Die Deutschmacherin

Von Anja Reich

Angelika Gessner entscheidet, wer deutscher Staatsbürger wird und wer nicht. Ihre Sprechstunde in Neukölln ist ein Spiegelbild der Krisen Europas - und eine Antwort auf die Frage, was Integration ist

Heute Morgen musste Angelika Gessner einen Jungen ablehnen. Sein Deutsch war zu schlecht. Als sie von ihm wissen wollte, was er heute schon gemacht habe, antwortete er: "Geh Schule". Sicherheitshalber hat sie noch seine Lehrerin um eine Einschätzung seiner Deutschkenntnisse gebeten. "Entspricht der Neuköllner Klientel", war die Antwort. Die Lehrerin schrieb, dass der Junge für den Förderunterricht angemeldet sei, aber nicht hingehe. Es gab eine Besprechung im Kollegenkreis, dann stand fest: Der Antrag wird abgelehnt. Angelika Gessner hat dem Vater des Jungen gesagt, er solle wiederkommen, wenn sein Sohn besser spreche, sie weiß aber nicht, ob er das verstanden hat. Sein Deutsch war noch schlechter als das des Jungen.

Angelika Gessner sitzt hinter ihrem Schreibtisch im Bürgeramt Neukölln. Sie ist 56 Jahre alt, groß, blond und trägt eine Brille mit bunten Steinchen am Bügel. Am Fenster wachsen Kakteen. Auf einem Regal befinden sich eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher, Teebeutel, ein Tulpenstrauß. An der Wand hängen eine Europakarte, ein Kalender, ein Bild einer afrikanischen Landschaft und eine Postkarte aus Barcelona. Ein Büro, das Amtsstube ist, aber auch ein bisschen Reisebüro. Wer hier sitzt, kam als Flüchtling, Asylbewerber oder Einwanderer nach Berlin, aber ob er richtig angekommen ist, muss erst von Frau Gessner geprüft werden. Sie ist die Deutschmacherin, eine von elf Frauen und Männern im Bezirk Neukölln, die darüber entscheiden, wer Staatsbürger dieses Landes wird und wer nicht.

Montags von 9 bis 12 Uhr und donnerstags von 15 bis 18 Uhr hat sie Sprechstunde. Heute ist Donnerstag, kurz nach halb vier, auf ihrem Computerbildschirm sieht Gessner, zuständig für alle Namen mit den Anfangsbuchstaben I, S und Z, vier Nummern. Jede Nummer ist ein Antragsteller, der in Neukölln wohnt, Deutscher werden will und nun im Wartesaal sitzt.

Die ersten sind zwei Brüder aus dem Kosovo, Anfang 20, die Haare hochgegelt, die Augenbrauen gezupft. Sie sind guter Dinge. Wenn der eine antwortet, schneidet der andere Grimassen. Angelika Gessner stellt Fragen nach der Herkunft, dem Familienstand, dem Beschäftigungsverhältnis. Mindestens acht Jahre lang muss man legal in Deutschland gelebt haben, um einen Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen zu können. Außerdem sollte man gut Deutsch sprechen, Arbeit haben, eine Wohnung, keine Vorstrafen, und einen Einbürgerungstest muss man auch bestehen. Bei den Brüdern sieht es schlecht aus. Der eine hat keinen Schulabschluss, der andere ist vorbestraft und hat zwei Ausbildungen abgebrochen. Das mit der Vorstrafe war nur eine Prügelei, sagt der Mann. Und das mit den Ausbildungen nicht seine Schuld. Einmal gab es Probleme mit dem Chef, das andere Mal mit der Gesundheit. Rückenschmerzen, sagt der Mann und reibt sich das Kreuz. Angelika Gessner sieht von ihren Unterlagen auf.

Rückenschmerzen?

"Die habe ich auch", sagt sie. "Ich sitze aber trotzdem 40 Stunden pro Woche hier."

Die Brüder sammeln still ihre Dokumente ein. Angelika Gessner gibt ihnen nicht mal die Anträge mit, dafür Ratschläge: Schulabschluss machen, Ausbildung abschließen, Arbeit suchen.

"Das ist Neukölln", sagt Gessner, als die Brüder weg sind. Bis vor vier Jahren hat sie im gutbürgerlichen Steglitz-Zehlendorf gearbeitet, einer anderen Welt. Der lange Weg zur Arbeit war der Grund, warum sie nach Neukölln gewechselt ist, Berlins Problembezirk. Hier haben 43 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, in manchen Teilen sogar 70. Nirgendwo in Berlin leben so viele Menschen von Transferleistungen, nirgendwo ist das Armutsrisiko so hoch. Es gibt ganze Viertel, in denen sich arabische Großfamilien in kleinen Wohnungen drängen, wo 98 Prozent der Schüler einer Schule "ndH" sind, nichtdeutscher Herkunftssprache, wie es amtlich heißt, und Ärzte bei jedem zweiten Kind Entwicklungsstörungen diagnostizieren.

Rund 1 000 Anträge auf Staatsbürgerschaft bearbeiten Gessner und ihre Kollegen im Jahr, rund 90 Prozent davon werden genehmigt. Das klingt viel, aber wenn man sich die Fälle genauer ansieht, stellt man fest, dass darunter viele Sonderregelungen sind. Staatenlose Bewerber, aus Palästina zum Beispiel, werden von Auflagen befreit, wenn sie unter 21 sind. Bei Hartz-IV-Jobbern reicht es am Ende auch, wenn sie ihre Bemühungen, eine feste Arbeit zu bekommen, dokumentieren. Eltern, die nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung haben, können zuerst ihre Kinder einbürgern lassen, bekommen danach einen sicheren Aufenthaltsstatus - und irgendwann die Staatsbürgerschaft. Manche Bewerber schalten auch Anwälte ein. Gessner zeigt auf eine dicke Akte auf dem Fensterbrett. Ein Mann hat sich eingeklagt, am Ende war es ein Formfehler, der ihm zur Staatsbürgerschaft verholfen hat.

In Steglitz-Zehlendorf waren solche Sonderfälle eher die Ausnahme, hier in Neukölln sind sie die Regel. Normale Fälle sind eher selten: ein türkischer Polizist, der nur verbeamtet werden darf, wenn er Deutscher ist, eine Britin, die Angst hat, dass Großbritannien aus der EU austritt und sie ihre Arbeitserlaubnis als Übersetzerin verliert. Die Zahl der Briten in der Einbürgerungssprechstunde ist gestiegen in den letzten Wochen. Genau wie die der Griechen im letzten Jahr. Und neulich war ein Pole da, der sich sorgt, dass sein Heimatland mit seiner rechten Regierung aus der EU fliegen könnte. Die Einbürgerungssprechstunde ist nicht nur ein Spiegelbild deutscher Einwanderungspolitik, sondern auch der Krisen Europas und der ganzen Welt.

Der nächste Fall ist nur eine Formsache, eine 19-jährige Türkin, sie war sechs Wochen alt, als sie nach Deutschland gekommen ist und wird in diesem Jahr ihr Abitur machen. Angelika Gessner sieht auf den Nachnamen der Schülerin und stellt fest, dass sie schon fast die ganze Familie eingebürgert hat. Die beiden Brüder haben den Sprach- und Einbürgerungstest locker geschafft, der Vater mit Ach und Krach, die Mutter gar nicht. Sie hat sich nur um die Kinder gekümmert, nie gearbeitet, nie Deutsch gelernt. Und jetzt die Quittung dafür bekommen: Sie darf nicht Deutsche werden. Ein hartes Urteil, aber kein Grund für Gessner, eine Ausnahme zu machen. Jetzt, da die Kinder groß sind, könne die Frau ja einen Sprachkurs machen.

Angelika Gessner ist studierte Verwaltungswirtin, eine Frau vom Amt, aber in diesen Momenten wirkt sie eher wie eine Erzieherin für Erwachsene, ein Einwanderungscoach - und ihr Büro wie ein Zentrum für Integration. Alle reden ja gerade darüber. Wie wichtig Integration ist: Sprachkurse, Jobs, deutsche Leitkultur, deutsche Regeln. Der Berliner Senat hat einen Masterplan für Integration verabschiedet. Andrea Nahles von der SPD fordert ein Integrationsgesetz. Angelika Gessner sagt: "Ein neues Gesetz? Wozu?" Gesetze gebe es doch schon. Man müsse sie nur umsetzen.

Es kommt vor, dass Männer zu ihr sagen, von einer Frau ließen sie sich gar nichts sagen, und fordern, sie solle den Chef holen. "Der Chef ist eine Chefin", antwortet sie dann. Sie hat auch schon Männer vor die Tür geschickt, weil sie ihre Ehefrau nicht zu Wort kommen ließen. Dafür hat sie neulich bei einer Frau aus Serbien, die zwangsverheiratet wurde, beide Augen zugedrückt. Die Frau hat einen Selbstmordversuch hinter sich, ist psychisch labil, beim ersten Besuch in der Sprechstunde hat sie gut Deutsch gesprochen, beim zweiten gar nicht, und eine feste Arbeit hat sie auch nicht. Aber sie hat es geschafft, sich von ihrer Familie zu lösen, und hofft, mit der neuen Staatsbürgerschaft auch ein neues Leben beginnen zu können. Angelika Gessner gibt ihr die Chance. Sie kann von ihrem Büro aus nicht die Welt verbessern, aber sie versucht es wenigstens.

Es gibt ein Erlebnis, das sie geprägt hat. Angelika Gessner ist in Nigeria geboren. Ihr Vater, ein Bauingenieur, hat dort im Auftrag einer britischen Firma eine Ölmühle gebaut. Die Mühle, sagt Angelika Gessner, lief genau zweimal. Zum Probebetrieb und zur Einweihung. Als der Vater fünf Jahre später noch einmal zurückkam, war die Mühle mit Unkraut überwuchert.

Angelika Gessner hat keine Erinnerungen mehr an die Zeit, sie war zwei, als sie zurück nach Berlin gezogen sind, aber sie hat später mit ihrem Vater darüber gesprochen, warum das mit der Mühle so schieflief, und überhaupt: wann Hilfe sinnvoll ist und wann Geldverschwendung. Die Mühle scheint wie eine Metapher zu sein, auch für ihre Arbeit. Angelika Gessner hat früher im Sozial- und später im Jugendamt gearbeitet. Sie weiß, dass es nicht unbedingt was bringt, noch einen Förderkurs, noch eine Maßnahme anzubieten, immer wieder Ausnahmen zu machen. Sie findet, dass Regeln wichtig sind, klare Ansagen. Ihr Mann, erzählt sie, arbeitet für einen großen Transportmittelhersteller. Er reist viel und findet in Hotelzimmern manchmal Anweisungen vor, auf denen steht, wie man sich in dem fremden Land zu benehmen hat. "Da wundert sich doch auch keiner drüber", sagt sie.

Am meisten ärgert sie, wenn jemand in ihre Sprechstunde kommt und sagt, er wolle den deutschen Pass haben. Jedes Mal macht sie den Test. Fragt ganz unschuldig: Was wollen Sie hier? Und wenn dann das Wort "Pass" fällt, holt sie ein bisschen weiter aus, sagt, dass das hier die Einbürgerungsbehörde sei und nicht die Passausgabestelle, dass es um mehr gehe. Um ein Bekenntnis zum deutschen Staat, zum Grundgesetz, um das Recht, wählen zu gehen.

Als Heinz Buschkowsky noch Bürgermeister von Neukölln war, hat er beschlossen, das Einbürgerungsverfahren zu ändern. Buschi, wie ihn seine ehemaligen Mitarbeiter nennen, fand es unangemessen, dass man einfach nur seine Unterlagen abgibt und nach einem halben Jahr eine Urkunde abholt. Er wollte, dass die neuen Deutschen die Einbürgerung als etwas Besonderes erleben. Seitdem findet alle zwei Wochen im Rathaus Neukölln eine Feier statt. Angelika Gessner sagt, diese Feier sei mit das Schönste an ihrer Arbeit.

Es ist ein sonniger Nachmittag im März. Angelika Gessner sitzt vor dem Saal der Be-zirksverordnetenversammlung und wartet. Fünf ihrer Antragsteller sollen heute die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Ein libysches Mädchen, eine Bosnierin, eine Ukrainerin, ein Chinese sowie ein türkischer Junge. Das Mädchen ist als erste da. Im Blumenkleid und mit silbernem Reifen im Haar. Auch die Ukrainerin und die Bosnierin sind pünktlich, und vom Chinesen hat sie sowieso nichts anderes erwartet. Er arbeitet an der Humboldt-Universität und hat alle Tests mit Bravour bestanden. Nur der Junge fehlt. Gessner sieht auf die Uhr. Es ist zwei Minuten vor zwei, der Saal gefüllt, und jetzt schneit auch die junge Bürgermeisterin, Buschis Nachfolgerin, herein.

"Hallo", ruft Franziska Giffey. Sie trägt ein Kostüm und die Amtskette um den Hals und würde gerne anfangen. Gessner sagt, dass noch jemand fehle, ein kleiner Junge. Sie habe es geahnt, sagt sie. Heute Vormittag war der Junge mit seinen Eltern noch in ihrem Büro, und sie hat ihnen erklärt, dass es noch einen weiteren Termin gibt, um zwei im Rathaus, da werde der Eid vorgelesen und die Nationalhymne gesungen. Die Eltern haben das nicht verstanden. "Alles erledigt?", hat der Vater gefragt, immer wieder.

Es ist zehn nach zwei, die Bürgermeisterin will nicht länger warten. Die Feier beginnt. Musiker spielen die Hymnen der Länder, aus denen die neuen deutschen Bürger kommen. Bulgarien ist dabei, Griechenland, Kamerun, Kosovo, Libanon, Libyen, Serbien, Türkei, Polen, die Niederlande. Manche singen mit. Manche haben Tränen in den Augen. Die Staatsbürgerschaft zu wechseln, ist auch ein Abschied, von seinem Heimatland, seinem alten Leben. "Das macht man ja nicht mal so schnell beim Frühstücksei aus Jux und Dollerei", sagt der Chef der Bezirksverordnetenversammlung in seiner Rede. "Einen Schritt, der Mut, Vertrauen und Kraft braucht", nennt es Franziska Giffey. Sie erzählt von den 151 Nationen, die im Bezirk leben und erklärt das Wappen Neuköllns. Der silberne Kelch stehe für die böhmischen Glaubensflüchtlinge, die vor über 200 Jahren hier eine neue Heimat gefunden hätten. Es ist eine schöne Rede, würdevoll, festlich. Anschließend werden die Namen aufgerufen, jeder kommt nach vorne. Männer, Frauen, Paare, Kinder. Viele Kinder. Das dauert und ist ein bisschen chaotisch. Ein Baby fängt an zu schreien, ein Junge will sein Basecap nicht absetzen, ein Mann verweigert der Bürgermeisterin den Händedruck. Er ist jung, kommt aus Holland und trägt einen Dschihadistenbart. Die Bürgermeisterin zieht ihre Hand zurück, sie ärgert sich, sie zögert. Aber den Eid aufs Grundgesetz spricht der Mann, er bekommt seine Urkunde. Auch das ist Neukölln.

Angelika Gessner steht in der Mitte des Saales. Sie hat die Aufgabe, Fotos zu machen, und wirkt zwischen all den Einwanderern noch größer, noch blonder. Beim Eid bewegt sie die Lippen mit, und wenn es einer besonders gut gemacht hat, nickt sie ihm zu. Nach der Feier gibt es Brot und Salz und für jeden ein Foto. Angelika Gessner streicht dem libyschen Mädchen über den Kopf, sagt der Ukrainerin, vielleicht sehe man sich ja mal, sie wohne auch in Neukölln, dem vorbildlichen Chinesen schüttelt sie lange die Hand. Dann leert sich das Rathaus, die neuen Deutschen gehen nach Hause. Angelika Gessner packt die Urkundenmappe ein. Sie ist leer. Fast. Eine Urkunde ist übrig geblieben. Der türkische Junge ist nicht gekommen.