Kindheit im Kohlenstaub
Von Matthias Matussek
Vielerorts ist heute Kommunalwahl. Grund genug für Matthias Matussek, nach 50 Jahren mal wieder in seiner Heimatstadt Oberhausen vorbeizuschauen. Ein Wiedersehen mit Irritationen.
Am Wochenende vor der Kommunalwahl gehen die Parteien noch einmal in die Vollen. Die SPD hat ihre Hopsburgen und Infostände im Kaisergarten aufgestellt. Mit Wohlfühlrummel wirbt sie für die Zustimmung zum Weitermachen, wie schon die letzten 58 Jahre. Währenddessen klemmen die Ordnungshüter ungerührt und im Rücken der feiernden Genossen ihre Strafzettel hinter Scheibenwischer, über 200 an diesem Nachmittag.
Das sind zwei Botschaften auf einmal. Erstens: Die Ordnungshüter sind nicht parteiisch. Zweitens: Die Stadt braucht Geld, denn Oberhausen, hier: "Obberhausen", ist mit seinen 13 Prozent Arbeitslosen die Stadt mit der höchsten Verschuldung in Deutschland - pro Kopf rund 8500 Euro. Die "New York Times" hat sich bereits gewundert, warum im "deutschen Detroit" alles so schön funktioniert, von der Müllabfuhr bis zur Polizei. Da liefert die bankrotte amerikanische Autostadt andere Elendsbilder. Wir sind doch offenbar eine solidarische Gesellschaft. Wir lassen niemanden hängen. Das gilt auch für Städte.
Das äußert sich unter anderem in so was wie dem Einheitsfonds für den Aufbau Ost. Unter den höchstverschuldeten Kommunen sind die ersten zehn Plätze von westdeutschen Städten belegt. Oberhausen hat mittlerweile 173 Millionen in den Einheitsfonds gezahlt. Kürzlich hat Dresden der ewig klammen Stadt ein Darlehen angeboten.
In der Fußgängerzone Marktstraße führen die Infostände der Parteien vor, wie sehr der Schamanismus in die reale <<Politik>> eingesickert ist. Die Parteien haben eine positive Antwort für jeden. Und die Plakate: lauter Zaubersprüche, Beschwörungsformeln auf der Titanic. Der FDP-Spitzenmann Hans-Otto Runkler, braunes Sakko und schwarze Hornbrille, fordert: "Mut machen, statt gängeln". Die SPD, ohne Gesicht auf den Plakaten, sagt schlicht "Starke Stadt. Weiter so." Die Grünen: "Beweg deinen Arsch". Aber das ist ein Irrläufer, der sich von der letzten Schwulenparade zum Christopher Street Day in den Kommunalwahlkampf 2014 geschlichen hat.
Is ja au egaal jezz. Die Parteien wissen sowieso nicht mehr genau, wie sie ihre Leute an die Urnen treiben können, um sich - dann bitte ungestört - legitimieren zu lassen für weitere vier Jahre, in denen sie weiterstochern wie im Nebel durch künftige Probleme, doch immer im Nah-Blick, wie ihnen die Macht am besten nicht entgleitet.
Ich hatte, nicht erst seit dem Artikel in der "New York Times", Lust auf Oberhausen, die Stadt meiner Kindheit. Ich habe sie seit 50 Jahren nicht mehr gesehen. Jede Kindheitsstadt ist verhext. Und diese besonders, wie sich herausstellt, mein Oberhausen.
In meinem Kopf besteht "Obberhausen" aus lauter schwarz-weißen Bildern. Das ist wörtlich zu nehmen. In meinen Kindertagen in der Bottroper Straße in Oberhausen-Osterfeld zeigte sich die Sonne, wenn überhaupt, als bleicher Teller im rußigen Himmel. Deshalb stehe ich nun einigermaßen ratlos vor dieser Adresse, diesem Haus, in dem ich meine Kindheit verbrachte. Ich erkenne es nicht wieder. Die Wiese hinterm Haus grenzte an eine Baumschule, die über einem Trümmergrundstück angepflanzt war, man fand da zwischen den zarten Bäumchen die interessantesten Überbleibsel der Bombardierungen, verrostetes Metall, abenteuerlich, aber wahrscheinlich mal unglaublich gefährlich.
Das Haus war so dunkel wie der Himmel. Ziemlich oft schrubbten wir den weißen Vorgarten-Zaun, dahinter blühten zerzauste Ginsterbüsche. Und jetzt steht da, im heitersten Sonnenlicht unterm blauesten Himmel (den es damals nur in Holland am Meer gab) ein schmuckes Klinkerschlösschen über drei Etagen, mit niedlich geschnittenen Buchsbaum-Bällchen im hellen Kies des Vorgartens, so adrett wie frisch geföhnte Pudel, die auf eine Schönheitskonkurrenz warten. Das Gatter ist weg und ersetzt durch einige geschmiedete Schnörkel, die in der geheimnisvollen Sprache des wohlhabenden Spießers Ruhe und Sicherheit beschwören.
Und dort in der Haustür - selbstverständlich habe ich geklingelt - steht ein verdrossenes Kindermädchen, hinter einem neugierigen, übergewichtigen kleinen Jungen im kurzbeinigen Frottee-Schlafanzug, es ist nachmittags, nein, man darf nicht in den Garten, sie ist allein, die Herrschaften weg, ich entschuldige mich.
Kurz darauf steige ich neugierig auf das Mäuerchen des Nachbarn, um einen Blick auf meine Wiese zu werfen. Und ich sehe: Disneyworld. Eine Plastikrutsche, ein Planschbecken, ein Trampolin und so was wie eine Theaterbühne. Wahrscheinlich hat es einen Kindergeburtstag gegeben. Mich überfällt ein Gefühl trostlosen Mitleids. Wir hatten früher die Wiese, einen Fußball und Dreck, der vom Himmel fiel, und was für eine Freude.
Schellackplatten
Aufbauzeit in den 50er-Jahren, mein Vater war linke CDU, wir hatten oft Obdachlose zu Tisch, besonders zu Weihnachten. Mein Vater, Beigeordneter für Familie und Soziales, machte Ernst mit der katholischen Soziallehre, das Private war politisch und das Politische privat, sozusagen, manchmal zum Leidwesen meiner Mutter, doch die Wohnungsnot war groß.
Neben den Obdachlosen-Unterkünften setzte er sich für Vergünstigungen für kinderreiche Familien ein, was logisch ist mit fünf Söhnen, etwa für Schwimmbäder. Drei davon mussten mittlerweile eingespart werden.
Ach ja, natürlich die Volkserziehung: Aktionen wie diejenige, in der Jugendliche die "Schundheftchen", also Tarzan und Co., eintauschen konnten in "richtige" Bücher. Etwa in die von Astrid Lindgren und die "Fünf Freunde"-Serie von Enid Blyton - von "Ennit Blüton", wie der Junge sagte, auf dieser Schellack-Platte, die die Stadt zu Werbezwecken produzieren ließ.
Schellackplatten! Ja, mein Vater hat die neuen Medien wohl zu nutzen verstanden, damals, Ende der 50er-Jahre!
Wir hatten die Kommunalpolitik am Tisch. Die Erziehungsmaxime meines Vaters: lesen und Sport. Oder umgekehrt. Er ging jeden Morgen um sechs schwimmen. Und wir gingen manchmal mit. Auf jeden Fall bolzten oder lappten wir jeden Tag im Garten rum.
Wie geht Kommunalpolitik heute? Ich bin mit der Nachfolgerin meines Vaters verabredet. Das Klinkerstein-Rathaus, der Paternoster, mit dem ich einmal ganz oben rumfuhr, Gänsehaut in der dunklen knirschenden Kehre, dann wieder runter, dritter Stock, Frau Dr. Elke Münich, seit fünf Monaten im Amt: eine sportliche Dame mit Kurzhaar-Frisur und weißer Bluse und Perlenkette. Sie bittet mich zum Konferenztisch und gibt den Blick frei auf ein Präsentier-Board, auf dem offenbar die Bilanz einer anstrengenden Session im Kreise der Mitarbeiter notiert ist: Über den Wörtern "Bildung" und "Arbeit" und "Uni" steht der Satz: "Kein Jugendlicher darf verloren gehen!"
Ist doch klar!
Die neuste Katastrophenmeldung: Jeder sechste Jugendliche in NRW ist zu dick. Für eine Motorik-Feldstudie hat sich auch Oberhausen zur Verfügung gestellt, unter dem Protest einiger Lehrer, die den Stundenplan der Schüler für zu voll hielten, als dass man jetzt noch mit Sportmaßnahmen für Bewegungsarme ankommen könnte.
Frau Dr. Münich fährt jeden Tag 30 Minuten mit dem Rad von Osterfeld zum Rathaus und 30 Minuten zurück. Am Wochenende Laufen oder Schwimmen. Ihre Ideen zum Kampf gegen das Übergewicht bei Jugendlichen? "Na, man könnte doch so eine Pausendisko einrichten in den Schulen." Ähm, tanzen, das weiß eigentlich jeder, tun nur die Mädchen, aber auch von denen trauen sich nur die, die nicht dick sind. Jungs gucken möglichst cool zu und klopfen den Takt mit dem Fuß mit.
Neben der Disko will Frau Münich "Sportagenten" einsetzen, die zusammen mit Lehrern "ein Konzept entwickeln". Das erläutert sie dann schon in einem italienischen Gartenrestaurant, das neben dem renovierten Comedy-Schuppen Ebertbad und schräg gegenüber dem Theater liegt. Alles geputzt und renoviert in Deutschlands Detroit.
Frau Münich wählt den Salat mit Putenbrust-Streifen und erzählt aus ihrer Studienzeit und wie wenig sie "jetzt also mit dem aggressiven Feminismus anfangen konnte, aber wenn es sein musste, um Ziele zu erreichen, dann eben in Gottes Namen". Aber sie ist sicher, dass sie ihren Job auch machen würde, wenn sie Kinder hätte. Sie ist erst vor fünf Monaten aus Aachen hierhergezogen. Es gab Unmut aus der Partei und vom Vorgänger, als sie, und nun zählt sie auf, zur Dezernentin für "Soziales und Bildung und Familie", und dann setzt sie hinzu, "sowie Statistik" berufen wurde, eine Abteilung, die sie noch nirgends so vorgefunden habe.
Tatsächlich: In jährlichen Befragungen fühlt das Rathaus den Oberhausenern den Puls, womöglich aus Angst, er könne aufhören zu schlagen, aber regelmäßig fühlt es sich wundersam bestätigt, die Zufriedenheit liegt bei 90 Prozent.
Mit dem Strukturwandel, dem Industriesterben der 70er-Jahre, klarte sich zwar der Himmel über Oberhausen auf, aber nun waren rund 50.000 Menschen ohne Arbeit. Die Relikte ruhmreicher Kumpelzeiten sind in einer Info- und Dienstleistungsgesellschaft nur noch als ästhetische Erlebniswelten zu nutzen. Mit Kunst gegen das Elend, eher das innere. Zum Beispiel der Gasometer. Ein Museum, aber was für eins.
"Der Schöne Schein" ist eine Pop-Installation im kathedralenhaften schwarzen Rund des Kessels, dort hängen über 200 Meisterwerke auf Übergröße aufgeblasen, die Mona Lisa und die Madonnen aus der Frührenaissance und der Boticelli, geordnet in Kategorien wie "Das menschliche Gesicht" oder "Blicke", Skulpturen kommen hinzu, es ist ein imaginäres Museum der Schönheit und ihrer Kraft zur Überwältigung, ihres Schreckens, ihres einkomponierten Verfalls und Todes.
Umarmt wird die Bilder-Ballung von einem Panorama-Foto des schlotenden Ruhrgebiets aus frühen Zeiten in Sepiabraun. Davor beugen sich Poussins "Hirten in Arkadien" über den Spruch des Vergil "et in Arcadia ego", auch ich bin in Arkadien, in diesem Goldenen Zeitalter, das ich beschreibe, und das vergehen wird. Vielleicht erleben wir es gerade in Deutschland, dieses Goldene Zeitalter, vielleicht sogar in Oberhausen, und wissen es nicht?
Hinauf zur Lichtinstallation mit Sphärentönen, klagende Sirenen im Zylinder eines vergangenen Zeitalters, sie schenken ein Gefühl von Schwerelosigkeit, und dann ganz hinauf, 117 Meter hoch, ein Rundblick übers ganze Ruhrgebiet, das vor allem eines ist: GRÜN.
Ein grünes Arkadien, das Ruhrgebiet. Da hinten Essen, der Borsig-Kühlturm qualmt weiße Schwaden, einer der Letzten, der weiß, was sich gehört fürs Revier, da ist Bottrop mit seiner begrünten Halde, dahinten Duisburg, und hier unter uns das "CentrO", das neue Konsum-Arkadien, Europas größtes Einkaufszentrum.
Rund 24 Millionen Besucher jährlich sind es, die sich da an der tödlichen Monotonie von "Esprit" und "St.Oliver" und anderen ununterscheidbaren Jeans- und T-Shirt-Läden vorbei durch die Hallen wälzen, in dem vergeblichen Versuch, die rätselhafte innere Leere vollzustopfen mit Kram. Nebenan übrigens Legoland, Spaßbad und dieses "Sealife", in dem vor vier Jahren die Krake Paul den WM-Gewinner voraussagte.
An diesem Dienstagmittag sitzen nur ein paar Dutzend Pärchen oder Gruppen in dieser kulinarischen Rund-um-die-Welt-Meile, an angenehm überschirmten oder freien Sofas am Kanal. Was würde Detroit sagen? Noch spannender: Was mein Vater, der vor 14 Jahren starb? Hätte er den Wert einer Unternehmung wie "CentrO" erkannt für seine Kommune? Ich glaube kaum.
Kunstguerilla
"Das CentrO bringt an Gewerbesteuern nicht sehr viel", sagt OB Klaus Wehling am nächsten Vormittag, "aber es erhöht den Prestigewert der Stadt". Wehling begrüßt an diesem Vormittag die Presseleute, weil er eine weitere Ansiedlung im Gewerbepark verkünden darf, die Firma Nano-Focus mit ihrer 3-D-Messtechnologie wird sich in Oberhausen niederlassen, weitere 80 Arbeitsplätze wären damit gesichert.
Klaus Wehling ist seit zehn Jahren OB, aber seit 1979 in der Stadtverwaltung, also ein altes kommunalpolitisches Schlachtross, ein kleiner freundlicher Herr, brauner Anzug, braune Krawatte, nach dem Gruppenfoto mit den Investoren nimmt er sich Zeit, um eine typische Ruhrpott-Familiengeschichte aufzublättern. Aufgewachsen in einer Knappenstraße, Baracken rund um den Bunker, Großvater war Hütte, Vater war Hütte, er sollte auch Hütte, aber dann hat die Mutter entschieden, "dat ich ma wat besseret werden soll", also Lehre bei der Sparkasse, später dann Abi im Abendgymnasium, Studium in Bochum, schließlich Lehrer und Oberstudiendirektor. Nebenbei die Parteikarriere, Vorsitzender des Sozialausschusses, später stellvertretender OB, bis der Amtsinhaber in die Ruhrkohle-AG verschwand und Wehling übernahm.
Gerade war er in den Schlagzeilen wegen seiner Nebenverdienste in insgesamt 21 Aufsichtsräten, die insgesamt 67.000 Euro abwerfen, die üblichen Ruhrpott-Wohlfahrtsverbände, aber Filz heißt es jetzt, Filz ist überall, und Wehling hat keine Lust mehr.
Die Marktstraße im alten Zentrum ist das Sorgenkind der Kommunalpolitik. In den 70er-Jahren war sie als Fußgängerzone und Einkaufsmeile der Stolz der Stadt. Jetzt gibt es das CentrO draußen, und das zieht wie mit einem Riesenmagneten das Leben ab. Hier blieb nichts außer den 1-Euro-Ramsch-Läden für Nuckelkram und Tirolermützen und Deutschlandfahnen.
Doch jetzt ist wieder Leben. In der Boutique "Karin's Mode", in genau dieser Schreibweise, steht eine junge Frau im Arztkittel herum und macht sich Notizen. Neben ihr ein bärtiger Kollege mit Stethoskop. Die beiden sind im Einsatz, um "die Marktstraße zu heilen". Die beiden sind Kunstguerilla, sie ist Nina Ender, die schon für die Schaubühne und die Burg geschrieben hat, er ist Stefan Kolosko, der in den letzten Schlingensief-Inszenierungen mitspielte.
"Da unten übrigens liegt die Herz-Jesu-Kirche, wo Schlingesief Messdiener war", sagt Kolosko, Schlingensief hat sie immer wieder zitiert. Die beiden haben dort vor ein paar Tagen eine Erstkommunion gefilmt. Nun flackern die Bilder auf den Gazebahnen, die den Laden in ein Feldlazarett und ein Krankenbett und eine Schatzkammer unterteilen. Strahlentherapie.
Sie setzen mich vor dem Laden auf einen Sessel, und pumpen ihn in die Höhe, und plötzlich bin ich König der Marktstraße, die Passanten bleiben stehen und lachen, und Oberhausens unwirkliche Avantgarde-Leichtigkeit überwältigt mich erneut, sie leuchtet so arglos in diesen Kommunalwahl-Zirkus hinein, mit etwas, das man Utopie nennen könnte oder Spiel, und das beginnt dort, wo aus Krempel wieder Leben wird. Mit den türkischen Kindern glüht Nina Ender, ein Mädchengesicht mit kurzen schwarzen Locken, um die Wette vor Spielfreude, von den Älteren notiert sie Beschwerden.
In dieser Mischung aus Lokalpolitik und Happening sind sie mit ihren Patienten an die merkwürdig müden Wahlkampftische der Parteien gezogen hier in der Marktstraße, "die waren alle so brav", sagt Nina Ender, "bis auf den Runkler von der FDP ("Nicht gängeln, Mut machen"), der hat Stefan Kolosko angeknurrt 'Kratz die Kurve'".
Da sind sich wohl zwei Simulationen in die Quere gekommen, die der <<Politik>> und die der Kunst, und es erwies sich, dass die letztere einen größeren Realitätsgehalt hatte und deutlich mehr Spaß brachte.
Solange es Wahlen gibt, so das weitverbreitete Paradox unserer Postdemokratie, muss man nicht hingehen, obwohl die <<Politik>> diesmal mit <<Discount-Demokratie>> lockt, ein einziger Gang zur Urne für das Rathaus und für Europa, also das ganz Kleine und das ganz Große. Ob die Rechnung aufgeht?
Wenn einer Dampf machen kann im Ruhrpott, dann ist es Ingo Appelt, seit 20 Jahren ist er SPD-Mitglied, seit 20 Jahren zieht er für seine Partei in den Wahlkampf, damals noch Betriebsrat bei Siemens. Ein Kollege hat ihn zur Partei gebracht, "sonst wirst du noch Kommunist", hat er gesagt.
Nach seiner Zwei-Stunden-Show und mehreren durchgeschwitzten Hemden und haufenweise Witzen übers "Ficken" und durchaus genialen Parodien auf Til Schweiger, auf die gesamte Comedy-Kollegen-Schar, auf Grönemeyer und Lindenberg, auf Merkel und Schröder und Willy Brandt, eine unfassbare Rampensau, ein Hammerprogramm, hängt also Ingo Appelt erschöpft in seiner Garderobe ab.
Kein Wahlkampf im Programm. Macht er nur für Genossen, und die in NRW haben ihn nicht angefragt. Er ist die Ruhr-Pott-Sau vom Dienst. Natürlich verarbeitet er Biografisches in seinem neuen Programm, das den ironischen Titel "Göttinnen" trägt. "Du kannst sie nur noch anbeten". Er hat sich, so erzählt er überm Weißwein, von seiner ersten Frau getrennt, und sie ließ ihn leiden.
"Wir werden stets gemolken und kommen nie ungeschoren davon", ruft er in seinem Programm unter dem Gelächter des Publikums und dem verstehenden Nicken von einigen. Ingo Appelt ist laut und dreckig und immer noch geerdet in dieser wunderbaren Gemütseinfalt des Potts, aus Instinkt gegen Ungleichheit und Prätention, bei aller Provokation naivgut.
Oberhausen ist ein Heimspiel. "Der Obberhausener sitzt da und lässt dich kommen und wenn es Scheiße ist, lässt er dich das spüren." Geradeaus die Leute. Sein Großvater hat hier gelebt, er war in der Hütte, später hat er dann eine Kneipe aufgemacht, bis er sich - aus Angst vor Alzheimer - erschossen hat.
Mein Oberhausen, es ist so wundersam geworden. Anderntags fahre ich noch mal zum Haus in die Bottroper Straße. Diesmal klingele ich nicht. Ich kann auch von der Straße aus erkennen, dass die Baumschule aus meinen Kindertagen zu einem mächtigen, grünen Wald emporgewachsen ist.
"Die wahren Paradiese", heißt es bei Proust, "sind die, die wir verloren haben."
Jede Kindheitsstadt ist verhext. Und diese besonders
In meinem Kopf besteht "Obberhausen" aus schwarz-weißen Bildern