Die grüne Festung

Von Sabine Rennefanz

Am Kottbusser Tor schützt sich ein Haus vor Füchsen, Fixern und deutschen Schlagern.

Jetzt haben sie einen Fuchs im Garten. Er wühlt im Kräuterbeet, knabbert an den Blättern. Rosi Wieczorek-Akyol macht sich Sorgen, der Fuchs könnte womöglich einen Bandwurm haben und der Bandwurm könnte sich irgendwie auf sie übertragen. Sie wird im Frühling lieber kein frisches Basilikum mehr holen. So ein Bandwurm kann tödlich sein für Menschen, sagt sie, während sie am Küchentisch Cappuccino mixt. Der Milchschaum ist schön cremig, der Espresso stark, aber nicht bitter, die Tasse eine Schale, sie sieht aus wie vom Designer entworfen. Die Psychologin Rosi Wieczorek-Akyol macht perfekten Kaffee. Ihr Mann, Sen, ein Kita-Geschäftsführer, sitzt daneben, in der perfekten Küche. Die Einbaumöbel sind hell und modern, in der Ecke steht ein alter, gut restaurierter Holzschrank, an der Wand hängt ein Bild mit einer großen Salatschüssel. Man hat Angst, etwas schmutzig zu machen und zieht gleich am Eingang der Wohnung die Schuhe aus. Der Hausherr reicht Hausschuhe.

Was macht man mit so einem Fuchs?

Rosi Wieczorek-Akyol überlegt.

Ihr Mann sagt: »Den Fuchs lassen wir leben. Sonst heißt es noch, wir können uns nicht mal mit einem Fuchs arrangieren.« Wenn man zuhört, hat man das Gefühl, die beiden würden es fast genießen, sich über so etwas Banales Gedanken zu machen wie einen Fuchs im Haus. Mal keine Nazis, keine kurdischen Terroristen, keine Islamisten, keine Drogensüchtigen. Ein Fuchs, wie schön!

Es gibt zwei Arten von Häusern an der Straße zwischen Kottbusser Tor und Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Die einen sind die Fantasien von Stadtplanern, die auf Speed gewesen sein müssen, braune, abschreckend wirkende Festungen, auf deren Balkonen man nie Menschen sieht, nur Satelliten, ausgerichtet auf türkische und arabische Sender. Auf der anderen Seite ein paar hübsche Jugendstilhäuser, die besetzt und später legalisiert wurden. So eines ist Nummer 8.

Am Hauseingang verunstaltet ein riesiges blaues Graffiti das schnörkelig verzierte alte Metalltor, es könnte ein tanzender Mann sein oder ein Steinewerfer. Im Treppenhaus steht Fahrrad an Fahrrad, auch sonst wirkt der Flur studentisch: mit den welken Grünpflanzen auf dem Treppenansatz, und den Graffitizügen an den Wänden. Die Wohnungstüren sind grün angestrichen. Das Grün ist mehr als eine Farbe. Es ist die Haltung der Bewohner.

Fünf Stockwerke ragt das Haus nach oben. Nur die Räume im Erdgeschoss sind vergittert, sie stehen leer. Wer dort einzieht, das ist zu einem erbitterten Streit geworden. Auslöser war eine Idee des Kreuzberger Bürgermeisters. Franz Schulz, auch ein Grüner, wollte in Haus Nummer 8 eine Fixerstube einrichten, einen Raum, in dem sich Drogenabhängige vom Kottbusser Tor mit sauberen Spritzen versorgen können.

Im Haus wurde lange über die Idee diskutiert, und nicht nur hier. Das ganze Viertel war aufgeschreckt, türkische Mütter und Väter, Kioskbesitzer, Linksalternative, Autonome. Jeden Sonnabend wurde demonstriert, gegen die Drogenszene beziehungsweise dafür. Es gab öffentliche Aussprachen und einen Runden Tisch. Das Haus Nummer 8 wurde zu einem Symbol, und bald wurde klar, dass es um mehr als um Junkies ging. Es ging auch darum, was Kreuzberg ist und was es werden wird.

Die Bewohner des Hauses Nummer 8 erfuhren aus der Zeitung von dem Plan mit der Fixerstube. Sie sind immer noch wütend. Franz hat sich bis heute nicht entschuldigt, sagt Rosi.

Ach, der Franz ist ein Sturkopf, sagt Sen. Franz ist der Bürgermeister von Kreuzberg. Franz und Sen kennen sich aus der Bezirksversammlung. Alle kennen sich hier. Als Sen neulich bei einer der Diskussionen angegriffen und als Faschist beschimpft wurde, sprang ihm sofort Cem Özdemir, der Grünen-Chef, zur Seite. Der Mann sei ein kurdischer Kommunist aus der Türkei, er sei als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, rief Özdemir vom Podium hinunter. Özdemir ist Sens Nachbar.

Aus der Sicht des Bürgermeisters war es wahrscheinlich nur eine folgenrichtige Logik, in der Nummer 8 einen Drogenraum für Süchtige einzurichten. Er dachte, dass Bewohner wie Sen und Cem dafür Verständnis hätten. Wo sonst sollte man in Kreuzberg Fixerstuben einrichten, wenn nicht in einem Haus wie diesem.

Die Geschichte des Hauses Nummer 8 geht bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zurück, aber die jüngere, die turbulente Geschichte, begann vor 28 Jahren, der Zeit der Hausbesetzungen in Kreuzberg. Acht Frauen und ihre Kinder besetzten das leere Haus, das ein Armaturenfabrikant vorher an die Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft (GSW) verkauft hatte. Es sollte saniert und die Wohnungen sollten teuer vermietet werden.

Sevim Celebi-Gottschlich hat Bilder und Zeitungsausschnitte von damals mitgebracht. Sie bestellt einen koffeinfreien Kaffee im »Schiff ahoi«, einem Lokal an der Admiralsbrücke, ein paar Minuten von dem Haus entfernt, das sie vor fast 30 Jahren mit eroberte. Jetzt will sie dort nicht mal mehr fotografiert werden. Es ist zu viel passiert.

Kreuzberg in den Siebziger- und Achtzigerjahren, das war der Ausnahmezustand. Erst sollte der Bezirk einer Autobahn weichen, später zum Aushängeschild für Stadterneuerung werden. Viele Altbauten, die den Krieg überstanden hatten, wurden abgerissen. Sevim Celebi-Gottschlich, die 1970 als 18-jährige Gastarbeiterin nach Deutschland kam, erinnert sich, wie in der Mariannenstraße US-Soldaten die Straße nah an der Mauer als Übungsplatz nutzten.

Ein paar Jahre später begannen die Demonstrationen. Die junge Türkin, die sich als kleines Mädchen geschworen hat, nie so leben zu müssen, wie die Mutter, die bei Reichen in Ankara putzte, lässt sich anstecken. Die Linken nehmen die Gastarbeiterin mit. Die meisten sind Studenten. Sie kommen aus dem Bett auf die Straße, Sevim Celebi kommt aus der Fabrik. Sie steht morgens um vier auf, um pünktlich bei Siemens am Fließband zu stehen, abends geht sie in die Schule, holt ihre Abschlüsse nach, fängt ein Studium an. Nebenbei bringt sie anderen türkischen Frauen in einem Stadtteilladen Lesen und Schreiben bei und entwickelt mit ihnen einen Plan: 78 leer stehende Häuser sind bereits besetzt. Warum sollten sie, die türkischen Frauen, nicht auch eins erobern?

Im Nachhinein klingt es ganz einfach, wie Sevim Celebi und ihre Mitstreiterinnen das Haus Nummer 8 erobert haben. Sie stürmen das Gebäude, rollen ein Plakat aus, auf dem »Nur Mut« steht. Ihre Kinder schreien, und auch die Frauen haben Angst. Doch nichts von dem, was sie befürchtet haben, passiert: Sie werden nicht von der Polizei verprügelt, sie werden nicht verhaftet. Die Polizisten waren freundlich, erinnert sich Sevim Celebi. Der einzige Offizielle, der kam, war ein Herr von der GSW. Er gab den verdutzten Frauen einen Hausschlüssel.

Sevim und die anderen beginnen mit den Renovierungsarbeiten. Sie sind stolz auf ihre Eroberung, die Zimmer sind gut geschnitten, groß und hell, mit Stuck an der Wand. Die Fensterscheiben fehlen zwar, es gibt Löcher in den Wänden, dafür fließt das Wasser. Sevim Celebi-Gottschlich lernt, Wände zu verputzen, tapezieren, mauern. Sie hat ein Foto aus dem Spiegel von damals dabei, sie steht am Tapeziertisch mit einem Tuch um den Kopf.

»Ich sollte das Kopftuch umbinden, das haben die Journalisten so gewollt.« Es ist nicht ganz klar, ob Sevim Celebi, eine elegante kleine Frau mit hellem Mantel, schwarzem Rolli und dezentem Lippenstift, sich mehr über die Journalisten ärgert oder über sich selbst. Dass sie das überhaupt mitgemacht hat.

Auch andere Bewohner ziehen nun in die freien Wohnungen ein, Alternative, Trotzkisten, Feministinnen, türkische Anarchisten und kurdische Kommunisten sind darunter. Die türkischen Frauen und ihre Kinder, die Eroberinnen, sind ihnen nicht engagiert genug. Bald gibt es Streit, ob man mit der GSW, also »dem Schweinestaat«, verhandeln soll. Sevim zieht aus und mietet mit ihrem deutschen Freund eine Wohnung am Fraenkelufer. Sie will damit ein Zeichen setzen. Aber es hilft nicht viel.

Die Migrantenfamilien ziehen nach und nach aus. Am Ende bleiben nur die mit der »richtigen« Gesinnung. Oder was sie dafür halten. Die Nachbarn nennen das Haus inzwischen Kommunistenhaus. Als Sevim ein paar Jahre später nachfragt, wo die 80.000 DM geblieben sind, die die GSW an die Mieter als Entschädigung für die Sanierung gezahlt hatte, nachdem das Haus legalisiert worden war, zucken alle nur die Schultern. Der Verein, den die Bewohner gegründet haben, weiß von nichts. Sevim kann das nicht verstehen. Sie redet mit einer Bitterkeit darüber, als wäre es gestern passiert.

Sevim Celebi-Gottschlich ist dann in die Politik gegangen, als erste Türkischstämmige bekommt sie einen Sitz in einem deutschen Parlament, sie zieht 1987 als Mitglied der Alternativen-Liste-Fraktion, aus der dann die Grünen hervorgingen, ins Berliner Abgeordnetenhaus. 1998 scheitert sie mit einer Kandidatur gegen Hans-Christian Ströbele und zieht sich aus der Politik zurück. Jetzt hat sie gerade eine neue Arbeit als Pädagogin angefangen, in Kempten, im tiefen Bayern. Weit weg von Berlin.

Gerd Stolz kennt Sevim Celebi-Gottschlich nur von Besuchen im Haus. Die türkischen Frauen waren schon weg, als er mit seiner Männer-WG hier einzog. Es gab dauernd Streit, erinnert er sich. Plenum hieß das damals. »Wir machten mehr Plenum als Party.«

Er öffnet die Tür zur Wohnung im vierten Stock. Seine Kleidung ist nachlässig, Jeans, Sweatshirt, ungekämmte Haare. Er führt in das Wohnzimmer, im Flur lagern eingestaubte Weinflaschen und vieles mehr. Gerd Stolz schmeißt nur ungern etwas weg. Er hat über die Jahre so viele alte Möbel angesammelt, dass auf den 100 Quadratmetern kaum ein Zentimeter nicht von einem Schrank, Tisch, Regal, Sofa, Teppich eingenommen ist. Dazwischen passt nur Unfug. So heißt Stolz’ Kater. Es ist halb fünf nachmittags, Zeit für ein kleines Glas Wein. Dann erzählt Gerd Stolz, wie er vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer wurde.

Eigentlich war man mit den Mietverträgen zufrieden, sagt er. Es seien besondere Mietverträge gewesen. Sie räumten dem Verein Rechte ein. Sie konnten zum Beispiel entscheiden, wer in frei werdende Wohnungen einzieht. Das ist heute noch so, nur nicht mehr ganz so rigide, sagt Gerd Stolz. Aber jemand von der CDU oder einer, der deutsche Schlager hört, kommt ihm nicht ins Haus.

Das mit dem Kauf kam Hals über Kopf. Die Bewohner erfuhren, dass die Moschee aus den unteren beiden Etagen das Haus kaufen wollte. Das ging auf keinen Fall. Die Moschee war seit Langem ein Ärgernis. Mitte der Neunzigerjahre war sie plötzlich da. Und mit ihr lauter Fromme, die die Treppe hoch und runter liefen, die beteten und Lamm kochten. »Das ganze Haus roch danach«, sagt Rosi Wieczorek-Akyol. Der Mietvertrag der Moschee sei auf den Namen einer Besetzerin gelaufen, sagt Gerd Stolz. »Aber keiner kannte die.«

Die Bewohner beschlossen, der Moschee zuvorzukommen und das Haus selbst zu kaufen. Sie nahmen sich einen Anwalt, gründeten eine GbR, Stolz wurde ihr Geschäftsführer, und Franz Schulz, der damals Baustadtrat von Kreuzberg war, gab Tipps. Am 15. Dezember 2004 ging das Haus in den Besitz von Rosi, Sen, Gerd und den anderen über. Gerd Stolz weiß noch genau, wie viel sie bezahlt haben: 565.000 Euro, ein guter Preis. Trotzdem sind die meisten Bewohner jetzt verschuldet. »Ich werde den Kredit noch viele Jahre abbezahlen«, sagt Stolz.

Stolz ist Lehrer. In seiner Klasse in der Grundschule in der Reichenberger Straße lernt kein einziges deutsches Kind. Er ist 61 Jahre alt, im November wird er pensioniert. Wenn er Kinder hätte, würde er sich überlegen, ob er wohnen bliebe, sagt er. Er denke viel über den Kiez am Kotti nach, die Fixer und Trinker, die Araber-Gangs und verhüllten Türkenfrauen. Er wohnt ganz bewusst hier, wie die meisten. Aber er sehnt die alten Zeiten herbei, als es noch mehr Hilfsangebote gab, Stadtteilzeitungen, Mieterberatungen, soziale Projekte. »Das wurde in den Neunzigerjahren alles zugemacht.«

Auch die Fixerstube in der Dresdner Straße muss raus. Sie soll schließen, weil sich Nachbarn über Spritzen im Hausflur beschwert haben. Man könnte denken, dass ein Mann wie Stolz damit in seinem Haus keine Probleme hätte. Aber so einfach ist das alles nicht. Stolz ist vom Hausbesetzer zum Hauseigentümer geworden. Vom Kämpfer gegen das System zum Teil des Systems. Er erzählt, wie er schon vor Jahren, als die Haustür nicht richtig schloss und Junkies ein und ausgingen, Spritzen aufsammeln musste. Er ist gegen eine Fixerstube und will, dass die Drogensüchtigen sich nicht mehr am Kotti treffen, sondern irgendwo anders.

Alle hier im Haus sind dieser Meinung, nur Cem Özdemir hat sich immer gewunden und nie gesagt, was er denkt. Er ist der Chef der Grünen Partei, eine tolerante Drogenpolitik ist im Parteiprogramm festgeschrieben. Er ist Politiker, aber er lebt hier mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau. Wie weit darf sich Politik einmischen in das Private?

»Wir sind nicht der Arsch von Kreuzberg«, stand in einer Mail, die Hasan Togrulca vor ein paar Wochen an den Bezirk geschickt hat. Jetzt ist ihm das peinlich, es ist normalerweise nicht sein Ton. Hasan Togrulca ist einer der Wohnungseigentümer. Einer wie er hätte sich aber unter anderen Umständen wahrscheinlich nie eine eigene Wohnung leisten können. Er ist ohne Eltern aufgewachsen, mit 14, 15 hat er sich von Malatya in der Türkei nach Westberlin durchgeschlagen, über Istanbul und Ostberlin. Heute legt er Platten auf, führt Touristen durch Kreuzberg oder hält Vorträge über Rechtsradikalismus. Er kann sich schwer festlegen, aber packt gerne Sachen an. Sein DJ-Name ist Zigan Aldi, Aldi-Zigeuner. Bei der Gründung der Bürgerinitiative »Drogen weg vom Kotti« war er mit dabei.

In Jeans und Turnschuhen steht er in seiner Küche im fünften Stock, dem ehemaligen Dachboden. Hasan hat fast alles allein umgebaut, Wände eingezogen, Fenster und Türen eingesetzt. Freunde von ihm sind mit eingezogen. Sie wohnen zu viert hier. Die Möbel sind schlicht und studentisch: Ikea-Küche, Mini - fernseher, Korbsessel. Von seinem Balkon aus sieht man die Terrasse seines Freundes Cem Özdemir. Auf der Terrasse steht ein Holztisch, darauf ein Blumenstrauß in einer Vase. Auf dem Dach ist eine Solaranlage installiert. Die wollte Cem gerne, sagt Hasan.

Cem Özdemir ist erst vor eineinhalb Jahren in die Nummer 8 gezogen. Zur Zeit der Hausbesetzung lebte er noch bei seinen Eltern in Bad Urach im Schwäbischen. Es gab in der Wohnung keine Badewanne, nur einen Wäschezuber, den man aus dem Keller holen musste. »Ich hab das gehasst, wenn ich freitagabends in den Keller musste, um den Wäschezuber zu holen. Ich hatte solche Angst im Dunkeln. In meiner Einbildung gab’s dort nicht nur Ratten, sondern auch Löwen und Tiger.«

Die Enge von Bad Urach hat Özdemir gestört. Jeder kannte einen, jeder bewachte einen, so hat er das empfunden. Mit 17 zog er aus, lernte Erzieher in Freudenstadt. Jetzt lebt er am Kottbusser Tor und ist Grünen-Chef. Er mag die Musik von Sex’n’Revolution: Led Zeppelin, The Who, Jimi Hendrix, sagt er.

Es war nicht so leicht, die Wohnung zu bekommen. Özdemir musste sich einem Haustest unterziehen wie alle anderen. Was er denn für Musik höre, wollten sie wissen. Ob sie denn nicht planen, nach kurzer Zeit wieder auszuziehen und das günstig erworbene Objekt mit Gewinn zu verkaufen? Ob sie also Spekulanten seien? »Ich kam mir vor wie bei einem Grünen-Parteitag, wenn man sich um einen Listenplatz bewirbt«, sagt Özdemir.

Er passt eigentlich nicht in das Haus, mit seinen perfekt gestutzten Koteletten, mit seiner formelhaften Politikersprache. Wenn er das Thema wechseln will, sagt er, »and now to something completely different«. Er wollte zu Hause keine Presse empfangen, also hat er in die Geschäftsstelle der Grünen eingeladen. Einmal klingelt das Telefon. Seine Frau ist dran. Er sagt »hola« zu ihr. Sie ist Argentinierin. Dann reicht er sie an den Assistenten weiter. Er nennt seine Frau seine bessere Hälfte.

Seitdem er in Berlin wohnt, hat Özdemir in eher schäbigen Ecken gewohnt, zuerst in Neukölln, dann am Nollendorfplatz, später in Moabit. Er hat in Berlin immer das Gegenteil von dem gesucht, was Bad Urach verkörperte, aber letztlich ist er doch zurückgekehrt. »Wenn Sie so wollen, dann haben wir uns in Kreuzberg einen kleinen Mikrokosmos dessen, was ich aus Bad Urach kannte, in meinem Haus eingerichtet. Das meine ich nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von sich kümmern. Dass man weiß, man ist nicht allein auf der Welt.«

Das klingt fast zärtlich. Wenn er über das Haus redet, betont er gerne das Familiäre. Er erzählt, wie man mit den Nachbarn die neuesten Schlagzeilen aus der Türkei diskutiert, von Balkon zu Balkon, oder über Musik. Wie der Lehrer Stolz das ganze Haus beschallt mit seinem Jazz.

Wenn jemand krank im Bett liegt, sei es selbstverständlich, dass man was aus der Apotheke mitbringe, sagt Özdemir. Dann erzählt er von Hasan, der im gleichen Alter wie er ist und eine kleine Tochter hat, fast so alt wie Mia, Özdemirs Tochter. Hasan und Cem sind Freunde geworden. Man kocht zusammen. Cem kann gut Pasta kochen, Hasan macht den besten Tee. Die beiden spielen sonntags mit türkischen und arabischen Jugendlichen Fußball. Es sind Jungs aus den Nachbarhäusern, aus Familien, die oft zehn oder zwölf Kinder haben. In einem der Nebenhäuser wohnte bis vor Kurzem die Familie Sürücü mit ihren drei Söhnen. Die Tochter Hatun war 23, als sie von ihrem Bruder erschossen wurde, weil ihm ihr Lebensstil nicht passte.

Hasan Togrulca und Cem Özdemir bemühen sich, doch die Welten driften auseinander. Während in die Nummer 8 junge, weltoffene Menschen eingezogen sind, kamen in die Umgebung immer mehr arabische und palästinensische Flüchtlingsfamilien. Der türkische Mittelstand ist längst weggezogen. Die Deutschen sowieso. Im Nebenhaus hat unten ein Türke seinen Laden. »Schaf, halb oder ganze«, wirbt der Fleischer. Man sieht viele Frauen, die nicht nur Kopftuch tragen, sondern komplett verhüllt sind. Die Nummer 8 ist eine Insel.

Das Wort Yuppies fällt immer öfter. Linke Blogger nennen die Bewohner so. Sie verstehen das nicht, vor allem die mit türkischen und kurdischen Eltern. Da haben sie sich so bemüht dazuzugehören, haben Demos, Diskussionsrunden organisiert, haben sich durch das deutsche Bildungssystem hochgearbeitet und Resolutionssprache angewöhnt, und dann werden sie als Yuppies bezeichnet. Yuppies, das sind doch die anderen, die, die abgehoben sind, über die man sich lustig macht.

Am Eingang des Geschäfts in der Admiralsstraße klebt ein Plakat, das zur Demo gegen die Finanzkrise aufruft. Im Laden hängt ein Bild der jungen Rosa Luxemburg, davor stehen schicke neue Rennräder, blau, grün, rot, aus Stahl, im angesagten Retrostil. Das billigste kostet 300 Euro. »Billiger kann man ein vernünftiges Rad ohne Lohndumping nicht bauen«, sagt der Eigentümer Jörg Fischer. Die Radspannerei ist ein Laden für Leute mit Geld und schlechtem Gewissen.

In wenigen Wochen macht eine neue Filiale am Kottbusser Tor auf. In dieser Woche wurde der Mietvertrag unterzeichnet. Dort, wo die Fixerstube hin sollte, werden demnächst ökologisch unbedenkliche Luxusfahrräder verkauft, dessen Kunden aus ganz Deutschland kommen. Bürgermeister Schulz hat inzwischen eine schriftliche Absage für seine Fixerstube von der Eigentümer GbR erhalten. Er sucht jetzt nach einem anderen Haus rund ums Kottbusser Tor. Bis das gefunden ist, dürfen die Süchtigen die alte Fixerstube in der Dresdner Straße weiter besuchen.

Für das Haus Nummer 8 ist das Problem damit vom Tisch. Und der Widerstand hat sich sogar gelohnt. Am Kottbusser Tor sieht man jetzt mehr Polizei, mehr Wachleute mit Hunden – und kaum noch Junkies.

Die Radspannerei zahlt über zehn Euro pro Quadratmeter, das liegt über dem ortsüblichen Schnitt und ist mehr, als Jörg Fischer eigentlich wollte. Die Hauseigentümergemeinschaft habe sehr hart verhandelt, sagt er. Es klingt wie ein Lob. Immerhin stimme die persönliche Chemie. Die Radspannerei hat einiges gemeinsam mit dem Haus. Auch hier wird alles im Plenum entschieden. »Wir sind nicht so’n Chefbetrieb«, sagt Jörg Fischer. Er hat Meteorologie studiert, bevor er den Fahrradladen aufmachte.

Ursprünglich wollten die Männer von der Radspannerei auch eine Werkstatt im Haus Nummer 8 eröffnen. Aber die Bewohner waren dagegen. Sie fürchteten, dass es laut werden würde und wieder unruhig. Sen Akyol sagt: »Man wird empfindlicher mit den Jahren. Man will irgendwann nur noch seine Ruhe haben.«

BERLINER ZEITUNG

Nr. 80 vom 4./5. April 2009