Alles gut geregelt
Von David Hugendick und Ulrich Stock
Deutschland, gelähmt von all den Verordnungen aus Berlin und Brüssel? Von wegen. Die vielen Vorschriften erleichtern unser Leben. Plädoyer für einen anderen Blick auf die Bürokratie.
Eine unsterbliche Legende des ewigen Kampfes gegen die Bürokratie ist die Grabsteinrüttelpflicht. Es geht, behördlich gesprochen, um die "Verkehrssicherheit" auf dem Friedhof: Man soll eines Verstorbenen gedenken können, ohne von dessen Grabstein erschlagen zu werden. "Das zu überprüfende Grabmal ist zunächst behutsam mit einer Hand zu rütteln; ergeben sich keine Beanstandungen, ist das Gleiche durch kräftiges Rütteln zu wiederholen", riet einst die Gartenbauberufsgenossenschaft ihren Mitgliedern, den Gärtnern, die seit Jahrzehnten mit dem jährlichen Test beauftragt sind. 1998 wurde ein Bürgermeister auf die Rüttelprüfung aufmerksam und reichte sie bei einem Bürokratie-Bekämpfungs-Wettbewerb des baden-württembergischen Innenministeriums ein. Er gewann den ersten Preis, 2.000 Mark. Gefährliche Grabsteine? Was für ein Quatsch!
Fünf Jahre später wurde ein Mädchen im mittelfränkischen Mettendorf von einem Grabstein zerquetscht.
Die Siebenjährige hatte mit ihrer fünf Jahre alten Schwester die tote Großmutter besucht und die Blumen gegossen. Dann war sie auf einen wackeligen Granitstein geklettert, der sie unter sich begrub. Drei Erwachsene brauchte es, um die 450 Kilogramm schwere Platte zur Seite zu wuchten; das Mädchen war tot.
Jahr um Jahr, melden die Friedhofsgärtner, gibt es bis zu 80 Arbeitsunfälle mit Grabsteinen - von gebrochenen Fingern bis zu Rippenquetschungen. Gefährliche Grabsteine sind eine traurige Realität.
Gleichwohl muss die jährliche Grabsteinüberprüfung immer wieder als Beleg dafür herhalten, welch unsinnige Vorschriften es hierzulande doch gibt. Gerade ist unter dem griffigen Titel Vorsicht, Fisch kann Gräten enthalten ein neues Buch über "bürokratischen Wahnsinn in Deutschland und Europa" erschienen. Geschrieben hat es Ulrich Gineiger, ein Redakteur des Deutschlandfunks. Drei Seiten lang arbeitet er sich am "Schüttelexzess" auf den rund 40.000 deutschen Friedhöfen ab. Dann wendet er sich anderen Schimpfthemen zu, von "Brandschutz und Aberwitz" bis "Öko-Tyrannei", von der "Regulierungswut in Schulbüchern" bis zur "Papiersammelwut bei Behörden und Beamten".
Wut kommt ja immer gut. Des Behördenkritikers Fazit: "Das Ausmaß der Gängelung ist allumfassend und erstickend." Es ließe sich spöttisch anfügen: Ebenso allumfassend und erstickend ist auch das Bejammern der Gängelung. Die Bürokratie scheint ein deutsches Lieblingsthema zu sein.
"Wie die Bürokratie Elektromobilität aushebelt" - "Offenes Olivenöl ist der EU ein Gräuel: Auf Tischen von Restaurants dürfen künftig keine Kännchen mit Olivenöl mehr stehen" -"Bürokratie-Irrsinn: Anwohner treibt die Regensteuer ein" - "EU nimmt umstrittene Verordnung zurück: Drinnen doch wieder Olivenölkännchen" - "Bürokratie: Mehrwertsteuer-Chaos geht jetzt erst richtig los" - "EU-Wahnsinn: die Schnullerkettenverordnung"
So klingen auf Internetportalen und in Onlineforen die Triumphmeldungen derer, die es schon immer gewusst haben: Alles Böse kommt von oben.
Auf EU-Ebene gibt es 21.391 Rechtsakte, also Verordnungen und Richtlinien. In Deutschland gelten 1.681 Bundesgesetze und ein Vielfaches an Landesgesetzen. Hinzu kommen 2.711 Bundesverordnungen und ein Vielfaches an Landesverordnungen.
Wer gegen die vermeintlich maßlosen Brüsseler oder Berliner Bürokraten seine Stimme erhebt, kann sich des Beifalls mächtiger Medien und Verbände sicher sein, von der empfindsamen Bild-Zeitung bis hin zum integren ADAC.
Es scheint deshalb an der Zeit zu sein, einen kleinen Aufklärungsflug durch unser ach so reguliertes Land zu unternehmen und zu fragen, was wirklich dran ist an der Behauptung, die vielen Regeln würden uns das Leben vermiesen.
Fangen wir ganz harmlos an: Wozu gibt es eigentlich Gesetze?
Gesetze sind "Gewohnheiten, Praktiken und Verhaltensregeln einer Gemeinschaft, die als verbindlich durch die Gemeinschaft anerkannt sind". So trocken steht es in der Encyclopædia Britannica, dem ehrwürdigen englischen Nachschlagewerk, in dem jedes Komma promoviert ist, jeder Eintrag habilitiert.
In Uwe Wesels Wohnung im Berliner Grunewald sind die schwarzen Folianten der Enzyklopädie das Erste, was man sieht; draußen vor dem Fenster seines Arbeitszimmers schwappt ein kleiner See. Wesel ist Rechtshistoriker und mittlerweile 81 Jahre alt, emeritierter Professor der Freien Universität. Er sagt, die Klage über zu viele Regeln und Vorschriften sei fast so alt wie das Gesetzeswesen selbst. Rechts im politischen Spektrum mache man sich Sorgen über die Einschränkung unserer individuellen Freiheit. Links diskutiere man, ob zu viele Vorschriften nicht den Raum für gesellschaftliche Veränderungen verengten.
Wesel hat etliche Bücher zur Geschichte der Regeln verfasst, Standardwerke der Juristen. Neue Regeln, sagt er, kommen in die Welt, wenn neue Probleme entstehen. "Die Welt wird ja immer komplizierter, und je komplizierter die Welt wird, desto mehr muss vereinheitlicht und geregelt werden."
Wesel nennt das "Verrechtlichung". Kein Grund zur Aufregung, sondern ein ganz normaler Vorgang. Natürlich sei es albern, dass die EU einmal den Krümmungsgrad von Gurken festlegen wollte. Aber das sei die Ausnahme, nicht die Regel.
In Wahrheit nämlich, sagt Uwe Wesel, seien Regeln die Bedingung unserer Freiheit.
Das ist eine bemerkenswerte Aussage, denn in der öffentlichen Wahrnehmung scheinen Regeln das Gegenteil von Freiheit zu sein. Schön zu sehen ist das am aktuellen Mercedes-Werbespot. Da rast ein Auto ziemlich sinnlos durch die Gegend, aus dem Off aber raunt es vielversprechend: "Wann haben Sie das letzte Mal gemacht, was Sie wollten, nicht, was Sie sollten? Wann hatten Sie das letzte Mal keinen Plan, keine Agenda? Wann haben Sie sich das letzte Mal einfach treiben lassen? Egal. Was zählt, ist das nächste Mal. Freiheit ist ansteckend."
Dieser Spot, so extravagant er erscheinen will, variiert nur ein Standardthema von Reklame: das Freiheitsversprechen. Eine Kreditkarte - die Freiheit nehm ich mir. Ein neuer Mobilfunktarif - Redefreiheit. Flaschenbier auf dem Segelschiff - Freiheit.
Freiheit ist ein Gefühl, etwas, das man gern hätte. Regeln sind Spielverderber. Werbung für Regeln gibt es keine.
Regeln gelten als unsexy, als lästig. Sie lösen Unbehagen aus. Ob Ärzte im Krankenhaus, Lehrer in der Schule oder Existenzgründer, die etwas Neues beginnen wollen: Alle fühlen sich im Alltag von Paragrafen umstellt.
Rechtschreibreform, Bußgeldkatalog, Rauchverbot, Zentralabitur, das Sepa-Lastschriftverfahren mit der 22-stelligen Iban-Kontonummer ... Und dann der ganze Zertifizierungswahn, der an die Stelle des Behördenstempels getreten ist. Da meldet doch das Hamburger Abendblatt seinen verblüfften Lesern: "Das Beschwerdemanagement im Albertinen-Krankenhaus ist durch das Hamburger Institut für Beschwerdemanagement erfolgreich rezertifiziert worden." Ja, Glückwunsch! Jede Selbstverständlichkeit wird heute aufwendig geprüft und beurkundet. Muss das wirklich sein?
Ginge es nicht auch mit deutlich weniger Vorschriften?
Werfen wir einen prüfenden Blick nach Bohmte. An der Hauptstraße des niedersächsischen Städtchens in der Nähe von Osnabrück gibt es weder Ampeln noch Parkverbote, weder Bürgersteig noch Radweg. Es gilt nur eine Regel, nämlich Paragraf eins, Absatz eins, der Straßenverkehrsordnung, der "ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht" verlangt.
Früher gab es hier Unfälle, Staus und Lärm. Jetzt fließt der Verkehr zwar langsam, aber friedlich. Vor sechs Jahren hat die Gemeinde die vormals ständig verstopfte Kreuzung umgestaltet - im Rahmen eines neuen EU-Projektes.
In Deutschland war noch eine Stadt gesucht worden, die mitmacht, und Bohmte sagte zu. Ein Kreisverkehr, drei Einfahrten, der Gehweg ist nur durch eine weiße Linie von der Fahrbahn getrennt. Rotes Pflaster ringsherum, Kirche, Sparkasse, Gründerzeithäuschen. Shared Space nennt sich das. Alle dürfen alles - und trotzdem passiert fast nichts.
Reporter aus Amerika und Japan waren schon da und haben vom glücklichen Leben ohne Vorschriften berichtet. Einige Gemeinden in Großbritannien, Belgien und den Niederlanden sind dem Beispiel der Stadt gefolgt.
Was, wenn überall Bohmte wäre? Ginge nicht auch im Großen, was im Kleinen geht? Aus den Verkehrsämtern deutscher Großstädte tönt die Skepsis. Erstens: Wo ist Bohmte? Und zweitens: Wir haben hier ein ganz anderes Verkehrsaufkommen.
Dieses zweite Argument hat leider seine Berechtigung. Berlin ohne Parkverbote? Der Mittlere Ring in München ohne Ampeln? Der Hamburger Elbtunnel als Shared Space? Die Vermutung liegt nahe, dass es dann zwar die alten Regeln nicht mehr gäbe, dafür aber ein neues Recht: das des Größeren, Stärkeren und Schnelleren.
Gut möglich, dass auf Internetportalen und in Onlineforen dann wieder gewütet würde - gegen die allumfassende und erstickende Unordnung auf den Straßen.
Denn es ist ja nicht so, dass den Bürgern die Verrechtlichung des Lebens generell zuwider wäre. Im Gegenteil, der Klage über Regeln und Vorschriften eng verwandt ist die Beschwerde über Chaos und Anarchie. Als die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers pleiteging und die ganze Welt in die Finanzkrise riss, offenbarte jede politische Umfrage den Wunsch nach strengeren Regeln für die Banken. Als Unternehmen in Deutschland dazu übergingen, manchen ihrer Beschäftigten nur noch fünf oder sechs Euro pro Stunde zu bezahlen, schwoll der Ruf nach einem Mindestlohn an - bis schließlich ein Gesetz daraus wurde. Und als sich vor Jahren die Fernsehberichte und Zeitungsartikel über die Attacken von Kampfhunden auf Kinder und andere Wehrlose häuften, glaubten Politiker im Bundesland Niedersachsen durchaus dem Volkswillen zu folgen, als sie ein neues Hundegesetz auf die Straße brachten. Es hört auf den Namen NHundG. Wie jedes deutsche Gesetz trägt es einen juristischen Kosenamen.
NHundG wurde im Frühjahr 2011 beschlossen von einer ganz großen Koalition aus CDU und SPD, den Grünen und der FDP. Seine Schöpfer sind stolz. Das Hundegesetz sei ein großer Wurf, ein Vorbild für andere Länder. Reporter aus Amerika und Japan waren allerdings noch keine da.
NHundG sieht, kurz gesagt, Folgendes vor: Jeder Hund bekommt ein amtliches Kennzeichen. Es wird nicht angeschraubt, sondern vom Tierarzt unter die Haut transplantiert. Die Daten sind einem neu geschaffenen zentralen Register in Oldenburg zu übermitteln. Sollte das Tier je auffällig werden, verrät der Chip einem Lesegerät den Namen von Hund und Halter. Falls der Hund jemanden beißt, wird er erkennungsdienstlich behandelt und bekommt einen Vermerk im Register. Es ist eine Art Vorratsdackelspeicherung, die von Herrchen und Frauchen teuer bezahlt wird: Bis zu 140 Euro kostet die Plakette pro Tier, hinzu kommt wie immer die Hundesteuer.
Über dieses Gesetz kann man streiten: Ist es ziemlich sinnlos oder vollkommen sinnlos? Durch die Registrierung wird nicht ein, wie man in den Behörden sagt, "Beißvorfall" verhindert. Er wird lediglich hingebungsvoll dokumentiert, jedenfalls in der Theorie. In der Praxis wurde im zentralen Register bisher noch nicht einmal jeder zweite Hund angemeldet. Nur besonders gesetzestreue Bürger machen alles mit und zahlen, wenn auch knurrend.
NHundG - der schlagende Beweis für den Vormarsch der Bürokratie? Nun, es ist mit dieser wie mit jeder neuen Vorschrift: Sie kann gut sein oder nur gut gemeint. Wenn sie nichts taugt, kann man sie auch wieder abschaffen. Nur sollte man nicht so tun, als seien Beamte und Politiker die natürlichen Feinde der Bürger und Gesetze ihre Waffe.
Man erkennt das schon daran, dass die Zahl der Vorschriften mitnichten ständig zunimmt; in den vergangenen Jahren ist sie auf Bundesebene sogar leicht gesunken. Es wird nur kaum bemerkt. Denn wenn alte Gesetze abgeschafft werden, dann meist, weil die gesellschaftliche Realität über sie hinweggegangen ist.
Im Juli 2001 zum Beispiel entfiel das Rabattgesetz, das fast 70 Jahre lang Preisnachlässe für einzelne Kunden untersagt hatte. Seither darf im Laden wieder gefeilscht werden. Ob den Kunden das immer nützt, ist eine andere Frage, wenn man das Dickicht aus Sonderangeboten und Kleingedrucktem betrachtet, auf das sich heute manches Geschäftsmodell stützt, zum Beispiel im Bereich der Telekommunikation.
Die generelle Abneigung gegen Vorschriften hat jedenfalls etwas Weltfremdes. Griechenland rutschte in den Ruin, weil es seinen steuertricksenden Bürgern zu wenig Grenzen setzte. In der Ukraine demonstrierten Tausende gegen Willkür und Korruption. Und die meisten Entwicklungsländer werden gerade deshalb als solche bezeichnet, weil sie es nicht schaffen, verlässliche Regeln zu etablieren.
In Deutschland schläft man ruhig - unter Rauchmeldern. Gut zu wissen, dass es hierzulande "zuständige Dienststellen" gibt, wenn das Fahrzeug geklaut wurde. Die gesunkene Zahl der Verkehrstoten, die kaum noch einstürzenden Neubauten, die niedrige Kriminalität: alles Erfolge eines fein austarierten Systems von Bestimmungen.
Gleichwohl löst das Wort Verwaltung bei vielen Menschen Missempfindungen aus. Sie fürchten endlose Mozart-Jingles in den Telefonschleifen. Sehen sich auf PVC-beschichteten Wartefluren Nummern ziehen, vor Resopalschreibtischen und altersschwachen Computern als Bittsteller sitzen, vor sich ein aktenordnergraues Beamtengesicht. Bürokratie, das ist in der Vorstellung immer noch Kafka: das Individuum im Mahlwerk eines undurchsichtigen Zumutungsapparats. Selbst die Kanzlerin meint, "unbürokratische Hilfe" versprechen zu müssen, wenn die Elbe über die Ufer tritt - als sei das übliche Amtshandeln eine Strafe.
Stimmt dieses Schreckensbild überhaupt?
Jens Lehrich und Frank Bremser leben davon. Unter den Namen Hans-Werner "Hawe" Baumann und Alfred Clausen spielen sie im Radio den vermeintlichen deutschen Behördenalltag nach. Ihre Sendungen laufen Werktag für Werktag, bundesweit auf 14 Sendern mit bis zu 18 Millionen Hörern. Die zweiminütigen Dialoge am Amtsstubentelefon folgen dem immergleichen Muster: Der Mitarbeiter des Passamtes Baumann ruft den Oberamtsrat Clausen im Bauamt an, "Morgens, Alfred!", und unterhält sich mit ihm über lauter Dinge, die mit ihren beruflichen Pflichten rein gar nichts zu tun haben. Die beiden Behördenvertreter interessieren sich nur für ihr Privatleben, ihre Hobbys und mögliche Nebentätigkeiten, weil die Besoldung ja zu dürftig ist. Das skurrile Telefonat endet stets mit einer Verabredung zur gemeinsamen Pause: "Käffchen?" - "Bingo!"
Der Humor der norddeutschen Radiobürokraten schwankt zwischen Otto und Ohnsorg. Was macht ein Beamter, der während seiner Dienstzeit zwischen zwei Bürofluren im Fahrstuhl stecken bleibt? Er genießt es. Und wenn die Stunde des Feierabends erreicht ist? Drückt er die Notruftaste. Er will dann ja auch nach Hause.
Nach mehr als 6.000 Folgen Baumann und Clausen ist ein Ende nicht abzusehen. Seit Jahren gehen die beiden Kabarettisten auch auf Tour. Gerade Beamte würden zu ihren Aufritten strömen, erzählt Jens Lehrich, selber etwas erstaunt.
Vielleicht liegt es daran, dass die Show mit der Wirklichkeit so gut wie nichts mehr zu tun hat? Wer heute etwas zu regeln hat, muss nicht einmal wissen, welche Behörde für ihn zuständig ist. Im Idealfall greift er zum Telefon und wählt 115, den zentralen Amtsruf. "Wir lieben Fragen", tönt es da aus dem Hörer, ein Mitarbeiter meldet sich, erkundigt sich freundlich nach dem Begehr und stellt durch.
Seit drei Jahren ist die Nummer im "Regelbetrieb", wie das im Bundesinnenministerium heißt, zu erreichen von 8 bis 18 Uhr. An die 340 Kommunen machen bislang mit, bis zu 27 Millionen Bürger können sich so mit ihren Ämtern verbinden. Die 80 Callcenter stehen in den Kommunen und sind öffentlich finanziert. In Bayern, Thüringen und Brandenburg ist die Nummer allerdings noch wenig verbreitet. Auch in Niedersachsen nicht, obwohl dort NHundG ja doch zu mancher Frage Anlass gibt.
Seit Menschengedenken gibt es Regeln, selbst das Paradies kam nicht ohne aus. Gott war noch so nett gewesen und hatte sich auf eine einzige Vorschrift beschränkt. Doch schon damit gab es Probleme. Später erhöhte er die Zahl der Regeln auf zehn, was immer noch überschaubar war. Im alten Rom hingen zwölf Gesetzestafeln, ein Zuwachs von satten 20 Prozent - sie behandelten Schuldrecht und Familienrecht, Erbrecht, Bestattungswesen und Verbrechen. Erst wurden sie in Stein gemeißelt, dann in Bronze gegossen, später kamen sie als Papierkram daher. Die Zahl der Regeln hat sich den letzten Jahrhunderten vertausendfacht.
Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie bei den technischen Normen, von denen die meisten inzwischen selbstverständlich sind. Dass die Netzspannung überall in Europa 230 Volt beträgt und nicht 140 Volt oder 290 Volt. Dass es Steckdosen gibt, dass jedes Auto in jede Garage passt, dass Bürostühle nicht umkippen, dass die Oktanzahl im Benzin stimmt, dass beim Brennen kein Fuselöl in den Schnaps gelangt und dass Druckerpapier nicht fünfeckig ist. Das Format DIN A4 stammt aus dem Jahr 1922 und ist ein deutscher Exportschlager.
In den bald hundert Jahren seines Bestehens hat das Deutsche Institut für Normung in Berlin die heute gültigen 33.200 Normen entwickelt. Um uns herum sind fast alle Produkte standardisiert, ob Taschentuch oder Klopapier, ob Maus oder Tastatur, Kronkorken oder Fernbedienung, Glaswand oder Stahlträger. Wer sich auf eine Norm stützt, muss sich an diesem Punkt keine eigenen Gedanken mehr machen. Welch eine Zeit- und Kraftersparnis!
Natürlich bedeutet jede Standardisierung eine Verminderung der Möglichkeiten. Die Welt ist nicht mehr total bunt, sondern besteht aus 213 RAL-Farbtönen; RAL übrigens von "Reichs-Ausschuss für Lieferbedingungen".
Andererseits ist es besser so, weil erst die Norm Kompatibilität, Gebrauchstauglichkeit und Sicherheit innerhalb komplexer Systeme ermöglicht. Ohne Normen müsste man stromführende Drähte verknoten, Pfandflaschen blieben in den Automaten stecken, Aufzugseile rissen wie Lakritz. Ohne die mitteleuropäische Standardzeit käme kein Treffen zustande. Hinter allen Platinen und Zylindern liegt ein gewaltiges Regelwerk, in dem noch das kleinste Detail festgelegt ist. Keine Schraube ohne Beschreibung.
Rund 30.000 Deutsche arbeiten an der Herstellung, Verfeinerung, Überprüfung und Abschaffung von Normen. 70 Normenausschüsse halten Ausschau nach Regelungsbedarf und schaffen Abhilfe im Verbund mit Herstellern, Händlern, Verbrauchern und Ämtern. Selbst das Verfahren der Normierung ist normiert - nach DIN 820. Dies alles geschieht im Stillen.
Nur wenn etwas schiefgeht, eine Norm fehlt oder nicht greift, ist das Geschrei groß. Oder jubelte jemand über die inzwischen legendären, nicht normierten Handystecker? Über die wunderbare Freiheit der Netzteile? Alle fragen verärgert: Warum hat jedes Mobiltelefon ein anderes Ladegerät?
Interessanterweise erregen technische Normen weit weniger Widerstand als soziale Regeln. Wird ein Gerät normiert, hat keiner was dagegen. Soll sich der Mensch selbst einer Regel unterwerfen, regt er sich auf. Geräte haben keine Seele, Regeln haben viel mit Empfindung zu tun.
Ein Stecker ist ein Stecker. Aber Tempo 50 ist nicht Tempo 50. Wer sich in der Stadt ans Limit klammert, gilt als Verkehrshindernis. Man sollte schon 55 fahren; manche grüne Welle ist auf 60 eingestellt. Mit 62 kommt man schnell voran. Freie Fahrt für freie Bürger!
Auf Autobahnen stellt die Polizei 100-Schilder auf, wenn 120 gefahren werden soll. In Tempo-30-Zonen werden vor allem die Anwohner geblitzt, weil sie vor keinem Hubbel mehr haltmachen. Geschwindigkeit, wiewohl mit Radarfallen nach den Messvorschriften der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt genauestens zu bestimmen, scheint in der persönlichen Wahrnehmung ein weites Feld zu sein.
Ampeln genießen deutlich mehr Respekt. Rot ist Rot. Aber hier scheint die Regeltoleranz nach Verkehrsmittel gestaffelt zu sein. Autofahrer halten immer, Radfahrer meistens, Fußgänger nur, wenn Mütter mit Kindern in der Nähe sind.
Die Befolgung von Regeln ist also je nach Gegenstand und Adressat sehr unterschiedlich. Dies kann man beklagen, was regelmäßig geschieht, oder auch im Stillen anerkennen: Je überzogener eine Regel ist, desto weniger wird sie befolgt, und das ist auch gut so. Man könnte sich manches Lamento sparen, wenn man fünfe einfach mal gerade sein ließe.
Es gehört zur gespaltenen Wahrnehmung von Regeln und Vorschriften, dass sie im öffentlichen Raum als lästig empfunden, im privaten Raum aber ohne Not geschaffen werden. Quantified Self heißt die Bewegung all derer, die neuerdings jegliche Lebensäußerung mithilfe ihrer Smartphones dokumentieren. Wie lange habe ich heute geschlafen? Wie viele Kalorien habe ich zu mir genommen? Wie viele Schritte bin ich gelaufen? Die ins Soziale Netzwerk übermittelten und zum Vergleich freigegebenen Daten sollen dem geplagten Ich helfen, seine Zielvereinbarungen mit sich selbst einzuhalten. Der Takt der Ökonomie wird zum Puls des eigenen Lebens. Der Bürger wird nach Feierabend zum Bürokraten seiner selbst.
Wenn aber Regeln auch die Freizeit bestimmen, wo gibt es dann überhaupt noch Bereiche ungeregelten Lebens?
Anfangs schien das Internet eine Sphäre der Freiheit zu sein. Da tat sich eine neue Welt am Draht auf, ganz ohne Vorschriften. Was für eine Täuschung! Denn vom Modem, das die Übertragungsstandards einhalten muss, um den eigenen Rechner mit anderen verbinden zu können, bis hin zur Kürzelsyntax aus www und @ versteckt sich jede Menge Code hinter der vermeintlich offenen Benutzeroberfläche.
Heute zieht der amerikanische Geheimdienst NSA die Fäden bis ins eigene Gerät. Und wer sich in aller Unschuld auf RedTube ein Pornofilmchen anguckt, kann zu seiner Überraschung von einem ihm unbekannten Rechtsanwalt abgemahnt werden wegen angeblich illegalen Herunterladens von Daten, sprich einer Regelverletzung.
Das Internet macht frei? Es ist ein Netz, in dem man zappelt.
So bleiben dem, der kein durch und durch geregeltes Leben führen will, eigentlich nur sehr alternative Modelle. Wie sieht es mit einem Bauwagenplatz aus? Wohnen unter freiem Himmel! Keine Miete zahlen, keine Hausordnung mehr!
Ach, ja.
Aber da diskutieren die Bewohner, wer wann die Kanister mit dem Wasser holt, wer das Brennholz für die Öfchen schlägt, und ob dieses oder jenes Verhalten mit dem Geist des Platzes zu vereinbaren sei. In kaum einem Mietshaus gelten so strenge Regeln wie auf dem Bauwagenplatz. Wer sie missachtet, bekommt keine schriftliche Abmahnung, sondern wird durch Beschluss verjagt. Wie damals im antiken Athen, als man auch schon nicht mehr machen konnte, was man wollte.