt keinen guten Geist mehr, der täglich über ihn wacht. Eine Täuschung.
Stuttgart, 3. März 2003
Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich gehe wieder dorthin, wo ich hingehöre: in den Wald. Es tut mir alles furchtbar leid.
Heinz Kobald
Der Zettel liegt auf seinem Esstisch. Edeltraud Wetzel sucht in der Wohnung nach dem Fluchtmotiv. Sie findet stapelweise Zeitschriften, vom Goldenen Blatt bis zur Financial Times. Die Hausverwaltung teilt mit, dass Kobald monatelang keine Miete bezahlt habe. Die Fee begleicht die Rückstände und hofft, dass der Schrat bald wieder auftaucht. Nach zehn Tagen steht er tatsächlich vor der Tür. »Heinz, was hast du für einen Mist gebaut«, fragt sie, er antwortet: »Schade, dass ich mir nicht selbst in den Arsch beißen kann.« Von da an sind sie per Du, und die Fee behütet den Schrat stärker denn je.
Am 3. April 2003 lässt sich Edeltraud Wetzel eine Urkunde ausstellen, die die Überschrift »Generalvollmacht« trägt. Sie wühlt sich durch Stapel von Rechnungen und erfasst das Unfassbare am Computer: Allein 29 Zeitschriftenabonnements hat Heinz Kobald abgeschlossen. Zudem hat der Schrat Bücher, Münzen, drei elektrische Dosenöffner und fünf Mokkaservice gekauft. Unterm Strich stehen rund 20.000 Euro Schulden. Von Kobalds Rente lassen sich die se Verbindlichkeiten kaum begleichen. Es sei denn, die Fee setzt ihre magischen Kräfte ein.
Stuttgart, 9. Oktober 2003
Liebe Edeltraud,
es ist wieder einmal an der Zeit, Dir danke zu sagen. Deine Arbeit ist eigentlich nicht zu bezahlen, auch wenn es für mich sehr hart war und ich dich oft in die Hölle hätte wünschen mögen. Auch wenn ich manchmal den Spruch vom Götzen gesagt habe, mußte ich später feststellen: Edeltraud Wetzel hat wieder mal Recht gehabt. Im Januar noch ein Berg von unerledigten Schriften. Und was ist noch übrig geblieben? Ein Hügelchen, über das man sehen kann. Heilixblechle . . .
Mit lieben Grüßen
Heinz
Zur Not lügt die Fee. »Herr Kobald ist untergetaucht und unauffindbar«, schreibt Edeltraud Wetzel an die Verlage, um 29 Abonnements elegant loszuwerden und überweist die ausstehenden Beträge aus eigener Tasche. Die Münzen schickt sie an den Absender zurück, die Bücher von Reader’s Digest ebenfalls. Mit den Banken vereinbart sie, dass Kobald seine Darlehen in kleinen Raten abstottern kann. Von 1.200 Euro Rente bleiben ihm 850. Das Geld wird direkt auf Edeltraud Wetzels Konto überwiesen, und Kobalds Post landet in ihrem Botnanger Briefkasten. Wöchentlich kriegt der Schrat ein Taschengeld ausbezahlt, selten kommt er damit aus.
Stuttgart, 19. Juni 2004
Liebe Edeltraud!!!
Entweder bin ich so dumm oder ich lerne es nie. Ich war in keinem Café, auch in keinem Restaurant, auch kein Kino oder Theaterbesuch, auch in keiner Bar. Trotzdem haben die 120 Euro, die du mir gegeben hast, leider nicht ausgereicht. Liebe Edeltraud, lange Rede, kurzer Sinn: Glaubst du, es wäre möglich, mir das Geld, das ich diesen Monat noch zu bekommen habe, auf einmal zu geben? Bitte nicht brummen.
Mit hoffnungsvollen Grüßen
Dein Mündel Heinz
Weitere fünf Jahre vergehen. Der Schrat ist ruhiger geworden und sein Bauch runder. Nur selten zieht es ihn hinaus in den Wald. Dann setzt er sich vor die Sonnenuhrhütte und denkt an jene Zeit, als ihn seine gute Fee mit frischem Kaffee, Brötchen und der Zeitung versorgte. Heinz Kobald lebt noch immer in seiner kleinen Wohnung in der Reinsburgstraße. Die methodistische Kirchengemeinde hat ihn zu ihrem Wanderführer auserkoren, im Seniorenzentrum Martha Maria ist er als ehrenamtlicher Gärtner tätig, und jeden Freitag schiebt er betagte Rollstuhlfahrer zum Gottesdienst.
So verwandelte sich der unstete Schrat in einen braven Mann.
STUTTGARTER ZEITUNG
Nr. 125 vom 3. Juni 2009