UND VOR UNS LIEGT DAS GLÜCK
Von Wolfgang Bauer
43 000 Flüchtlinge sind 2013 übers Mittelmeer nach Europa gekommen. Unsere Reporter haben sich im April auf eine dieser Überfahrten gewagt. Die größte Gefahr lauerte jedoch nicht auf See.
»Lauft!«, brüllt es hinter mir, die helle Stimme eines jungen Mannes, eines halben Kindes noch, »lauft!«, und ich beginne zu laufen, ohne in der Dämmerung viel zu sehen, ich renne den Pfad hinunter, in einer langen Reihe mit den anderen. Ich renne, so schnell ich kann, sehe auf meine Füße, die mal auf Erde aufsetzen, dann auf Stein. »Ihr Hurensöhne!«, schreit einer der Jungen, die uns eben aus den Minibussen gejagt haben und jetzt neben uns herrennen, uns antreiben wie ein Hirte sein Vieh. Er schlägt mit einem Stock auf uns ein, auf unsere Rücken, die Beine. Er packt mich am Arm, reißt mich fluchend voran. Wir sind 59 Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien, die Rucksäcke geschultert, die Koffer in den Händen, und rennen an einer Fabrikmauer entlang, irgendwo am Rande eines Industriegebiets im ägyptischen Alexandria.
Vor mir hebt und senkt sich der Rücken von Husam, 20, einem massigen Mann, er keucht, torkelt bald, weil er nicht mehr kann, ich schiebe ihn vorwärts, mit aller Kraft, bis er wieder zu rennen beginnt. Der Stock knallt auf uns nieder. Irgendwo vor mir weint die 13-jährige Bissan vor Angst. Sie umklammert beim Laufen den Rucksack mit ihren Diabetes-Medikamenten. Hinter mir ist Amar, 50, er trägt eine signalblaue Goretex-Jacke, er hat sie sich für diesen Tag extra gekauft. Auch er wird immer langsamer, schon länger hat er Probleme mit dem Knie, doch er hat sich zuvor geschworen, er wird nicht aufgeben. Er kommt aus Syrien, wie fast alle hier, Ägypten ist für ihn nur eine Station auf seiner Reise, er muss es schaffen. Dann biegt die Mauer scharf nach links ab, und wir sehen plötzlich, ganz nah, keine 50 Meter weg, was wir uns seit Wochen erhoffen, wovor wir uns seit Wochen fürchten. Das Meer. Glühend liegt es vor uns im letzten Abendlicht.
Der Fotograf Stanislav Krupar und ich haben uns syrischen Flüchtlingen angeschlossen, die versuchen, von Ägypten nach Italien zu gelangen, übers Meer. Wir haben uns Schleusern ausgeliefert, die nicht wissen, dass wir Journalisten sind. Deshalb treiben sie auch uns mit Schlägen voran, denn alles muss schnell gehen, damit die große Gruppe niemandem auffällt. Nur Amar und seine Familie sind eingeweiht, wer wir wirklich sind. Er ist ein alter Freund, den ich von meiner Berichterstattung über den syrischen Bürgerkrieg kenne. Verzweiflung hat ihn auf diese Reise gezwungen, er träumt davon, in Deutschland zu leben. Er wird für uns auf der Fahrt übersetzen. Wir haben uns lange Bärte wachsen lassen, uns neue Identitäten zugelegt. Auf der Reise sind wir Varj und Servat, Englischlehrer, zwei Flüchtlinge aus einer Kaukasus-Republik.
Wir sind jetzt Teil des großen Exodus. 43 000 Flüchtlinge flohen 2013 übers Mittelmeer nach Europa, die meisten von Libyen aus. Sie stammen aus Ländern, in denen Krieg herrscht, wie Syrien oder Somalia, aus Diktaturen wie Eritrea, oder sie wünschen sich einfach nur ein Leben unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen. 1500 Menschen ertrinken jedes Jahr bei dem Versuch, Italien und Griechenland auf überfüllten Booten zu erreichen. Das Mittelmeer ist die Geburtsstätte Europas und mittlerweile der Schauplatz seines größten Versagens.
Noch nie haben Journalisten diese Bootsfahrt gewagt, wir sind uns der Gefahr bewusst. Wir haben uns dagegen entschieden, von Libyen oder Tunesien aus aufzubrechen. Die Entfernung nach Italien ist zwar kürzer, aber die Boote sind extrem marode. Die ägyptischen Schmuggler müssen einen weiteren Weg zurücklegen, setzen aber deswegen bessere Schiffe ein. So hieß es vor unserer Reise, so war unsere Hoffnung.
Wir waren naiv. Wir dachten, die See sei die größte Gefahr auf unserer Fahrt. Dabei lauert die größte Gefahr: an Land.
- 1 -
Eine Woche vor dem Tag, an dem wir unter Stockschlägen ans Meer getrieben werden, steht Amar Obaid, der in Wirklichkeit anders heißt, unschlüssig in seiner Wohnung in Kairo. Es ist Dienstag, der 8. April, der letzte Tag, den er mit seiner Familie verbringt. Seine Tochter Reynala, 17, sitzt im Elternschlafzimmer auf der Bettkante und blickt auf ihren Vater. »Was soll ich alles mitnehmen?«, fragt er vor dem offenen Kleiderschrank. Viel darf es nicht sein. Amar hat gehört, die Schmuggler würden nur leichtes Handgepäck dulden. »Eine warme Unterhose gegen den Wind auf dem Meer«, sagt seine Tochter. »Ein gutes Hemd«, sagt er. »In Italien will ich nicht wie ein Gauner aussehen.« – »Das wirst du sowieso«, sagt sie. »Dir wird ein langer grauer Bart wachsen.« – »Die Rettungsweste«, sagt er, streift sie aus der Verpackung, legt sie an, absichtlich verkehrt herum, die Tochter lacht, er tänzelt um die eigene Achse. Das gemeinsame Lachen von Vater und Tochter hallt durch die Wohnung.
280 Quadratmeter, ein Empfangssalon im Barockstil, ein prächtiges Wohnzimmer mit goldbedruckter Tapete. Die Familie ist wohlhabend, sie stammt aus dem syrischen Homs, gehörte seit Generationen zur Schicht der Kaufleute und Großgrundbesitzer. Doch nach Ausbruch der Revolution 2011 floh Amar mit seiner Frau und den drei Töchtern nach Ägypten. Wie viele in seinem Clan hatte er sich früh dem Widerstand gegen Assad angeschlossen. Wäre er geblieben, hätte er sein Leben riskiert. Er nahm die Familien-Ersparnisse und gründete in Kairo einen kleinen Importbetrieb, führte Möbel aus Bali und Indien ein. Er beschäftigte zeitweise acht Angestellte, er reiste viel. Doch dann taumelte Ägypten in eine Revolution, danach in eine Gegenrevolution, das Militär stürzte den gewählten Präsidenten Mursi. In nur wenigen Monaten wendete sich die Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge. Die Junta erlegte ihnen einen Visazwang auf, Amar konnte das Land für Geschäftsreisen nicht mehr verlassen. Er hatte Angst, kein Einreisevisum mehr zu erhalten. Fremdenfeindlichkeit hat sich am Nil breitgemacht. TV-Moderatoren halten Hasspredigten auf die Syrer. Die bekommen nur noch schwer Arbeit. Ägypter rufen dazu auf, nicht mehr bei syrischen Händlern zu kaufen, also auch nicht bei Amar. Syrer gelten vielen Ägyptern als Terroristen, die Unsicherheit bringen, als Schmarotzer, die ihnen die Jobs wegnehmen. Ägypten erweist sich für Amar als Sackgasse, eine Falle, in die die Familie geraten ist. Die Rückkehr nach Syrien ist ihnen versperrt, die Zukunft in Ägypten auch.
Lange haben sie beraten. Dann hat sich die Familie abermals für die Flucht entschieden. Nach Deutschland, über das Meer. Es gibt keinen legalen Weg. Amar geht als Erster. Sobald er Asyl erhalten hat, will er die Familie nachholen. So der Plan, den sie hier auf den Sofapolstern beschlossen haben. Es ist naiv, aber nicht unmöglich. Trotz der Gefahr kommen die meisten Boote an. Und einmal in Sizilien, gibt es tatsächlich eine gute Chance, unentdeckt über die Grenze nach Deutschland zu gelangen. Dort würde Amar mit großer Wahrscheinlichkeit als Asylbewerber anerkannt werden, wie viele Syrer vor ihm. Alles, was seine Familie von einer besseren Zukunft trennt, ist das Meer. »Wie lange braucht das Boot nach Italien?«, fragt Rolanda, seine Frau. »Ich weiß es nicht genau«, sagt Amar an ihrem letzten Abend. Vielleicht wird das Boot fünf Tage unterwegs sein, vielleicht aber auch drei Wochen.
Als Amar aus der Tür geht, weiß er: Er wird seine Frau und seine Kinder für Monate, vielleicht sogar niemals wiedersehen
Rolanda raucht ihre E-Zigarette bis tief in die Nacht. Amars Frau trägt Schwarz, hauteng die Hose aus Latex. Nach und nach versammeln sich alle Familienmitglieder um Amar. Seine Jüngste, fünf Jahre alt, kuschelt sich beim Essen in die Armbeuge der Mutter. Sie meidet den Vater instinktiv, ist beleidigt, dass er weggeht. Die Zweitjüngste, 13, Zahnspange, die Stimme von einer Erkältung ganz brüchig, möchte nicht, dass er geht. Sie will als Einzige der Familie in Ägypten bleiben, hier sind ihre Freundinnen. »Heaven – Germany«, postet dagegen die Älteste auf ihrer Facebook-Seite. Psychologie will sie in Deutschland studieren. Amar hat an diesem Tag die letzten Rechnungen bezahlt, die letzten Forderungen eingetrieben. Seine Firma hat er kurz zuvor verkauft. Die Familie hat noch Ersparnisse für ein halbes Jahr.
Diese Nacht schläft Amar unruhig, die letzten Stunden in seinem alten Leben. Er wird alles abstreifen müssen, den Familienvater, den Unternehmer, der Probleme am Telefon löst. Alles, was er die nächsten Monate sein wird, ist: auf der Flucht. Als wäre sein Leben noch einmal auf null gestellt.
- 2 -
Rolanda umarmt ihn morgens beim Abschied an der Haustür, sie weint, drückt ihn an sich. Er löst sich von ihr, rasch, grob fast, damit er es sich nicht noch anders überlegt. Er wird nicht weinen, hat er sich geschworen. Er will der Familie zeigen, dass er das Schicksal im Griff hat. Es ist alles gut, sagt er immer wieder, der Plan wird funktionieren. Die Tochter, die Älteste, trägt ihm seinen Rucksack hinterher, zu seinem Wagen. Er umarmt sie, sieht ihr in die Augen, du meine Starke, du meine Schöne, sie weint, obwohl sie sich ebenfalls fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun, er schlägt die Tür zu, lenkt den Wagen aus der Parklücke, mit zitternden Händen.
Amar wird seine Frau und seine Kinder im besten Fall für Monate, eventuell für Jahre nicht wiedersehen, im schlimmsten Fall nie.
Der Menschenhandel in Ägypten ist in seiner Struktur der Tourismusbranche nicht unähnlich. Es gibt übers Land verteilte Verkaufsstellen mit sogenannten Agenten. Sie suggerieren ihren Kunden, sie arbeiteten nur mit den besten Schleusern. Die Überfahrt kostet im Schnitt 3000 Dollar, der Agent bekommt eine Provision von rund 300 Dollar. Die Summe wird bei einem Mittelsmann hinterlegt und dem Agenten erst bei Ankunft in Italien ausgezahlt. Die Agenten achten auf ihren Ruf. Sie leben von den Empfehlungen derer, die sie erfolgreich übers Meer gebracht haben.
Amars Vermittler heißt Nuri, ein alter Bekannter, muskulös, tiefe, raue Stimme, ebenfalls Importeur in der Möbelbranche. Wir haben denselben Humor, sagt Amar. Nuri ist ein Mann, der viel lacht. Dieses Lachen, das durch Amars Smartphone zu uns dringt, wird uns von nun an fortwährend begleiten.
Auf der Schnellstraße, die Amar in eine bessere Zukunft führen soll, ist Stau, es geht kaum voran, der übliche Verkehr in Kairo, Amar schlägt aufs Lenkrad. Er telefoniert mit Nuri, um ihm zu sagen, dass wir zu spät zum Treffpunkt kommen, einer Kentucky-Fried-Chicken-Filiale 30 Kilometer vor Kairo. »Ich hätte meine Beruhigungspille nehmen sollen«, schimpft Amar. Zwei Sorten von Pillen hat er dabei, Seroxat, 20 mg, das er gegen Depressionen und Panikattacken einnimmt, und Xanax, 0,25 mg, gegen Angstzustände. Der Krieg in Syrien und die Krise in Ägypten haben Spuren bei Amar hinterlassen. Seit einem Jahr leidet er unter diffusen Ängsten, Angst vor Bakterien, Angst vor Strahlen, Angst vor Menschenmassen. Endlich erreicht er den Treffpunkt. Ein Mitarbeiter von Nuri erklärt, dass uns ein Minibus nach Alexandria bringen werde. Der Fahrer werde gleich kommen.
»Wie geht es?«, fragt Rolanda am Telefon. Pausenlos ruft sie an. »Hast du die warme Jacke dabei?«
Zwei weitere Passagiere finden sich vor dem KFC ein, zwei Brüder aus Damaskus, Alaa und Husam. Sie tragen fabrikneue Sportrucksäcke und schwarze Wollmützen. Die beiden sind misstrauisch, setzen sich ein Stück von uns entfernt in ein Café. Es dämmert bereits, als der Minibus eintrifft, hektisch laden wir ein, die Rucksäcke, die Koffer. Es kommen noch Rabea und Asus hinzu, ebenfalls Syrer, zwei Cousins, wie sie ungleicher kaum sein könnten. Rabea ist dick und wortkarg, Asus dünn und redselig. Misstrauen die Flüchtlinge anfangs einander, werden sie unter dem Eindruck der nächsten Tage zu Freunden, bilden eine Gemeinschaft. Sie wird der einzige Schutz sein, den wir auf dieser Reise haben.
»Es ist gut, dass wir uns gefunden haben«, sagt Alaa in der Dunkelheit eines der nächsten Abende. »Ich habe vor nichts Angst, solange wir als Gruppe zusammenbleiben.«
Asus erzählt, was alles schiefgehen kann auf der Flucht. Für ihn ist es schon der sechste Versuch, übers Meer nach Europa zu gelangen
Sie alle kennen die Risiken dieser Reise. Sie wissen von Booten, deren Motor auf hoher See versagte, von Booten, die noch weit vor Italien untergingen. Sie haben von Betrügern gelesen, die ihre Passagiere vor Tunesien aussetzten und nicht vor Italien. Aber sie wissen von so vielen, die es schafften, die diese Tage der Angst durchgestanden haben, um später in Europa nie wieder Angst haben zu müssen.
- 3 -
Durch ein Spalier aus turmhohen Flammen fahren wir nach Alexandria, ein Industriemoloch mit riesigen Raffinerien, die zweitgrößte Stadt des Landes, sechs Millionen Menschen leben hier. Ein Slum, der zu den Wolken strebt. Zum Meer hin wachsen die Betonbauten in immer größere Höhen. Eine Stadt wie eine Brandungsmauer. Zwischen den Giganten bleiben nur schmale Gassen, wie dünne Risse im Gestein.
Das Leben wechselt nun seinen Rhythmus. Der Tag wird für uns Flüchtlinge zur Nacht und die Nacht zum Tag. Noch können wir nicht aufs Boot. Zu häufig kontrolliert die Küstenwache, und die Wellen sind zu hoch. Um uns vor Polizei und Geheimdiensten zu verstecken, bringen uns die Schmuggler in angemieteten Appartements unter. Um vier Uhr morgens hält der Fahrer vor einem Hochhaus. »Raus!«, sagt er. Es öffnet sich eine Tür in eine Wohnung. Der Vermieter verschwindet rasch. Die Schleuser zahlen ihm das Dreifache der üblichen Tagesmiete. Müde und verängstigt schlafen wir ein, und die meisten von uns erwachen erst nach dem Mittagsgebet.
Amar ist nach dem Aufstehen hinausgegangen, um Falafel für sich und die anderen zu kaufen. Er erweist sich früh als derjenige, der die Dinge in die Hand nimmt, der für die Gruppe spricht und verhandelt. 13 sind wir jetzt insgesamt. Alle scharen sich im Wohnzimmer um die Tüten mit den Essenspaketen. Jeder beginnt von sich zu erzählen. Die Brüder Alaa, 31, und Husam, 20, reden über Damaskus. Ihre Familie besitzt drei Teppichgeschäfte in der Altstadt, doch wegen des Kriegs mussten sie schließen. Husam wäre nun zum Militär eingezogen worden, weshalb die beiden sich zur Flucht entschlossen. »Ich mache das für meinen Bruder«, sagt Alaa. »Er würde den Krieg nicht überleben.« Husam wiegt 110 Kilo, dabei hat er sich bereits 40 Kilo in einer Operation absaugen lassen. Fettleibigkeit ist ein großes Problem bei den Wohlhabenden Syriens. Beide wollen über Italien nach Schweden, wohin es letztes Jahr ihr ältester Bruder geschafft hat – mit dem Boot. Dieser Bruder schwärmt von Schweden, er macht dort einen Sprachkurs und will später in einem Schnellimbiss arbeiten.
Die Cousins Rabea und Asus stammen aus einer reichen Händlerfamilie. Rabea, 22 Jahre alt, desertierte in Syrien vom Militär und ließ sich über die Grenze nach Jordanien schmuggeln. Auch er will nach Schweden. Asus, der Maurer ist, hat dort eine Verlobte, mit der er täglich telefoniert. Asus ist der Spaßmacher der Gruppe, einer, der jeder Situation einen Scherz abringen kann.
Alle hängen müde in den Sesseln, fläzen sich auf den Sofas, dem Boden, den sie mit Polstern bedeckt haben, und Asus erzählt von seinen fünf gescheiterten Versuchen, nach Europa zu kommen.
Erster Versuch: Asus floh aus Syrien ins türkische Izmir, von wo ihn ein Schlauchboot nach Griechenland bringen sollte. Der Küstenschutz verhaftete die Passagiere. Zweiter Versuch: Diesmal zahlte er einen Schleuser, der ihn mit einer Jacht rüberbringen wollte, doch kurz nach dem Ablegen kam die Küstenwache. Versuch Nummer 3: Das Schlauchboot streifte ein Riff, riss auf und sank. Schwimmend konnte er sich an die Küste retten. Versuch Nummer 4: Der Schmuggler bestahl sie auf dem Weg zum Strand. Versuch Nummer 5: Der Schmuggler bestahl sie am Strand. Diese Reise ist Asus’ sechster Versuch.
Nuri, der Vermittler, ruft an, und wie immer, wenn er anruft, wird es mit einem Mal ganz still. »Heute Nacht«, sagt Nuri. »Bereitet euch vor!« Hektisch packt jeder seine Sachen. Keiner aus der Gruppe war bisher auf dem Meer, von Asus abgesehen. Rabea, der sehr schlecht schwimmen kann, wie er sagt, legt eine Rettungsweste an, einen wasserfesten Klettverschluss-Beutel fürs Handy, das er am Handgelenk trägt, dazu eine Sturmhaube mit Sonnenbrille. Amar zieht sich die signalblaue Jacke über, er hofft, sie schützt gegen Wind und Gischt. Das laute Reißen von Klebeband erfüllt die Wohnung, jeder umwickelt seine wichtigen Dokumente mit Folie. Mit hibbeligen Füßen sitzen wir dann da und warten viele Stunden. Weit nach Mitternacht ruft Nuri wieder an und sagt alles ab.
So vergehen drei weitere Tage. Immer wieder scheitern die Versuche, uns aufs Schiff zu bringen. Der Wechsel von großer Langeweile zu extremer Spannung zermürbt – bis am Abend des vierten Tages plötzlich wirklich etwas passiert: Ein Minibus holt uns ab, um uns zum Strand zu fahren.
Der Toyota taucht in den großen trägen Verkehrsstrom der Stadt, der uns Sicherheit gibt. Wo wir einer von vielen Minibussen sind. Doch bald biegt er ab, in Nebenstraßen, fährt immer schneller, fährt, dass er fast aus den Kurven kippt. »Der bringt uns um«, stöhnt Alaa.
- 4 -
Der Fahrer hat offenbar Drogen genommen, wie fast alle, die in Ägypten im Menschenhandel beschäftigt sind – Haschisch und das Aufputschmittel Tramadol. Nach einer Stunde endet die Fahrt in einem Industriequartier, wir passieren einen improvisierten Checkpoint, an dem fünf mit Jagdflinten bewaffnete Männern stehen. Zwei von ihnen führen Hunde an Stricken und patrouillieren nervös durch die Gasse.
»Sag bitte, was geschieht jetzt?«, fragt Amars Frau Rolanda am Telefon. Sie hat zu Hause im Wohnzimmer ihre Mutter, ihre Schwester, zwei Onkel und die älteren Töchter um sich geschart. Weil sie die Spannung alleine nicht mehr aushält. »Ich weiß es nicht«, flüstert Amar, hinter seinen Rucksack gebeugt.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne über der Stadt aufgeht, da hört Rabea, der weiter vorne im Wagen sitzt, dass die Schmuggler die Aktion abbrechen. Der Wellengang sei zu hoch. Kurz darauf kommt der Fahrer, setzt sich hinters Steuer, er redet nicht mit uns, klärt uns nicht auf. Er fährt los, gefährlich schnell. Nach ein paar Straßenzügen überholt uns ein grüner Kia, versucht uns zu stoppen, unser Fahrer flucht, gibt Gas, will den anderen abhängen. Eine Weile rasen die beiden Wagen auf gleicher Höhe durch die Stadt, dann schneidet der Kia uns in einer Kurve den Weg ab. Männer ziehen unseren Fahrer aus dem Wagen. Einer zwängt sich ans Steuer, auch er wortlos, so setzt er die Fahrt fort, in immer dunklere Viertel, bis er in eine Sackgasse einbiegt, in der eine Gruppe Männer auf uns wartet. Sie haben breite Schultern und ausrasierte Nacken, und sie gehen mit einem Grinsen auf uns zu, als gebe es etwas zu feiern.
»Ich glaube«, flüstert Amar in den Minibus hinein, »wir wurden gerade entführt. Gott stehe uns bei.«
Es gibt zwei Welten in Alexandria, die parallel zueinander existieren. Der einen Welt gehört der Tag, in ihr trägt man Uniform, oft Zivil, ist oft korrupt, aber mit Ausweisen versehen, die Legitimität verleihen: In ihr herrscht die Polizei. Die andere Welt ist die Baltadschia, sie übernimmt die Kontrolle über die Stadt, wenn die Nacht hereinbricht. Die Baltadschia besteht aus einer Vielzahl von kleinen Verbrecherbanden, die Schutzgelder erpressen, mit Drogen handeln, die die Prostitution kontrollieren. Die Baltadschia ist wie ein Basar des Verbrechens, sie liefert, was bezahlt wird. Wir, die Flüchtlinge, die das Land verlassen wollen, sind für die Mafia Alexandrias eine Ware, mit der nach Belieben gehandelt werden kann.
Wir, die Reporter, sind in einer besonders prekären Lage. Was tun die Entführer, wenn sie entdecken, wer wir wirklich sind?
Einer der Männer tritt an den Bus und reißt die Schiebetür auf. »Ruft euren Agenten an!« Rabea erreicht Mohammed, der ihn in Kairo zum Abholpunkt gebracht hat, und lässt ihn mit dem Entführer sprechen. »Wir müssen uns auf sie stürzen«, sagt einer im Wagen. »Alle auf einmal! Dann haben wir eine Chance!« Auch Amar ist fürs Kämpfen, er sieht keine Waffen bei den Männern, die unseren Minibus umstellen, glaubt aber, dass sie unter ihren Shirts zumindest Messer tragen. Einer unserer Entführer läuft draußen auf und ab, telefoniert. Wenig später setzt er sich wieder hinters Steuer. »Wir sind dabei, das Problem zu klären«, sagt er.
Erneut fahren wir ins Unbekannte, in die ärmeren Viertel der Stadt, sehen, wie die Besucher aus den Moscheen strömen, die Zeit des Morgengebets. Unser Entführer hält im Innenhof einer Wohnanlage, siebenstöckige Häuser, heruntergewohnt, Müll und dreckige Wasserlachen auf den Straßen. »Ihr seid frei«, sagt er, doch er lügt. Den Tag sollten wir hier in einem Appartement verbringen. Ihre Bande habe ein Problem mit dem Anführer der anderen Bande, die uns nach Europa schleusen wolle, sagt der Entführer. Die Bosse hätten die Küste in mehrere Zuständigkeitszonen aufgeteilt. Man erlaube einander, die jeweils anderen Zonen zu benutzen, aber nur gegen Bezahlung. Daran hätten sich die Schmuggler unserer Gruppe beim letzten Mal nicht gehalten. »Das ist ja Chaos!«, klagt Amar, der Unternehmer. »So ein sensibles Geschäft muss man doch perfekt organisieren.« Der Entführer lacht.
Gerade ist Krieg zwischen den großen Schleusergruppen. Sie sabotieren sich gegenseitig und verraten die anderen an die Polizei
- 5 -
Im letzten Schatten der Nacht eilen wir in ein Treppenhaus, geführt von einem Betrunkenen, der die Tür zu einem Appartement öffnet. Er redet Kauderwelsch, will Geld von uns erpressen, 1500 Dollar, Amar hat Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Der Mann wird ausfallend, hat ein Klappmesser am Hosenbund, Amar nimmt ihn in den Arm, küsst ihn, bedankt sich für seine Geduld, aber wir könnten ihm leider kein Geld geben. Keinen Laut dürften wir in der Wohnung machen, warnt der Mann barsch, nicht aus den Fenstern schauen. »Ihr habt ja keine Ahnung, was um euch herum gerade passiert«, sagt der Betrunkene, bevor er die Tür hinter uns abschließt.
»Hallo!?«, ruft ihm Husam durch eine Sprechklappe ins Treppenhaus hinterher. »Freund, warum sperrst du uns ein?«
So unfrei wie noch nie im Leben sind jetzt die, die endlich frei sein wollten. 55 Quadratmeter sind uns geblieben. Zwei Räume mit drei Betten, eine verdreckte Küche und ein Klo ohne Wasseranschluss. In einem Einbauschrank entdeckt Amar Koffer von Flüchtlingen, die man hier schon vor uns festgehalten hat. Es sind Kinder- und Frauenkleider darin. »Was aus ihnen wohl geworden sein mag?«, überlegt er.
Immerhin lassen die Entführer uns Essen und Wasser bringen. Das von ihnen auferlegte Verbot, die Fenster zu öffnen, beachten wir nicht lange. Husam und Rabea, die zwei Packungen Zigaretten am Tag rauchen, stützen sich aufs Fensterbrett und schauen in den Innenhof. Nuri, der Agent in Kairo, sagt am Telefon, sie seien dabei, das Problem zu lösen. Jeden Nachmittag gibt er uns Hoffnung, die jeden Abend zerstiebt.
Am dritten Tag unserer Verschleppung fragt Alaa, ob Amar ihm nicht eine von seinen Xanax-Tabletten geben könne. Er kann nachts nicht schlafen, horcht nervös in die Dunkelheit.
Die Zeit löst sich auf, Stunden vergehen mit Dösen, Tage mit Dämmern. Wir hören das Hupen der Autos, das zu uns heraufschallt. Bellende Hunde. Den Singsang der Altmetallhändler, die durch die Straße ziehen. Grausame Leere. Wir starren auf weiße Wände, auf die die Sonne verrückte Schatten wirft.
Mit offenen Armen begrüßt uns Mohammed, einer unserer Schleuser, nach vier Tagen Geiselhaft, als uns die Entführer vor einem Apartmenthaus an Alexandrias Uferpromenade absetzen. Mohammed liebt den Dandy-Look, er sieht aus wie ein Model, weiße Schirmmütze, weißes Hemd. »Willkommen zurück!«, sagt er. Die Schmuggler haben den Kidnappern ein Lösegeld von 35 000 ägyptischen Pfund gezahlt, 3600 Euro, so wird es Mohammed später erzählen.
Das Leben ist uns zurückgegeben. Jeder von uns kann wieder frei entscheiden. Jeder weiß aber auch, wie flüchtig dieser Moment der Freiheit ist. Was jetzt tun? Aufgeben? Diese Reise ist ein schlimmer Albtraum, und sie hat noch nicht einmal begonnen. Wieder eine andere Wohnung, die Schmuggler haben sie für diese Nacht gemietet. Sie liegt im 15. Stock. Wir sitzen auf dem Balkon, der eine spektakuläre Sicht aufs Mittelmeer bietet.
Alaa ist fürs Weitermachen, er ersticke in Ägypten, wo er immer ein Bürger zweiter Klasse bleibe. Amar, der am Telefon jeden Tag die Tränen seiner Frau Rolanda ertragen muss, entscheidet sich gegen das Aufgeben. »Ich mache es, damit ich es nicht eines Tages bereue. Wenn hier einer meiner Töchter etwas zustößt, ich könnte es mir nicht verzeihen.« Seine Töchter tragen kein Kopftuch, was in Ägypten immer weniger akzeptiert wird. Wo sie hinkommen, versuchen Männer sie anzugrapschen.
Dann sehen wir noch für Stunden hinaus auf das dunkle Meer, auf dem Hunderte heller Punkte tanzen. Die Flotte der Fischer, schön wie ein Sternennebel. Eines dieser Lichter ist das Boot, das seit Tagen vor der Stadt auf und ab fährt und auf uns wartet. Gegen Morgen erlischt ein Licht nach dem anderen. Nackt und grau liegt der Ozean nun vor der Stadt, ganz ohne Verheißungen.
1500 Kilometer entfernt, an der Nordküste des Mittelmeeres, erreichen in diesen Tagen Tausende Bootsflüchtlinge Sizilien. Das Wetter ist günstig. Im Frühling und im Herbst ist die See am sanftesten. Doch die Innenminister der Europäischen Union machen Druck, wollen, dass Libyen und Ägypten die Boote stoppen.
- 6 -
Sie belohnen und strafen, mit Geldern, die sie gewähren, und Geldern, die sie streichen. Die ägyptische Militärjunta, die dabei ist, die aufkeimende Demokratie zu unterjochen, erkennt ihre Chance, sich Europa als verlässliche Ordnungsmacht zu präsentieren. Sie macht Jagd auf die Flüchtlinge, verschärft die Küstenkontrollen, sperrt jede Woche Hunderte in Internierungslager. Während sich Europa an der Nordküste des Meeres mildtätig gibt, führt es an der Südküste einen unbarmherzigen Stellvertreterkrieg.
Das Boot, auf das wir gebucht sind, ist 24 Meter lang und soll rund 300 Flüchtlinge aufnehmen. Das sagt uns der Chef des Schmugglerringes, der sich als Abu Hassan vorstellt. Ihm gehört das Schiff. Er ist in unser Versteck gekommen, um verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Ein kleiner Mann mit Spitzbart, der sofort die Beine auf den Tisch legt. »Diese Fahrt ist für mich so wichtig wie für euch«, sagt er. Er hat Sorge, wir könnten es uns anders überlegen und die Schmuggler wechseln. »Ich habe schon viel Geld für euch ausgegeben.« Das Lösegeld, die Minibusse, die Miete für die ständig wechselnden Appartements. Vor einer Woche habe er tausend Laib Brot aufs Schiff geschickt, die jetzt vermutlich schon verdorben seien. Vier große Menschenschleuser hätten den ägyptischen Markt unter sich aufgeteilt, erzählt Abu Hassan. Er sei einer davon, dann gebe es noch den »Doktor«, einen gewissen Hanafi und Abu Ahmed. Letztes Jahr hätten alle blendende Geschäfte mit den Flüchtlingen gemacht, alleine er, Abu Hassan, habe 35 Schiffe nach Italien geschickt. Unsere Fahrt soll für ihn die diesjährige Saison eröffnen. Ihr Ausgang, sagt Abu Hassan, entscheide über den Erfolg der ganzen Saison.
Die Posten der Küstenwache werden uns passieren lassen, verspricht er. »Das sind meine Leute.« 30 000 Euro zahle er den Soldaten und ihrem Offizier für die Passage unseres Bootes. Die Schmuggler seien sich selbst derzeit die größten Feinde. »Das macht den ganzen Markt kaputt.« Jeder wolle größere Anteile am lukrativen Geschäft. Deshalb, sagt Abu Hassan, sabotierten sie einander, verrieten Touren des jeweils anderen an die Polizei. Vor zwei Tagen sei der Kapitän eines voll besetzten Mutterschiffes zurück in den Hafen gefahren und habe alle ausgeliefert, weil konkurrierende
Schmuggler ihn dafür bezahlt hätten. Der Verlust des einen sei der Gewinn des anderen. Sie beschädigten den Ruf des Konkurrenten, um ihren eigenen zu polieren. Doch jetzt gehe das alles zu weit. Dieser Tage wollten sich die großen Vier der Schmuggler auf einer Konferenz in Alexandria treffen und aussöhnen.
Noch zweimal wechseln wir das Appartement. Doch dann, eine gute Woche nachdem wir mit Amar in Kairo aufgebrochen sind, ist es so weit. Die Minibusse holen uns ab, wir fahren aus Alexandria hinaus, und: Wir rennen zum Meer, so schnell wir können.
Die Flüchtlinge stürmen am Strand auf die beiden Motorboote zu, aber Amar bleibt zurück. Er ist wie gelähmt vor Angst
»Lauft, ihr Hurensöhne!«, ruft der Bursche, dem noch kein Bart wächst und der mit dem Stock auf uns eindrischt. »Lauft!«
Der Strand ist flach und sandig. Unsere Treiber geben den Befehl, uns sofort auf den Boden zu legen. Sie teilen uns in drei Gruppen auf, je 20 Flüchtlinge, mit mehreren Metern Abstand zueinander. Husam ist so unbeweglich, dass er sich nicht schnell genug niederknien kann, sein Bruder zieht ihn an der Jacke nach unten.
Der Strand ist der gefährlichste Abschnitt auf der Flucht nach Europa. Der Strand zieht Aasfresser an. An ihm begegnen sich die Räuber des Landes und des Meeres. In diesem Moment sind wir am verwundbarsten. Flüchtlinge werden am Strand oft von Banditen überfallen, verprügelt und ausgeplündert. Manchmal sind es auch die Schmuggler, die, unzufrieden mit ihren Provisionen, ihre Passagiere gleich selbst ausrauben. Zudem kann jederzeit die Küstenwache kommen, vom Wasser her oder vom Land, mit Hunden. Das Meer gleißt vom Licht mächtiger Fabriken und von den Signallampen der auf Reede liegenden Frachtschiffe. Die Bucht von Abukir. Einer der größten ägyptischen Industriehäfen. Hinter uns, auf Festlandsseite, strahlt es infernalisch in Rot und Orange und Gelb. Rauch in grellen Farben zieht über unsere Köpfe.
»Du Vater aller Waisen!«, ruft Alaa im Überschwang aufs Meer hinaus.
- 7 -
Amar spricht mit seiner Frau, im Sand liegend, wir sind am Meer, sagt er, ich weiß nicht, wie lange ich noch telefonieren kann. Wenn du nichts mehr hörst, haben wir es geschafft. Tatsächlich rasen zwei Motorboote auf uns zu. Die jungen Männer unter den Flüchtlingen beginnen als Erste loszulaufen, greifen nach dem Rumpf eines Bootes, versuchen sich hinaufzuhangeln, fallen herab und versuchen es erneut. Amar bleibt zurück, ist wie gelähmt, er hat Angst vor Menschenmengen, will als Letzter einsteigen, aber die Letzten werden oft am Strand zurückgelassen. Zum Glück entdeckt uns die Besatzung des zweiten Bootes. Bis zur Brust müssen wir ins Wasser, um den Kahn zu erreichen. Ich drücke den dicken Rabea hinauf, während einer von oben zieht, dann wird mir die Hand entgegengestreckt, ich ergreife sie, sie reißt mich hinauf, schleift mich übers Deck, wo Amar bereits atemlos liegt. Neben uns hockt Bissan, das Mädchen mit Diabetes. Sie sieht zum Ufer und schreit, ihre Stimme übertönt sogar den Motor.
Ihre Mutter steht in den Wellen, in ihrem schwarzen Hidschab. Sie hebt die Arme aus dem Wasser. Sie ruft dem Boot hinterher, das die Männer bereits in Richtung Meer lenken. Der Rucksack mit den Insulinspritzen treibt in der Brandung, eine Welle hat ihn Bissan aus der Hand gerissen. Oft werden Familien beim Einschiffen getrennt. Immer wieder erreichen Kinder Italien ohne ihre Eltern. Einmal auf dem Schiff, gibt es kein Zurück. Ein Bekannter aus dem syrischen Daraa hatte mit der Familie seit Wochen zusammengelebt und ihr versprochen, Bissan durch die Brandung zu tragen. Weil er als einer von wenigen eine Schwimmweste besitzt. Doch dann setzte er das Mädchen einfach ins Wasser. Er riskierte ihren Tod, um selbst einen Platz im ersten Boot zu ergattern. Die Besatzung des zweiten
Bootes hat sie hineingezogen, an beiden Armen, aber sie haben die Mutter vergessen.
Das Kind schreit auf dem Deck so sehr, dass die Männer umkehren, fluchend, die Mutter hinaufziehen und das Insulin mit einem Stock aus dem Wasser fischen. Den Rucksack, der dem Mädchen das Leben rettet, drücken sie ihm ruppig in den Arm. Dann jagen wir aufs Meer hinaus, Gischt fegt über uns hinweg. Wir hören, wie der Kiel aufs Wasser klatscht und wie das Mädchen immer noch schreit, völlig außer sich. Die Schmuggler brüllen es an, Mutter und Schwester reden beruhigend auf es ein. Amar rutscht an Bissan heran und fragt: »Hast du Angst?« – »Nein«, sagt sie, allmählich ruhiger werdend, »ich darf keine Angst haben. Wenn ich Angst habe, wird mich der Zuckerschock töten.«
Die Küste beginnt zu einem schmalen Saum am Horizont zu werden. Unser Boot hat drei Mann Besatzung, zwei am Motor, einer am Bug, der Ausschau hält. Es ist nicht ganz voll, nur zu neunt sind wir, alle hatten sich auf das erste gestürzt. Am Ruder ist der Anführer, aufrecht stehend, er hält Kurs aufs Meer, doch flucht er bald, hält sein Handy ans Ohr. »Wo ist der Hurensohn jetzt?!«, ruft er zu den anderen Crewmitgliedern. Er versucht vergeblich, den Kapitän des Mutterschiffes zu erreichen. »Der hat gesagt, er ist in 15 Minuten auf seiner Position!« Dann beginnt der Außenbordmotor zu stottern, er röchelt, spuckt und erstirbt. Mit einem Mal ist es sehr still.
Die Flüchtlinge schauen auf die Crew. Die Männer werfen Anker, versuchen, den Motor erneut zu starten. Sie ziehen den Anlasser, sie ziehen und ziehen. Der Anführer öffnet die Motorluke, ein anderer ruft den Kapitän des ersten Motorboots an, das lange parallel zu uns fuhr, uns schließlich überholte und im Dunkeln verschwand. Er solle seine Passagiere absetzen und dann umkehren, um uns zu bergen.
Dann springt der Motor plötzlich doch an.
Wieder jagt das Boot über die Wellenkämme. Der Mann, der am Bug Ausguck hält, sagt, er habe das Mutterschiff entdeckt. Höchstens fünf Minuten noch, dann seien wir in internationalem Gewässer, wo uns der ägyptische Küstenschutz nichts mehr anhaben könne. Einer der Schmuggler geht herum und verlangt, ihm alle ägyptischen Pfund zu geben. »Die braucht ihr ja sowieso nicht mehr.« Dann sagt er: »Das ist es!«, er zeigt auf die vielen Lichter im Meer. Irgendwo dort sei das Mutterschiff. Amar liegt auf dem Rücken, die Hände hinterm Kopf, und sieht sanft lächelnd in den Himmel. Er hat vor der Abfahrt eine doppelte Dosis Xanax genommen. Rabea lacht, reckt die Fäuste, klopft Amar auf die Schenkel, er strahlt. Wir denken zum ersten Mal, wir haben es geschafft. Uns Reportern geht es ähnlich, wir können unsere Gefühle kaum von denen der Flüchtlinge trennen.
- 8 -
Italien ist zum Greifen nah, Schweden, Deutschland, das neue Leben, die Träume, seit Monaten zurechtgelegt – als das Boot auf eine Insel zuhält und die Schleuser uns von Bord stoßen. Einer nach dem anderen fallen wir ins Wasser.
Als die Soldaten kommen, verstecken sich die Flüchtlinge hinter den Felsen. Ich klettere aus dem Graben, mit erhobenen Händen
»Ich weiß nicht, was mit uns passiert, Rolanda«, sagt Amar wenig später am Telefon zu seiner Frau. »Wir sind auf einer Insel. Die Schiffe sind weg. Ich weiß nicht, was die planen.« Die Passagiere des ersten Motorbootes wurden ebenfalls hier abgesetzt, wir treffen wieder auf Alaa und Husam und Asus. Ihnen wurde von der Crew gesagt, die Boote würden uns wieder abholen. In Gruppen lassen wir uns auf einer Hügelkuppe der Insel nieder. Die meisten bibbern vor Kälte, sind durchnässt und jetzt dem Wind ausgesetzt. Alaa packt Plastiktüten aus, legt sich auf das Buschwerk, das hier überall wächst, und zieht sich eine Tüte bis zur Brust über die Beine. Amar macht es ihm nach, schließt dazu noch die Kapuze bis über die Nase, sodass von ihm nur der Mund sichtbar bleibt. Abu Hassan, der Schmugglerkönig, verspricht ihm, neue Boote zu schicken. Ruhelos beharkt ihn Amar mit Anrufen.
Der Name der Insel ist Nelson Island, wie wir später erfahren. Ein 100 mal 300 Meter kleines Eiland. Hier hat der britische Admiral Nelson 1799 die Flotte unter Napoleon geschlagen. Als der Vollmond hinter den Wolken hervortritt, leuchten die Sandfelder in einem unwirklichen silbernen Licht. Als sei diese Insel nicht Erde und nicht Himmel. Eine Zwischenwelt, allem enthoben. Fast hat man beim Laufen das Gefühl, der Boden unter den Füßen könne zerbrechen, wie Glas.
Noch einmal kommen die Schmuggler, dieses Mal mit einem etwas größeren Boot. Alle Passagiere stürmen wieder voran, sprinten ins Wasser, ohne Rücksicht aufeinander, stoßen sich vom schlammigen Grund ab, hängen sich an die Reling, alle auf einmal, alle an eine Seite, sodass das Boot in der Brandung zu kentern droht. Die Crew wehrt sich mit Stockschlägen, prügelt auf die Verzweifelten ein, um nicht selber unterzugehen. Amar bleibt mit der Familie von Bissan und uns am Strand zurück – wieder seine Angst vor Menschenmassen. Das Boot rast schwer beladen in Richtung offenes Meer, kehrt dann allerdings zurück. Wir verstehen nicht gleich. Irgendetwas scheint schiefzulaufen. Da sehen wir zwei Schnellboote der Küstenwache hinter dem Boot der Schmuggler. Zwei schnelle Schatten mit rot blinkenden Aufbauten. Die Flüchtlinge werden von den Schmugglern in die Brandung geworfen, getreten, geschlagen, Gepäck treibt jetzt im Wasser. Wir selbst laufen vom Meer weg auf die Insel, in der verrückten Hoffnung, uns dort verstecken zu können.
»Es ist vorbei, oder?«, flüstert wenig später Amar in einem tiefen Graben, in dem er sich mit mir und vier anderen verbirgt.
Gruppe für Gruppe zwingen uns die Soldaten aus unseren Löchern. Immer wieder wurden in der Vergangenheit Flüchtlinge bei der Verhaftung erschossen. Einige von uns verstecken sich hinter Felsen in der Brandung, bis sie unterkühlt sind und aufgeben. Die Familie von Bissan drückt sich in eine Bodenkuhle und wird als Letztes entdeckt. Andere hatten nur Zeit, sich flach auf den Boden zu legen. Die Soldaten durchkämmen das Eiland mit Leuchtstrahlern. Sie nähern sich auch unserem Versteck, sie rufen, dass wir hervorkommen sollen. Ich klettere mit Amar aus dem Graben, mit hoch erhobenen Händen, geblendet durch das Licht, wir gehen langsam auf sie zu, da feuern sie plötzlich aus zwei, drei Schnellfeuergewehren, wenige Meter von uns entfernt, Warnschüsse mit scharfer Munition. Wir fallen auf die Knie, sie brüllen Kommandos, die ich nicht verstehe, Amar, der sonst immer übersetzt, ist erstarrt, sie zwingen uns in eine Reihe, mit dem Gesicht zum Boden, Demutshaltung. Die Ausweispapiere müssen wir auf unsere Köpfe legen. Einzelnen treten sie mit Stiefeln in den Rücken. So endet der Traum dieser Nacht.
»Habt ihr etwa geglaubt, schon auf Sizilien gewesen zu sein?«, sagt lachend der Offizier auf dem Kommandoschiff, das uns zurück in den Hafen fährt. Er ist mit sich zufrieden. Er wird einen Bonus auf sein Gehalt oder eine Belobigung bekommen.
- 9 -
Das Gefängnis für die Gescheiterten ist ein leerer Raum von 35 Quadratmetern mit einem vergitterten Fenster, durch das man auf Abfall sieht. In zwei Kolonnen müssen wir antreten.
Es ist anderthalb Tage her, dass wir das letzte Mal geschlafen haben. »Niederknien!«, brüllt der diensthabende Offizier. »Ich werde euch die dunkelste Zeit eures Lebens bereiten! Hört auf das, was ich sage.« Dann werden wir in die Gemeinschaftszelle geführt. Ein ziviles Schnellgericht hat uns kurz nach unserer Festnahme in Abwesenheit freigesprochen. Doch jetzt verfügt die National Security Police über uns, eine Art ägyptisches FBI, die in diesen Tagen auch die politischen Schauprozesse der Militärjunta inszeniert. Niemand sagt uns, wie die Anklage lautet, niemand erklärt uns das Verfahren. Wir werden einfach in diesen Raum gesperrt, 59 Männer und Frauen und Kinder, legen uns auf den nackten Boden, weil es keine Betten gibt, bedecken uns mit den letzten trockenen Kleidern. Erst später versorgen uns Freunde, die wir anrufen konnten, mit Decken und Lebensmitteln.
In den größeren Orten an der Küste entstehen derzeit Internierungslager für verhaftete syrische Flüchtlinge. Unseres scheint noch eines der besseren zu sein. In anderen sind über 200 Menschen verwahrt, ohne Essen und sauberes Wasser.
Ein Bürokrat in braunem Anzug richtet über uns. Einer nach dem anderen werden wir zum Verhör geführt. Er stellt sich nicht vor, spielt theatralisch mit seiner Stimme. Ein Verhör mit ihm ist ein Ritual der Unterwerfung. Amar ist zwei Stunden bei ihm. Als er endlich aus dem Untersuchungszimmer tritt, ist er wie verändert. Amar, dieser kluge Macher, der Mittelpunkt seiner Familie, der in Gefangenschaft zunächst noch seinen Humor bewahren konnte, seinen Lebensmut, zerfällt zusehends. Stumpf sitzt er da, die Lider meistens geschlossen, das Gesicht ein Strich.
Wir, die Reporter, haben bei der Verhaftung unsere wahre Identität preisgeben müssen. Wie alle anderen werden wir beschuldigt, illegal das Land verlassen zu haben. Die deutsche und die tschechische Botschaft setzen sich für uns ein, der Fotograf Krupar ist Tscheche. Nach neun Tagen werden wir in die Türkei abgeschoben.
Alaa und Husam werden nach zwei Wochen entlassen. Sie dürfen vorläufig in Ägypten bleiben und überlegen, es erneut übers Meer zu versuchen. Der dicke Husam will dafür trainieren.
Rabea wird nach 13 Tagen in die Türkei deportiert. Das ägyptische Visum, das er vorgelegt hatte, war gefälscht. Er plant, in den nächsten Wochen mit einem Boot die Ägäis zu überqueren.
Amar bleibt am längsten in Haft und wird nach 16 Tagen abgeschoben. Weil er nicht nach Syrien will, entscheidet er sich für die Türkei. Mittlerweile nimmt er zwei Xanax-Pillen täglich. Er hat keine Hoffnung, in absehbarer Zeit seine Frau und seine drei Töchter wiederzusehen.
Asus, der Maurer, der unsere Gruppe so oft zum Lachen gebracht hat, wird durch einen Zufall am ersten Tag freigelassen. Er versucht es nochmals mit dem Boot, erreicht nach vier Tagen Sizilien und wenig später Schweden. Er will demnächst heiraten.