Berührungspunkte

von Andrian Kreye

Die meisten Menschen verbinden nur das Schlechteste mit künstlicher Intelligenz – Jobkiller, Mediensucht, emotionslose Roboter. Dabei erleichtert KI längst auch unseren Alltag. Sogar der Vatikan hat ihre Vorzüge erkannt. Eine weltumspannende Reise zu Apokalyptikern und euphorischen Wissenschaftlern.

Mockup des nominierten Textes von Andrian Kreye von der SZ
Süddeutsche Zeitung / BDZV

Der Deutsche Fußball-Bund hat seine besten Schiedsrichter ins Trainingslager geladen, auf Mallorca, wo auch im Januar die Sonne wärmt. 43 Männer, eine Frau. Eine Woche lang bereiten sie sich auf die Rückrunde vor. Fitness, Psychologie, Regelkunde, die Trainer schauen genau hin. Auch für die Schiedsrichter geht es in der Rückrunde in den nächsten Monaten um den Auf- und Abstieg. Und wer nach oben will, sollte sich nicht verspäten. Auch keine – Blick auf die Uhr – 18 Sekunden.

Hinter der Tür: Stille.

Sie atmet, drückt die Klinke.

Hm, verschlossen.

Was nun? Klopfen? Steinhaus steht einfach nur da. Nach langen Sekunden schwingt die Tür auf. Vor ihr erscheint Hellmut Krug, der Kursleiter, früher Schiedsrichter, heute Funktionär, einer der Wichtigen, einer der Entscheider über Auf und Ab. Er lächelt.

»Ich dachte immer: Ladies first.«

Leises Lachen klingt ihr entgegen, 14 Männer in Hufeisenrunde.

Sie entgegnet nichts. Mit geradem Rücken strebt sie auf ihren Platz.

»Hat sich noch die Haare gemacht«, sagt, als sie sich setzt, ein sehr junger Schiedsrichter zwei Stühle weiter.

Sie greift sich das Arbeitspapier. Keinen Blick schenkt sie dem Jungen.

Was sollte sie auch sagen? Dass ihr einfacher Pferdeschwanz wenigerer Spiegelblicke bedarf als manche Gel-Frisur im Raum? Wie alle trägt sie den Trainingsanzug des DFB – den Männeranzug. Für mich keine Ausnahme, hat sie gebeten, auch auf dem Platz nicht: kurze Hose, Trikot. Sie möchte in ihrer Funktion gesehen werden, nicht als Frau.

»Jetzt, wo die holde Weiblichkeit da ist«, durchbricht Hellmut Krug die Stille, »können wir ja anfangen.«

Er hat Videos mit Spielszenen vorbereitet: Foul oder nicht? Gelb oder Rot?

Szene eins, wer will was sagen? Schweigen. »Nun, wo sie eh im Fokus ist: Bibiana?« Einige lachen.

Sie: »Das Foul hat sich deutlich angekündigt. Der Spieler hat wenig Chancen, den Ball zu spielen. Ich würde sagen: Gelb. Kann ich die Zeitlupe sehen?«

Kursleiter Krug, tadelnd: »Also, eine Entscheidung musst du schon treffen.«

Zeitlupe.

Sie, bestimmt: »Die Zeitlupe bestärkt meinen Eindruck. Gelb.«

Krug: »Was meinst du, Felix?«

Er wendet den Blick auf Felix Brych, Schiedsrichter des Jahres. Brych kennt Steinhaus seit Jahren. Als eben viele feixten, blieb sein Gesicht ernst.

Er hebt den Kopf, nickt ihr zu: »Alles, wie Bibiana gesagt hat.«

Sie nickt zurück, die Augen dankbar. Bibiana Steinhaus, 38 Jahre, ist zweimalige Weltschiedsrichterin, bei den Frauen leitete sie Endspiele bei der Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen, am 1. Juni pfeift sie das Finale der Champions League. Im Männerfußball ist sie eine Pionierin: die erste Frau im deutschen Profigeschäft. 2016 war sie laut geheimer Rangliste des DFB bester Schiri der Zweiten Liga. Aufgestiegen ist sie da nicht. Wieder nicht. Seit zehn Jahren hat sie darum gekämpft, Jahr für Jahr, und wieder und wieder wurde sie enttäuscht. Es schien, als wollte die Bundesliga einfach keine Frau in ihren Reihen, egal wie gut ihre Noten und wie groß das Lob der Fachleute waren. »Sie gehört in die Bundesliga«, forderte noch vor zwei Wochen Urs Meier, früherer Fifa-Schiedsrichter. Große Erwartungen, dass sie es schafft, hatte er da nicht.

Vergangenen Donnerstag, vier Monate nach Mallorca, hat die Elite-Kommission getagt, die großen Namen des Schiedsrichterwesens, Lutz Michael Fröhlich, Eugen Strigel, auch Hellmut Krug war dabei. Nach einer aufreibenden Rückrunde, in einem letzten Anlauf, ist Bibiana Steinhaus in die Männer-Bundesliga aufgestiegen.

LASS DAS MAL MIT DEM FUßBALLSPIELEN, hatte Mampfer gesagt, Freund ihres Vaters, Schiedsrichter-Obmann beim SV Bad Lauterberg im Harz. Eben hatte er Bibiana gepfiffen, Libero, 16 Jahre alt und, wie Mampfer sagt, »absolut talentfrei «. Werd lieber Schiedsrichter, sagte er: Bist groß, kannst dich durchsetzen. – Ich? Schiedsrichter? Nee.

Doch Wolfgang »Mampfer « Illhardt, ein guter Esser und noch besserer Spielleiter, sprach sie wieder und wieder an, er suchte Nachwuchs, gerade Mädels. Zwei Frauen kommen auf hundert Schiedsrichter, das war Mitte der Neunzigerjahre nicht anders als heute. Und weil sie es nicht mehr hören konnte, machte sie halt diesen Kurs.

Einige Wochen später leitete sie ihr erstes Spiel, Hattorf bei Göttingen, Frauenfußball,

Bezirksstaffel. Illhardt fuhr sie hin, sie hatte keinen Führerschein und war froh, ihn bei sich zu haben. Kommst in ein fremdes Dorf, musst dich durchfragen. Wo sind die Kabinen? Wer ist verantwortlich? Und auf einmal stehst du allein gegen 22. Auf dem Dorfplatz ist das härter als in der Bundesliga, du kannst dich nicht so gut hinter deiner Funktion verschanzen, bist mehr Mensch, musst den Zuschauern in die Augen schauen, kannst ihren Bier-Atem riechen. Auch Illhardt machte sich Sorgen. Bis er, der viele Frauen und Männer in die Schiedsrichterei führte, sie sah: »So ein Talent hast du einmal in hundert Jahren.«

Mensch und Funktion zugleich, lächelnd, fast mühelos, setzte sie sich durch.

Sie fiel schier nach oben, nach einem guten Jahr stand sie in der Frauen-Bundesliga an der Linie, assistierte der Fifa-Schiedsrichterin Antje Witteweg.

Ob sie mal ein Männerspiel leiten wolle?, fragte Illhardt. Eigentlich durfte sie nicht, sie war minderjährig, aber … Auf nach Duderstadt, Bezirksstaffel. Am Rand stand ein Verbandslehrwart namens Kasper. Nach dem Spiel kam der gelaufen: »Du musst raus aus dieser Klasse.« Sie war zu gut. »Ich dachte, ich hör nicht recht«, sagt Illhardt. Wofür andere Jahre brauchten, reichte ihr ein Spiel.

Er wurde ihr Assistent, sah nun von der Linie, wie sie sich behauptete. Auf dem Platz Gerangel und Geschrei? Bleib weg!, schrie er immer. Und sie: mitten rein. Oder der Torwart, der vom Boden nach oben schaute und sagte: »Knackiger Hintern.« – »Ebenfalls.«

Jahr für Jahr stiegen die beiden auf, Landesliga, Verbandsliga, Niedersachsenliga. Wie die Zuschauer schauten, wenn sie auflief! Und ihr Gelächter, wenn nicht sie an die Linie ging. Rufe, durchaus wohlwollend, aber wehe, sie entschied nicht nach Wunsch: Warum pfeift da auch eine Frau?!

Regionalliga, mit 22 Jahren. »Frauen sollen Frauenspiele pfeifen«, befand der Babelsberger Trainer. Sein Team stieg bald ab, Steinhaus weiter auf. Als sie im September 2007 ihr erstes Zweitliga-Spiel leitete, Paderborn gegen Hoffenheim, drängten sich die Kameras. »Es war einfach verrückt«, sagt Steinhaus. »Wie ein Naturspektakel.«

Sie spaziert durch den Hotelpark auf Mallorca, ab und an kommen Kollegen entgegen. Kreuzen sie, dämpft sie die Stimme.

»Ich hatte nie vor, heute noch nicht, einen Emanzipationsweg zu beschreiten. Ich tue nur, was ich liebe.«

Sie überlegt.

»Trotzdem muss ich mich mit der Frage auseinandersetzen. Denn um mich herum sind Menschen, für die das ein Thema ist. Was soll ich sagen: Ich bin nun mal die Einzige hier mit blondem Pferdeschwanz.«

Pause.

»In den ersten Jahren war ich sehr bemüht, unter dem Radar zu fliegen, mit der Gruppe der Schiedsrichter eins zu werden. Bis ich gemerkt habe, dass mir das niemals gelingen wird. Diese andere Rolle anzunehmen hat lange gedauert.«

Nun müssen doch auch mal die anderen sie annehmen. »Natürlich ist meine Personalie umstritten«, sagt sie, zwanzig Jahre nach Duderstadt, zehn nach Hoffenheim.

Steinhaus hat die größte Erfahrung in der Zweiten Liga. Auch in der Bundesliga hat sie sich bewiesen, als Vierte Offizielle, also als Frau zwischen den Trainerbänken. Stars wie Felix Brych, der in einer Woche das Champions-League-Finale der Männer leiten wird, das wichtigste Vereinsspiel der Welt, freuen sich, wenn Steinhaus zu ihrem Team stößt. Die Trainerbändigerin. »Sie ist sehr begabt im Umgang mit Menschen«, sagt Lutz Wagner, Steinhaus’ Coach, Mitglied der Schiedsrichterkommission. Als Steinhaus vor zwei Jahren Pep Guardiolas verirrte Hand von ihrer Schulter streifte, stieg sie noch mal in der allgemeinen Achtung – aber nicht auf.

Es gehe allein nach Leistung, hieß es beim DFB: nach den Noten, die der Verband jedes Spiel vergibt. Im vergangenen Jahr wurde die geheime Rangliste nach draußen gespielt. Steinhaus stand auf Platz eins. Aufgestiegen waren vier andere. Weil sie eine Frau ist?

»LOS MÄNNER!« AUF MALLORCA SETZT SICH DIE TRUPPE IN BEWEGUNG, Trikots, Stollenschuhe, junge Gesichter, es könnten Fußballer sein, einige rotzen auf den Rasen, andere schießen sich gegenseitig mit Bällen ab. Steinhaus plaudert abseits mit einem Linienrichter, er nimmt sie in den Arm, sie deutet ein Küsschen an. Dehnen, »Gesäß nach hinten!«, ruft der Fitnesstrainer. »Aber Abstand halten, damit der Hintermann später keine braune Nase hat.« Liegestütze, Sprints, »Go, go!«, vor Steinhaus läuft Wolfgang Stark, hinter ihr Manuel Gräfe, bekannte Kollegen: »Super, Männer!«

Steinhaus verschnauft, das Haar klebt an der Stirn. Dieses »Männer« berührt sie nicht, es stört sie aber, wenn Funktionärsreden beginnen mit: »Liebe Bibiana, liebe Kollegen.«

Weiter. »Sauber arbeiten!«, ruft der Trainer. »Die Kamera läuft mit.« Vorbei sind die Zeiten, als der Dicke der Schiedsrichter war und ein Wolf-Dieter Ahlenfelder das Spiel nach einem Herrengedeck anpfiff. Schiedsrichter sind Leistungssportler. Fängt ein Verteidiger einen Angriff ab, ist der Ball oft zwei Pässe später im anderen Strafraum, siebzig Meter in drei Sekunden. Wenn sie sehe, sagt Steinhaus, dass ein Spieler zum Schuss ansetzt, wende sie und sprinte dem Konter voraus. Ideal sei, auf Ballhöhe zu bleiben. Falle sie aus dem Fernsehbild, habe sie die Kontrolle verloren. 45 lange Sprints macht Steinhaus im Spiel, läuft elf Kilometer. Dabei muss sie im Kopf kühl bleiben. Und wem im falschen Augenblick der Schweiß ins Auge tropft, der übersieht ein Abseits. Dieses Tempo ist in der Bundesliga noch höher, Topspieler machen sechzig lange Sprints und laufen zwölf, 13 Kilometer. Genau das, deuten einige auf Mallorca an, also bevor Steinhaus ’ Aufstieg in die Bundesliga beschlossen war, sei ein Grund dafür, dass sie es bei den Männern noch nicht an die Spitze geschafft habe. Sie sei zu langsam.

Trinkpause.

Stimmt das? Sie könnte nun sagen: Was soll das Gerede? Sie könnte sagen, dass es Tests für Bundesligaschiedsrichter gibt, Männertests übrigens, Schnelligkeit und Ausdauer, in denen sie Jahr für Jahr besteht. Aber Steinhaus sagt: »Schauen Sie sich um: Alle haben Gardemaß, sind durchtrainiert.« Sie vergleicht sich.

»Bibiana ist sehr selbstkritisch«, sagt Lutz Wagner, in der Kommission einer ihrer Förderer und einer, der sie gern antreibt. »Sie weiß, dass sie schneller reagieren muss. Da arbeitet sie auch dran. Dazu gehört, dass man sich mit Taktik auseinandersetzt. Wer macht in Dortmund die Spieleröffnung, wer wird den langen Ball spielen. Das müssen Sie vorher wissen. Laufen Sie erst los, wenn der Aubameyang den Ball hat, kommen Sie mit dem Ferrari nicht nach.«

Es stimmt, gibt sie zu, es gebe da »Entwicklungsbedarf«. Und sie arbeitet tatsächlich dran. Liest Fachpresse, beschäftigt sich mehr mit den Spielern, und will man Steinhaus verlässlich erreichen, ruft man am besten eine halbe Stunde vor einer Fußballübertragung an, dann sitzt sie vorm Fernseher.

Oder man klingelt um 5:30 Uhr durch, wenn sie auf dem Weg zum Maschsee ist, in Hannover, fünfzig Minuten laufen, die Augen halb geschlossen, ein Ritual wie montags die Massage, und dienstags, donnerstags, freitags sowie an freien Wochenenden Schnellkrafttraining, überwacht von Timo, ihrem Fitnesstrainer, der sie durch den Laufschlauch der Leichtathleten am Olympiastützpunkt in Hannover jagt, hundert Meter lang, alle zehn Meter eine Lichtschranke.

Dazwischen geht Steinhaus arbeiten, ins niedersächsische Innenministerium. Sie ist Polizistin, früher draußen im Einsatz, heute im Innendienst. Die Kollegen laufen oft mit ihr, die Strecke liegt nah am Büro.

Nie hat Steinhaus mehr trainiert als in diesem Jahr. Vor einiger Zeit hatte sie die Bundesliga schon abgeschrieben, sagt der Ex-Schiedsrichter Urs Meier, der sie lange kennt. In dieser Saison hat sie wieder gehofft. Ungewöhnlich groß war der Aufschrei, als die Kommission ihr den Aufstieg im vergangenen Sommer verwehrte. Der DFB geriet in Not. Es zähle nicht nur eine Saison, sondern mehrere, musste Lutz Michael Fröhlich erklären, Chefschiedsrichter des DFB.

Januar 2017. Ein Topjahr steht nun im Haben, ihre Hinrunde war stark, und nach der Saison hören gleich drei Kollegen auf. So dicht ist Steinhaus dran, dass sie wenige Wochen zuvor ein Angebot ausschlug, Führungsposition, international, in der Sportwelt, eine goldene Karrieretür, lange hat sie überlegt. »Aber ich bin noch nicht fertig.«

Gerade hat sie eine Zusatzausbildung abgeschlossen, als Mentalcoach. Mögen manche schnellere Beine haben, sie ist stark im Kopf. Schiedsrichter sind nicht nur Sportler, sie sind Entscheider, Menschenführer, und da habe sie eine »echte Gabe«, sagt Lutz Wagner. Erste Klientin des Coaches Steinhaus ist sie selbst. Von »positiver Selbstinstruktion« spricht sie, »auch Spiegelgespräch genannt«: Sich vor den Spiegel stellen und positiv reden. Schlechte Gedanken in Luftballons packen und weg damit.

Als auf Mallorca der Abendkurs beginnt, Psychologie, sitzt Steinhaus zeitig auf ihrem Platz. »Hey, Fischi!«, ruft der Kursleiter einen Verspäteten: »Stell dein Geschnatter ein und komm.« Erst dann schließt sich die Tür.

Sie sprechen über Gedanken management, Druck. Rat des Kursleiters: Schlechte Gedanken in eine Wolke packen und los lassen. Am Ende sollen alle der Reihe nach sagen, was hängengeblieben ist. »Positive Selbstinstruktion«, bilanziert Steinhaus. Ratlose Blicke in der Gruppe. »Oh«, sagt der Kursleiter, »damit liegt die Latte für die anderen hoch.«

NOCH 99 TAGE, DANN FÄLLT DIE ENTSCHEIDUNG. Sie zählt runter. Es ist Mitte Februar 2017, Steinhaus lacht viel, am Freitag war sie Vierte Offizielle, super Spiel. Dann Berlin, Wahl des Bundespräsidenten, also nach dem Laufen im Tiergarten natürlich, mit ihrer riesigen Sporttasche ist sie zum Reichstag gefahren, Fahnen, Headsets, Fußballschuhe, die Sicherheitsleute winkten sie einfach durch: »Ach, Frau Steinhaus, schön, dass Sie da sind.« Vorne rechts saß sie, im feinen Kleid, als Wahlfrau der SPD, sie hörte die Reden, hörte ihren Namen, ging die Wahlkarte holen und fühlte, dass das, was sie tat, eine Bedeutung hat. Sie gratulierte, auch der Bundespräsident wünschte ihr Glück. Die Rückrunde läuft gut, nach einem Uefa-Lehrgang in Portugal wurde sie für die Europameis terschaft der Frauen nominiert, und in der Bundesliga wird wohl der Videoschiedsrichter kommen, die Zahl der Referees weiter steigen.

»Befördern Sie endlich Bibiana Steinhaus in die 1. Liga«, fordert die Bild in einem Interview von Lutz Michael Fröhlich, dem Chefschiedsrichter. Seine Antwort: »Nur wegen einer eventuellen Aufstockung ziehen wir sie sicher nicht hoch. Aber wir stehen hinter ihr, fördern sie und werden sehen, was in Zukunft passiert.«

Anfang März, Steinhaus pfeift 1860 München gegen den FC St. Pauli, beiden droht der Abstieg. Schon nach fünf Minuten gehen Spieler und Betreuer aufeinander los. Ein Hamburger war berührt worden und liegengeblieben, die Münchner spielten den Ball nicht fair ins Aus, sondern vors Tor, und trafen. Rudelbildung. Wegbleiben!, hätte Illhardt gerufen, Steinhaus natürlich rein, einen nach dem anderen schickt sie weg, bis allein die Trainer dastehen. »Ruhe«, mahnt sie, die Handflächen dämpfend nach unten.

Sie gehört zu den Schiedsrichtern, die Spiele laufen lassen, Fußball ist ein Kontaktsport, sagt sie. Es bringt ihr den Respekt der Leitwölfe: Die Schiedsrichterin ist weniger Weichei als viele in ihrer Mannschaft, die ausführlich über die Farbe ihrer Fußballschuhe nachdenken und sich nach Berührungen auf dem Rasen wälzen. Aber es sei die schwierigere Art zu pfeifen, sagt Lutz Wagner. »Du musst extrem wachsam sein.«

Es gelingt ihr, Ruhe reinzubringen. Aber dann kommt die Szene, die sie noch lange niederdrücken, alles in Frage stellen wird: Schuss St. Pauli, ein Münchner stellt sich hinein. Pfiff. Strafstoß. Was? Hand, sagt sie.

Nach dem Abpfiff schaut sie sich in der Kabine die Szene an. »Uh, sah im Spiel klarer aus.« Das ist die Crux, halbe Fouls gibt es nicht. Also will Steinhaus nur Klares pfeifen, erst recht im Strafraum. Sie macht sich leise Vorwürfe. Ihr Spielbeobachter, der auf der Tribüne saß und die DFB-Note vergibt, beruhigt sie. War ein gutes Spiel. Eine 8,5.

Meistens liegen die Noten zwischen 8,9 (sehr gut) und 7,9 (miserabel). Aus ihnen errechnet sich die Rangliste. Die Note des Beobachters kann von der Kommission geändert werden, die am Folgetag per Telefon konferiert. Wie werden sie es sehen?

Die Medien schonen Steinhaus: »Kann man geben«, heißt es bei Sky und Bild. »Gut gesehen«, urteilt die ARD. Der Kicker findet es »hart, aber vertretbar«. Sogar im Löwenforum, wo sich die Münchner zuvor über die »Problemzonen« von »Fräulein Weltschiedsrichterin« lustig machten, steht: »Sooo daneben lag sie sicher nicht.«

Das Urteil der Kommissionskonferenz: gravierender Fehler. Note: 7,9.

»Hat die wirklich die Note bekommen?«, fragt ein Bundesligakollege, als er davon hört. »Die steht wohl wieder zu gut da.«

Das DFB-Notensystem ist umstritten. Keiner der Schiedsrichter bekommt die aktuelle Tabelle zu sehen. Diese Heimlichtuerei nährt Misstrauen. Öffentlich will niemand darüber reden.

»Welche Abzüge du kriegst«, vermutet ein Schiedsrichter, der international pfeift, »hängt von deinem Namen ab. Davon, was sie mit dir vorhaben.«

»Wenn du das beim Bier mal Spielern erzählst, glauben die es nicht«, sagt ein Linienrichter: »Mit nur zwei schlechten Spielen kannst du abstürzen.«

Ein anderer erzählt, dass Beobachter angerufen werden, bevor sie ihre Note abgeben. »Wir sitzen nach dem Spiel zusammen, ich frage, wie war’s? Er tut rum. Dann klingelt sein Handy. Meine Frau, sagt er und geht raus. Auf dem Display stand Eugen Strigel« – ein Mitglied der Kommission.

Urs Meier nennt das System »unmenschlich«.

Es kündigt sich aber ein Wandel an unter Lutz Michael Fröhlich, der im vergangenen Sommer das Amt des DFB-Chefschiedsrichters übernommen hat. Die Noten werden abgeschafft, menschlicher soll es zugehen, transparenter, die Schiedsrichter sollen über sogenannte Perspektivgespräche und Hilfen an die Bundesliga herangeführt werden, sodass sie mehr auf sich schauen und weniger auf die Noten anderer.

Steinhaus ist in den Tagen nach dem Spiel nicht zu erreichen. Ist alles wieder zerschlagen? Noch heute können ihre Kritiker ausführlich über das Spiel in Augsburg reden, das ihr 2011 misslang.

»Sie hat immer Leistung gebracht«, sagt Urs Meier. »Und immer hatte man nachher wegen eines Spiels, das nicht so lief, offenbar in der Kommission das Gefühl: Das reicht nicht. Aber man kann immer ein Spiel suchen, das nicht gelaufen ist, bei jeder Person, oder? Das ist nicht in Ordnung.«

»Dieser Fehler war nun mal spielentscheidend«, verteidigt Lutz Wagner die schlechte Note für die Partie in München. »Aber ein Fehler entscheidet doch nicht über die ganze Saison.« In Klammern stehe die 8,5 noch im Bericht. Ein Wink, wie die Kommission die Leistung ohne den Fehler einschätze.

Nach einer Woche eine Textnachricht von Steinhaus: »Bin drüber hinweggekommen.« Anruf. »So ist das als Schiedsrichter. Nach Fehlern hast du sechs Tage, um den Kopf freizubekommen. Dann musst du wieder pfeifen.« Geholfen haben viele Gedankenluftballons und neblige Läufe am Maschsee. Wirklich drüber hinweg klingt sie nicht. Zum Glück hat sie spielfrei.

Das Notensystem? »Ich bin damit aufgestiegen. Nun ist es dasselbe System, das den letzten Schritt irgendwie verhindert. Darf ich mich beklagen? Sicher nicht.«

HANNOVER, MITTE MÄRZ, NOCH 64 TAGE. Bibiana Steinhaus tritt ins Stadion, in einer Stunde spielt Zweitligist Hannover gegen Bundesligist Schalke, ein Freundschaftsspiel, auch die Spieler kommen, die Erfahrenen wie Hannovers Niclas Füllkrug gehen gleich zu ihr, plauschen, nach einem Jahrzehnt gehört Steinhaus zum Inventar. »Ich habe gerade den Spiel bogen gelesen«, sagt sie, »einige Spieler hier waren noch nicht auf der Welt, da hatte ich schon Abitur!«

Steinhaus spricht oft über ihr Alter. Sie ist 38 und weiß: Kein Schiedsrichter macht noch Karriere mit vierzig. Und sie könnte sich vorstellen, eine Familie zu gründen. Sie ist mit Howard Webb zusammen, Brite, lange einer der erfolgreichsten Schiedsrichter der Welt. Sie habe einen Plan A und einen Plan B, sagt Steinhaus, je nach Entscheidung der Kommission. Es geht also auch für den DFB um alles oder nichts. Möglich, dass es seine Vorzeigeschiedsrichterin, »die Beste der Welt«, wie Lutz Wagner sie nennt, auf einmal nicht mehr im DFB-Trikot gibt. »Ich habe für den Sport auf viel verzichtet«, sagt Steinhaus.

Ab in die Kabine, Obst, Kuchen, Wasser, im Kühlschrank Bier, Teambesprechung, an der Linie stehen heute Felix-Benjamin Schwermer, ein Zwei-Meter-Kerl, genannt Tower, und Katrin Rafalski, eine der Frauen, denen Steinhaus den Weg bereitet hat. Rafalski pfeift Regionalliga.

Die beiden Frauen piesacken Schwermer: Wann er seiner Freundin endlich einen Antrag mache? Ob er überhaupt ihre Ringgröße wisse? Nicht? So könne er es gleich vergessen. Lustig geht es zu, bis Hannovers Schiribetreuer hereinkommt, Jürgen Hausmann. Er fragt nach dieser Note in München. Die Kollegen schauen auf den Boden. »Wir müssen raus«, beendet Steinhaus das Gespräch.

Während Timo, ihr Fitnesstrainer, sie noch mal zum Leistungscheck verkabelt, geht Tower aufs Klo.

Es dauert.

»Tower, jetzt mach mal«, ruft Steinhaus.

»Mann, voll der Druck«, antwortet er durch die Tür, »Frauenstimmen hören und dabei pullern.«

»Ja, das klemmt zu.« Steinhaus lacht.

Ihr Katakomben-Pfiff schrillt so laut, dass die Trommelfelle beben. Trainer, Spieler, alle stehen parat, auch der Komiker Oliver Pocher, der mit Mikro da ist.

»Na, Balljunge?«, begrüßt sie ihn.

DÜSSELDORF, 9. APRIL, FRÜHSTÜCK IM HOTEL, Steinhaus trägt das offizielle T-Shirt der Frauen-WM in Kanada. Die Leute an den Nachbartischen recken die Köpfe, sie spricht mit den Assistenten über die schnellen Stoßstürmer von Union Berlin. Gleich geht es über den Rhein ins Stadion, Fortuna gegen Union. Ein Betreuer mit mächtigem Bauch holt sie ab. »Na?«, fragt er und reckt den Daumen. »Hoch?« – »Wait and see«, sagt sie. – »Also, wer in der ersten Liga so pfeifen darf…« – »Schönes Lied«, unterbricht sie, fängt an, mitzusingen: »What a beautiful day…«

Sie war zehn Tage in den USA, um Howard Webb zu besuchen. Im Frühjahr ist er dorthin gezogen, er arbeitet führend daran mit, den Videobeweis in der Major League Soccer zu erproben. Als Steinhaus ankam, erkannte er sie kaum wieder: voller trüber Gedanken, sie wurde dieses Spiel einfach nicht los, er wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Fußball?, fragte er schließlich. Sie schauten in einer Kneipe Champions League, sie gingen ins Stadion. Und ihr Lachen kehrte zurück, die laute Stimme, ja, ihr Kopf ist wieder aufgeräumt, sechs Wochen noch, sagt sie. Nun gilt es wieder, Spannung aufzunehmen. Was das heißt, lässt sich im Kleinen in den Katakomben beobachten: Die Spieler bauen sich auf, Kopf in den Nacken, Arme zur Seite, Kristian Pedersen, 1,91 Meter hoch, Verteidiger, versperrt ihr unabsichtlich den Weg. Steinhaus läuft nicht um ihn herum, sie fixiert ihn mit blauem Blick. Er tritt zur Seite.

Aus dem Tunnel ins Licht, aus dem dumpfen Hall ins schrille Getöse, wie sie diesen Gang liebt, sie spürt ihn im Magen, auf der Haut, sie atmet Fußball.

Das Spiel hat eine Vorgeschichte. In der vergangenen Saison stellte Steinhaus Fortunas Star vom Platz, Kerem Demirbay, der gerade für die Nationalelf nominiert wurde. Wütend hatte er vor ihr gestanden, als ihr Arm nach draußen wies. Frauen hätten auf dem Fußballplatz nichts verloren, rief er.

»Normalerweise«, sagt sie, »mache ich mir da nichts draus. Das wird verbal gekontert, und gut ist. Das Problem war: Da stehen zehn Leute drum herum. Ich habe kurz überlegt. Nein, das gebe ich mir nicht. Ich habe dem Kapitän noch auf dem Platz gesagt: Darüber mache ich einen Bericht. Ich war da relativ emotionslos.«

Getroffen hat es sie doch. Einer hatte ausgesprochen, was sich sonst keiner laut zu sagen traut. Sie kämpft gegen unsichtbare Feinde. Sie weiß nicht, ob es viele oder wenige sind, wo sie sitzen in den Mannschaften und Gremien, wie sie ihren Weg mitbestimmen. Sie kann sie nicht sehen, nicht hören. Nur spüren. Da ist ihr ein Demirbay fast schon lieb. »Er hat angerufen und sich entschuldigt«, sagt Steinhaus. »Es ist okay. Ich bin nicht nachtragend.«

Er wurde vier Spiele gesperrt. Und pfiff, auf Anregung seines Vereins, ein Mädchenspiel – gekleidet wie auf einem Laufsteg. »Wieso ist ein Spiel zu pfeifen eine Strafe?«, fragt Steinhaus. Und was senden die Bilder davon für eine Botschaft? »Jeder kann ein Spiel leiten. Ohne Ausrüstung, Ausbildung. Es macht unsere Aufgabe so beliebig.«

Demirbay wird sie heute nicht treffen, er spielt nun Bundesliga, in Hoffenheim.

Anpfiff, 25 000 Zuschauer, Gesänge, Trommeln, Bengalos, der eine kämpft um den Aufstieg, der andere gegen den Abstieg, Steinhaus bekommt die aufregendsten Spiele. Es ist Prüfung und Vertrauensbeweis zugleich. Fehlpässe, Bälle verspringen, »Holt die Blinden runter!«, rufen die Zuschauer, sie meinen nicht die Schiedsrichter. Nur einmal wird Steinhaus ausgepfiffen, als ein Düsseldorfer im Strafraum angesprungen wird, sie lässt laufen. In der Nachspielzeit eine Tat, die Steinhaus mit Stolz erfüllt: Ball über links, der Angreifer wird gefoult, Steinhaus greift zur Pfeife, sieht, wie der Spieler sich berappelt, zeigt Vorteil, Flanke – Tor. »Mann des Spiels: Bibiana Steinhaus«, twittert ein Zuschauer.

Abpfiff, sie verschwindet in der Kabine, wo sie, wie immer, mit ihren Linienrichtern ein Erinnerungsfoto macht: »Ohne dein Team bist du nichts.« Jeder Platzschiedsrichter braucht die Augen an der Seite.

Einige Meter entfernt bewerten die Fußballer ihr Spiel. »Den Elfer hätte ich gegeben«, schimpft Rouwen Hennings, Düsseldorfs Leitwolf, einst Bundesligaspieler. Was er grundsätzlich von Steinhaus hält? »Ich verstehe nicht, dass das ein Politikum ist. Sie hätte die Erste Liga verdient.«

Und was sagt die Telefonkonferenz der Kommission? Nicht gegebener Strafstoß, Punktabzug. Das hättest du im Mittelfeld gepfiffen, sagt ihr Coach Lutz Wagner. Ja, aber es war doch nicht im Mittelfeld, sagt Steinhaus. Immerhin: Steinhaus bekommt einen Bonuspunkt wegen des Vorteils in der Nachspielzeit. Endnote: 8,3. Okay.

Um sich abzulenken, verschickt Steinhaus einen Link von Düsseldorfs Facebookseite, »was zum Schmunzeln«, schreibt sie. Eine Spielszene, ein Spieler kniet, Steinhaus reicht ihm die Hand, hilft ihm hoch. »Sie hat ›Ja‹ gesagt«, steht darunter.

MAI, NOCH 26 TAGE, in jedem Gespräch nennt Steinhaus die Zahl. Nur kein Fehlpfiff mehr. Abstiegsspiel in Karlsruhe, ein letzter Test der Kommission, in der ersten Halbzeit ist ihr ganz flau, sie kämpft sich ins Spiel, wieder eine Elfmeterszene, sie gibt ihn, zu Recht, gute Noten, beim kicker rückt sie auf Platz zwei der Zweitligaschiedsrichter. Sie lese solche Berichte nicht, Selbstschutz. »Als Spieler hast du Leute, die sich um dich kümmern. Psychologen, Trainer. Als Schiedsrichter musst du selbst auf dich achten.« Babak Rafati, ihr früherer Kollege aus Hannover, versuchte sich das Leben zu nehmen, die Assistenten fanden ihn vor dem Spiel. Noch 15 Tage, 14, Steinhaus wird ruhiger. »Ich habe alles gegeben. Ich bin froh, wenn die Würfel fallen.« Dann flackert es wieder auf, uh, morgen Leistungstest, ich muss fit sein. Es wogt in ihr, hin und her. Ich kann nicht mehr, sagt sie.

Kleinere Einsätze lenken sie ab, in Bremen als Vierte Offizielle, sie und Demirbay, der Neu-Hoffenheimer, geben sich die Hand. Ein Spiel der Polizei-Nationalmannschaft. Ihre Erfahrung als Polizistin wappnet sie. Wer wie sie Streife gegangen ist, beim G8-Gipfel in Heiligendamm Auge in Auge stand mit dem schwarzen Block, lächelt über »Ausziehen!« -Rufe einiger Zuschauer in Kiel.

»In der Bundesliga wird der Druck viel größer sein«, sagt Urs Meier, der im Finale mitfiebert. Er habe das bei seiner früheren Partnerin gesehen, Ni cole Petignat, die in der ersten Schweizer Liga pfiff. »Wenn sie ein wichtiges Spiel bekommen hat, was da für ein Druck aufgebaut wurde, über den Verband, die Mannschaften, die Öffentlichkeit, das war unglaublich. Nur weil sie eine Frau war. In Deutschland wird das noch größer sein. Aber ich kenne Bibiana. Sie wird bestehen. Sie ist stark. Und wenn die Leute in der Kommission auch stark sind, sollten sie endlich diesen Schritt gehen.«

Und die tritt eine Woche früher zusammen als geplant, Steinhaus erfährt es am Vorabend. Ihr Countdown springt auf Null. Wie soll sie nur gut schlafen?

Zusage, Absage, alles ist möglich. Bis zuletzt wurde Politik gemacht, viele haben mitgeredet, auch ihre unsichtbaren Feinde. Das entscheidende Wort spricht nun die Elite-Kommission, Lutz Michael Fröhlich, Ronny Zimmermann, Florian Meyer, Rainer Werthmann, Hellmut Krug und Eugen Strigel, eigentlich ihr Förderer. Aber auch bei Strigel kann sich Steinhaus nicht sicher sein.

Neun Jahre lang war er ihr Coach, sie mag ihn richtig gern. Auch ihm springt die Freude in die Augen, wenn er sie nur sieht. Lächelnd setzte er sich im Januar auf Mallorca zu ihr, als sie mit hängenden Schultern auf der Ersatzbank am Spielfeld saß, Training für die Linienrichter, überraschend sollte auch Steinhaus mitmachen. Es steckte keine Gemeinheit dahinter, einfach Training, aber Lust versprühte sie wenig.

Strigel setzte sich neben sie, die Kapuze über dem Kopf.

»Assistent ?«, fragte er, der Ton schwäbelnd, väterlich.

»Ich lerne, die Fahne zu halten.«

Strigel: »Lernst endlich, was Abseits ist.« » Klar.«

»Du machst das gut. Du kannst zufrieden sein. Wir können beide zufrieden sein.«

»Ein Mal 15:30, am Samstag. Dann bin ich zufrieden.«

Samstag, 15:30 Uhr bedeutet: Bundesliga.

Strigel: »Ein Mal macht dich auch nicht

glücklich.«

»Stimmt, mehr als ein Mal.«

»Und dann? Wenn du nach einem Jahr wieder rausfliegst? Sind zwanzig Jahre kaputt. Zwanzig Jahre Reputation.«

Strigel erzählte eine Geschichte von einem Schiedsrichter, der ein schlechtes Spiel machte, HSV gegen Kopenhagen, ein Guter, aber davon habe er sich nie erholt. Steinhaus nickte. Sie kennt solche Geschichten. Babak Rafati. Oder Urs Meier, dessen Telefon nummer die Revolverpresse druckte und der unter Polizeischutz lebte.

Ja, sie hat in zwanzig Jahren etwas aufgebaut. Sie zählt zu Deutschlands bekanntesten Schiedsrichtern. Ist eine geachtete Frau, sie wählt den Bundespräsidenten, zusammen mit Joachim Löw. Steigt sie nun auf und scheitert, geht sie nicht als die Pionierin, sondern als Gescheiterte in die Fußballgeschichte ein. Schlimmer noch, sie würde zum Stammtischbeweis, dass eine Frau im Männerfußball nichts verloren hat: Wenn es selbst die Weltbeste nicht schafft …

»15:30, am Samstag«, sagte sie.

Strigel: »Warten wir ab. Vielleicht gibt es ja bald Zweite Liga um 15:30 Uhr.« Er ging.

Sie auch: Weitertrainieren.

DONNERSTAG, 18. MAI, STEINHAUS IST IN LÜDENSCHEID, die jährliche ärztliche Untersuchung des DFB. Die Ärztin checkt sie, Steinhaus ihre Nachrichten. Seit Stunden tagt die Kommission. Wer kommt in die Bundesliga? Ja, was machen wir mit Bibiana Steinhaus? Die so herausragend Spiel und Spieler lenkt. Aber die in ihrer Entscheidungsqualität nur guter Durchschnitt ist, Fehler macht wie in München oder Düsseldorf. Diese haben sie sich noch mal angeschaut. Ja, war schon knifflig, man muss Verständnis haben. Und nein, Fitness ist nicht alles. Und ja, ihre Erfahrung ist ein Plus. Überhaupt, Männer: Jetzt oder nie!

Um 16 Uhr dann der Anruf! Erst Lutz Michael Fröhlich, dann Reinhard Grindel, der DFB-Präsident: Ja!

Sie machen es… tatsächlich… Bundesliga… habe blaue Flecken …vom Kneifen – die Worte springen nur so aus dem Telefonhörer. Überraschte Freude. Zu oft stand Bibiana Steinhaus am Ende traurig da, diesmal hatte sie sich verboten, daran zu glauben.

Howard? Ist in den USA.

Feiern? »Ich habe am Wochenende ein Spiel.« Zwickau gegen Duisburg, Dritte Liga. Ja, und dann Cardiff, Frauenendspiel der Champions League. Und dann drei Wochen Urlaub, Ruhe, bevor das Abenteuer beginnt.

Hat sie Ängste? Strigel’sche Sorgen? »Ich fühle keine Angst«, sagt Steinhaus, die Stimme regelt sich runter, wird klar und bestimmt. »Ich kenne das Risiko. Es ist mir voll bewusst. Ich hatte genug Zeit, mich damit auseinanderzusetzen.« Zehn lange Jahre.

Nach Schätzungen der Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers werden KI-Technologien bis 2030 das weltweite Bruttosozialprodukt um 14 Prozent steigern, das entspricht mehr als 15 Billionen Dollar und damit vier Bruttosozialprodukten der Bundesrepublik. Wenn ein prominenter Technologe wie Kurzweil verkündet, KI sei nicht nur der Beginn eines neuen Maschinenzeitalters, sondern gar ein evolutionärer Schritt in der Geschichte des Planeten, ist der Beifall garantiert.

Kurzweils Bild vom digitalen Neocortex ist brillant. Die Entwicklung jenes Teils der Großhirnrinde, der unter anderem Sprache, Wahrnehmung und räumliches Vorstellungsvermögen steuert, war das bisher wichtigste Ereignis in der Geschichte des irdischen Lebens und der Beginn des Weges von der Kröte zu Goethe und Einstein. Der Neocortex ermöglichte den Säugetieren Wahrnehmungsformen, Lern- und Erkenntnisprozesse, die aus Reflexen durchdachte Handlungen machten. Denkt man die digitale Entwicklung weiter, wird die Vereinigung von natürlicher mit künstlicher Intelligenz also das zweitwichtigste Ereignis der Evolution sein.

Hätten wir vor zwei Millionen Jahren das Volumen unserer Schädel immer weiter vergrößert, wäre irgendwann die Geburt nicht mehr möglich gewesen, weil der Schädel nicht mehr durch den Geburtskanal gepasst hätte.

Geht es nach Ray Kurzweil, sogar das wichtigste. Er lehnt sich an diesem Nachmittag auf der Rednerbü hne zufrieden in seinem Polsterstuhl zurück, als er das erläutert. „In den 2030er-Jahren werden wir uns mit der intelligenten Technologie vereinen, die wir erschaffen“, sagt er im Ton eines Wissenschaftlers, der belegte Tatsache referiert. „Vor zwei Millionen Jahren bekamen wir den Neocortex und haben ihn an die Spitze der Hierarchie unseres Hirns gesetzt. Ähnlich wie schon vor zwei Millionen Jahren, werden wir diesen zusätzlichen Neocortex an die Spitze der Hierarchie setzen.“ Allerdings sei es dieses Mal kein einmaliger Vorgang. „Hätten wir vor zwei Millionen Jahren das Volumen unserer Schädel immer weiter vergrößert, wäre irgendwann die Geburt nicht mehr möglich gewesen, weil der Schädel nicht mehr durch den Geburtskanal gepasst hätte.“

Doch die Kraft der Cloud sei nicht auf einen begrenzten Raum angewiesen. Derzeit verdoppele sie ihre Kraft jedes Jahr. „Wir werden unendliche Ausdehnungsmöglichkeiten unseres Hirns haben. Und genauso, wie wir vor zwei Millionen Jahren neue Ausdrucksformen gefunden haben wie die Sprache und die Musik, werden wir neue Ausdrucksformen schaffen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.“

Erfolg bei der Erschaffung effektiver künstlicher Intelligenz könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation werden. Oder das schlimmste. Wir wissen es einfach nicht. Deswegen können wir auch nicht sagen, ob uns künstliche Intelligenz letztlich helfen wird, ob sie uns ignoriert, ob sie uns kaltstellt oder zerstört.

Wie aufgeladen die Debatte geführt wird, zeigt das Beispiel Stephen Hawking. Der Physiker wurde falsch zitiert. Die Vernichtung der Menschheit durch KI hatte er nur als eines von vielen Szenarien aufgezählt. Das vollständige Zitat lautete: „Erfolg bei der Erschaffung effektiver künstlicher Intelligenz könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation werden. Oder das schlimmste. Wir wissen es einfach nicht. Deswegen können wir auch nicht sagen, ob uns künstliche Intelligenz letztlich helfen wird, ob sie uns ignoriert, ob sie uns kaltstellt oder zerstört.“

Aber eine Hawking-Apokalypse passt nun mal in einen öffentlichen Diskurs, der vor allem von Angst getrieben ist. Für die es ja gute Gründe gibt. Die ersten Begegnungen der Menschheit mit den ersten künstlichen Intelligenzen in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren gingen jedenfalls nicht besonders gut aus. Denn in den Industrienationen ist künstliche Intelligenz längst fester Bestandteil des Alltags.    Sie heißt nur nicht so.

KI im deutschen Alltag bedeutet im Jahr 2018 zum Beispiel: E-Mail-Programme wie Outlook, Suchmaschinen wie Google, soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, Entertainmentportale wie Youtube und Spotify, Shoppingseiten, Navigationssysteme, Sprachsteuerungen wie Siri und Alexa, Videospiele wie Fortnite. Das sind allesamt künstliche Intelligenzen, weil sie zum einen Entscheidungsprozesse automatisieren und sich zum anderen durch maschinelle Lernvorgänge ständig selbst verbessern. Als Nutzer bemerkt man das nicht, als Betreiber sehr wohl.

Fast alle diese Anwendungen haben derzeit einen schlechten Ruf. Es hilft auch nicht, dass die Extreme der Debatte religiöse Untertöne haben. Sowohl das Ende der Menschheit als auch der Erweckungsmoment der Singularity erinnern an die Offenbarung des Johannes, das letzte, prophetische Buch des Neuen Testaments, in dem die Apokalypse der Welt ein Ende bereitet und die Entrückung die wahrhaft Gläubigen errettet. Es ist also an der Zeit herauszufinden, was künstliche Intelligenz heute schon kann. Dann fällt die Abschätzung, was sie einmal können wird, leichter.

Auf der Suche nach einem exemplarischen Beispiel für den Stand der Dinge landet man erstaunlicherweise im Vatikan. „In codice ratio“ heißt das KI-Projekt dort, ein lateinischer Begriff für Codesystem. Kein punkt null im Namen und keine Anspielung auf Popkultur. In codice ratio soll das Geheimarchiv des Vatikan erfassen. Das ist im großen Querbau am Cortile del Belvedere untergebracht, ein paar Hundert Meter vom Haupteingang der Porta Sant’Anna entfernt. Statt nach links auf den Petersplatz, biegt man nach rechts ab. Ganz so geheim, wie der offizielle Titel „Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum“ suggeriert, ist das Archiv nicht. Wissenschaftler und ausgesuchte Reisegruppen dürfen die düsteren Säle und fensterlosen Lagerräume durchaus besuchen, in denen sämtliche Dokumente, Akten und Korrespondenzen des Heiligen Stuhls seit dem achten Jahrhundert gelagert sind.

Das Problem der Archivierung dort ist, dass Dokumente vom achten Jahrhundert bis zur Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks 700 Jahre später digital nicht erfassbar sind. Handschriften sind nicht maschinenlesbar. Und weil das Mittelalter nicht nur eine Ära der handschriftlichen Bürokratie war, sondern die Zeit, in der der Heilige Stuhl die einflussreichste Weltmacht war, fehlt der modernen Geschichtsschreibung der Einblick in ein großes Stück Weltgeschichte.

Das Labor des „In codice ratio“-Projektes ist eine gute halbe Autostunde von den prä chtigen Hallen des Vatikan entfernt im zweiten Stock eines Backsteinbaus auf dem Campus der Universita degli Studi Roma Tre untergebracht. Labor klingt dabei etwas zu elegant für das nüchterne Arbeitszimmer des Professors Paolo Merialdo, mit einem handelsüblichen PC auf dem Schreibtisch und einem Bücherregal, das etwas verwaist wirkt mit seinen unsortierten Lehrbüchern und Aktenordnern.

Merialdos Team versammelt sich um einen leeren Tisch, an dem sie ihre Konferenzen abhalten, was nicht so oft vorkommt, weil sie meist über Rechner kommunizieren. Die beiden Doktorandinnen Elena Nieddu und Donatella Firmanai arbeiten mit Merialdo an der Programmierung, dazu kommt Serena Ammirati, eine Paläografin, also eine Wissenschaftlerin, die ausgestorbene Schriften erforscht. Wenn die vier auf einen einreden, wenn sie beschreiben, wie sie ihren Rechnern Schritt für Schritt etwas Neues beibringen, merkt man erst, was für ein störrisches Biest so eine künstliche Intelligenz ist.

Die Aufgabe ist gewaltig. Nicht nur, weil das Geheimarchiv 83 Regalkilometer Akten, Dokumente und Bü cher umfasst. Briefe von Michelangelo finden sich darin genauso wie die Bannbulle, mit der Papst Leo X. Martin Luther aufforderte, seine 95 Thesen zurückzunehmen, oder der Brief, in dem Heinrich VIII. den Papst Clemens VII. um die Annullierung seiner Ehe bat.

In die Tiefen des Archivs steigen sie allerdings nur selten. Für die erste Phase ihres Projektes haben sie sich ein paar Seiten aus den Akten des 11. Jahrhunderts ins Institut geholt. Was da drinsteht, ist nicht so wichtig. Nein, der wichtigste Grund, den Serena Ammirati mit großer Geduld erklärt, ist die schon sehr einheitliche Schrift des 11. Jahrhunderts, die den Forschern heute die Arbeit sehr viel leichter macht. Meist geht es in den Dokumenten um Geld. Der Papst war so etwas wie der Kredithai seiner Tage. Da gab es viel zu verhandeln.

Buchstabe für Buchstabe muss die Software nun erst einmal lernen, die Schrift zu erkennen, sie zu Wörtern und dann zu Sätzen zusammenzufügen. Wie das geht, zeigt Elena Nieddu mit ein paar Grafiken, die sie für Laien vorbereitet hat.

Die Software unterteilt jedes Wort in eine Reihe von Fenstern, die halbe und Drittelbuchstaben erfasst, die für die Software zu Puzzleteilen werden. Um zum Beispiel das lateinische Wort „sententie” (Maximen) zu erkennen, durchläuft die KI über fü nfzehntausend Arbeitsschritte. Je mehr Beispiele man in so eine künstliche Intelligenz hineinfüttert, desto besser kann sie lernen. In codice ratio ist ein System aus sogenannten neuronalen Netzen, das mit statistischen Sprachmodellen arbeitet. Das heißt, die Software kann Schrift und Sprache erkennen, aber nicht verstehen.

Um den Datensatz rasch zu erweitern, arbeiten 600 italienische Gymnasiasten für das Team. Die sehen auf einer Webseite Buchstaben aus den mittelalterlichen Dokumenten. Als Menschen können sie die mit einem Blick entziffern. Sie bekommen also immer einen Buchstaben gezeigt, tragen ihn dann in moderner Schrift in ein Formular ein, das diese Information dem Datensatz hinzufügt. Eine Art Nachhilfe für künstliche Intelligenz.

Eine sehr mühsame Nachhilfe. Die italienischen Schüler haben für In codice ratio schon fünf Millionen Zeichen für die Forscher identifiziert. Das ist für eine künstliche Intelligenz nicht viel. Nach den strengen Parametern der KI-Forschung im amerikanischen Westen wäre In codice ratio immer noch eine sogenannte „narrow artificial intelligence“, eine schwache, weil sehr eng definierte KI, die eine oder nur wenige Aufgaben lösen kann, in diesem Falle eine Schrift entziffern.  

Der große Traum der KI-Forschung aber ist die AGI, das ist die Abkürzung für „Artificial General Intelligence“, also für künstliche allgemeine Intelligenz. Das wäre der Punkt, an dem eine KI ihre Fähigkeiten für eine so breite Palette von Problemen anwenden könnte wie der Mensch, der ja schon im Grundschulalter sein Hirn beispielsweise für Lesen, Schreiben, Rechnen, soziale Interaktionen wie Verhandlungen und emotionale Ausdrucksformen nutzen kann, um nur ein paar elementare Aufgabengebiete zu nennen.

Nach dem Erreichen der AGI käme die Singularity, das Maschinenbewusstsein und damit entweder die Beflügelung des Menschen zum Superwesen oder seine Vernichtung. Kann man dem allen ganz beruhigt entgegenblicken, wenn man den Forschern in Rom dabei zugesehen hat, wie sie ihrer künstlichen Intelligenz Strichlein für Strichlein das Lesen beibringen?

Es gibt ja dann auch noch die Naturgesetze, die der Entwicklung Grenzen setzen.

Man kann sich kurz mal auf die Argumentation der sogenannten Transhumanisten einlassen. Zu denen gehören vor allem Kognitionswissenschaftler, Ingenieure, aber auch ein paar Philosophen, die finden, dass der Mensch an sich ein sehr unvollkommenes Wesen ist, der seine Vollkommenheit nur mit Technologie erlangen wird. Das Gehirn bezeichnen Transhumanisten zum Beispiel als „wetware“, was eine Anspielung auf das Wort Software ist, denn ein menschliches Hirn ist ja erst einmal sehr nass und matschig, wenn man es aus seinem Betriebsgehäuse, also dem Schädel, entfernt.

Im Vergleich zu Computern und Supercomputern ist ein Hirn außerordentlich leistungsfähig. Eine Großhirnrinde verfügt zum Beispiel über 25 Milliarden Neuronen, die über die Synapsen um die 100 Billionen Verbindungen bilden können. Sämtliche Leitungen für die Übertragung der elektrischen Impulse, die in der Biologie Nerven genannt werden, ergäben im Hirn eines Zwanzigjährigen zusammengerechnet 160 000 Kilometer. Die Übertragungsgeschwindigkeit dieser Nervenleitungen liegt bei bis zu 460 Stundenkilometern.

Ein Versuch, eine solche Rechenleistung zu simulieren, fand vor acht Jahren in einem Forschungslabor von IBM statt. Mit enormem Aufwand brachten es die Wissenschaftler auf die Leistung eines Katzenhirns (allerdings ohne Software, die diese Leistung hätte nutzen kö nnen). Sie fanden aber auch heraus, dass Energieverbrauch zu den lästigen Naturgesetzen gehört, die KI ausbremsen. Ein Menschenhirn verbraucht zum Beispiel nur rund 20 Watt Energie, das käme in den USA auf eine Stromrechnung von weniger als 20 Dollar im Jahr. Ein Supercomputer, der ähnliches leisten könnte, würde dagegen auf eine Stromrechnung von einer Milliarde Dollar pro Jahr hinauslaufen.

Man kann die Gewissheit, dass Computer die menschliche Intelligenz nie erlangen werden, sogar noch mit der ganzen Wucht der Philosophie untermauern. Denn selbst wenn Rechner mithilfe der großen Datenmengen der „Big Data“-Speichermöglichkeiten, den Methoden des Maschinenlernens und den enormen Rechnergeschwindigkeiten Denkprozesse imitieren können, die bisher den Menschen vorbehalten waren, selbst wenn sich KI und Robotik zu selbständig agierenden Maschinen vereinen, eines werden Rechner nie erlangen: Bewusstsein. Philosophen wie Kenichiro Mogi oder Thomas Nagel können das sehr überzeugend erklären.

Es mag zum Beispiel sein, dass Maschinen so etwas wie Bewusstsein simulieren können, wenn sie mittels Sensoren ihre Umwelt erfassen, analysieren und daraus Rückschlüsse ziehen, wie sie selbst in diesem Umfeld zu agieren haben. Selbstfahrende Autos und hoch entwickelte Roboter müssen eine solche Außenwahrnehmung produzieren, um zu funktionieren. Doch eines fehlt ihnen trotzdem, und das sind die Erfahrungswerte und Emotionen, also die Grundlagen des menschlichen Bewusstseins. KI wird nie mehr sein, als die Karaokemaschine menschlicher Intelligenz.

Es sind sowieso nicht KIs mit einem vierstelligen IQ und einem wie immer gearteten Bewusstsein, die der Menschheit Sorgen machen sollte. Es sind KIs mit dem eng gefassten Aufgabenbereich, die extreme Wirkungskraft erreichen, um diese eine Aufgabe zu erfüllen.

Die großen Web-Portale sind perfekte Beispiele für die eigentliche Gefahr der KI. Und genau die sind eben unsere ersten Begegnungen mit künstlicher Intelligenz, auch wenn das niemand so empfindet, weil künstliche Intelligenz nicht mehr als solche bezeichnet wird, sobald sie Teil des Alltags geworden ist.

Es ist eine extreme Konsequenz oder auch Gnadenlosigkeit, nach denen Rechenprogramme verfahren. Die wird im Silicon Valley gerne mal als Reinform der Objektivität verkauft. Weil ein Computer sich weder von Emotionen, noch vom psychischen Ballast eines menschlichen Lebens leiten lässt.

Was dabei herauskommt ist allerdings oft das Gegenteil. Die Algorithmen von Facebook und Twitter hatten zum Beispiel klare, durchaus gut gemeinte Aufgaben. Sie sollten so viele Menschen wie möglich miteinander vernetzen. Damit die Firmen damit auch Geld damit verdienen konnten, sollten sie nebenbei dafür sorgen, dass sie möglichst viel Zeit auf diesen Plattformen verbringen und dabei Werbung sehen.

Um ein Maximum an Nutzerzeit herauszuschlagen, förderten die künstlichen Intelligenzen dann all jene Emotionen, die Menschen am längsten am Bildschirm halten. Das sind Angst, Hass und Häme.

Die Folgen waren allerdings weit schwerer, als man sich das während den euphorischen Aufbruchszeiten des World Wide Web hätte ausmalen können. Die Erosion des politischen Diskurses und des Wahrheitsbegriffes zum Beispiel. In Europa und den USA führte das zum Aufstieg der Populisten. In vielen südlichen Ländern brachte das Autokraten wie Brasiliens Staatspräsidenten Jair Bolsonaro an die Macht. In Ländern wie Myanmar, Indien und Mexiko peitschten Algorithmen Lynch-Meuten bis zum Mord und Massenmord. Weil künstliche Intelligenzen eben kein Bewusstsein haben, keine Kontexte erkennen und deswegen lediglich stumpf verstärken, was in Gesellschaften schon vorhanden ist.

Deswegen ist es gar nicht so wichtig, ob künstliche Intelligenz dem menschlichen Denken je nahekommen oder es sogar übertreffen wird. Was die Gesellschaft wirklich verändern wird, sind die noch ungeahnten Auswirkungen, wenn die Digitalisierung mit KI in ihre nächste Phase tritt.

Der Schritt über diese nächste Schwelle wird gerade in Austin, Texas, vorbereitet. Der Designer Mark Rolston gehört zu dem Team, das höherer künstlicher Intelligenz den Weg zur Massenanwendung ebnet. Dafür arbeitet er gemeinsam mit der KI-Firma Cognitivescale des ehemaligen IBM Watson-Chefs Manoj Saxena am nächsten Wendepunkt der künstlichen Intelligenz.

Das Programm, das sie seit dem Frühjahr anbieten, heißt Cortex 5. Da ist er wieder, der Cortex. Ähnlich wie der Mantel des menschlichen Gehirns, soll Rolstons Programm die Sinneswahrnehmungen, Informationen und Funktionen einer künstlichen Intelligenz verbinden. Das eigentlich Revolutionäre ist jedoch das Baukastenprinzip, nach dem diese digitale Hirnrinde verschiedene Fähigkeiten einer künstlichen Intelligenz miteinander verbindet. „Man muss sich das wie einen Legobaukasten vorstellen“, sagt er. „Wir liefern die Grundbausteine, die jeder nach Belieben zusammensetzen kann.“

Es ist verblüffend simpel, wie man sich mithilfe des Programms eine künstliche Intelligenz bauen kann. Gemeinsam mit seinem Designer Matthew Santone führt er das vor. Zunächst ruft er die Benutzeroberfläche auf, eine elegante schwarze Fläche, an deren Rand die Steuerelemente sind. Über eine Liste, die ausklappt, sucht man sich die einzelnen „Skills“ der KI aus, die Funktionsmodule. Die muss man in Zukunft nicht mehr eigens programmieren, sondern kann sie aus der Cloud abrufen. Santone nimmt ein Element, das der Nutzer über eine Kamera klassifizieren kann, ein Element, das Kleider erkennt und auswählt, sowie einen sogenannten sentiment analyzer, eine Art digitales Stimmungsbarometer. Es dauert nur wenige Minuten, bis diese Einheiten auf der Oberfläche durch grüne Linien verbunden sind. Das sind die sogenannten Synapsen, Verbindungselemente, nicht unähnlich den Synapsen des Gehirns, die die Elemente so miteinander verbinden, dass sie in jeder beliebigen Kombination miteinander arbeiten können. Was dabei herauskommt, ist die simple Version einer KI, die beispielsweise eine Verkaufswebseite nutzen könnte, um Kleidung nach dem Geschmack ihrer Kunden herauszusuchen.

Seit die Plattform in Betrieb ist, können Nutzer nicht nur die „skills“ auswählen, die Cortex 5 anbieten will, sondern auch eigene solche KI-Programmelemente hochladen, die dann wiederum andere Nutzer gratis oder gegen Gebühr anwenden können. So wird eine riesige Bibliothek solcher Skills entstehen. Wie ernst sie es meinen, zeigt die Liste der Systeme, die über Cortex 5 laufen. Es sind die kü nstlichen Intelligenzen von IBM, Microsoft und der Stanford University. Große Firmen wie Versicherungen, medizinische Betriebe und Banken sollen die ersten Kunden sein.

Mit unserer Plattform wird ein Teenager im Keller seiner Eltern eine künstliche Intelligenz konstruieren können. Wir werden so etwas wie das Musikprogramm Garage Band für die Welt der künstlichen Intelligenz sein.

Das eigentliche Ziel klingt simpel und mächtig. „Mit unserer Plattform“, sagt Cortex 5-Designer Rolston, „wird ein Teenager im Keller seiner Eltern eine künstliche Intelligenz konstruieren können. Wir werden so etwas wie das Musikprogramm Garage Band für die Welt der künstlichen Intelligenz sein.“ Das wäre die Demokratisierung einer Technologie, die im Winter 2018 noch großen Digitalkonzernen und Forschungslaboren vorbehalten ist. Was das für die Zukunft der Digitalisierung bedeutet, kann man noch nicht abschätzen.

Doch auch wenn man die Science-Fiction-Fantasien aus der KI-Debatte guten Gewissens ausblenden kann. Man sollte sogar gleich mal mit den unzähligen KI-Filmbildern im kollektiven Unterbewusstsein beginnen, mit dem Bordcomputer Hal und den Blade Runnern, mit dem Terminator und der Matrix. Die Wahrscheinlichkeit, dass künstliche Intelligenz der Schlüssel zum Übermenschen mit vierstelligem IQ sein könnte, ist nun mal genauso unrealistisch wie die Angst vor der KI-Apokalypse und die Pläne für die Rettung der Menschheit auf den Mars. Die Auswirkungen der nä chsten Phase der Digitalisierung zu unterschätzen wäre allerdings ähnlich verantwortungslos, wie den Klimawandel zu ignorieren. Und es wird ähnlich schwierig sein, die Öffentlichkeit für die Chancen und Gefahren zu sensibilisieren, denn KI durchdringt sämtliche Aspekte des Lebens und des Alltags im Gletschertempo. Man kann die Veränderungen messen, spüren tut sie aber noch niemand.

Es ist während überhitzter Debatten immer hilfreich, sich mit einem vorsichtigen Optimisten zu treffen. Mit John Cohn zum Beispiel. Der arbeitet bei IBM als „chief scientist“ für das Watson IOT (Internet of Things) Center in München. John Cohn gibt sich gerne als verrückter Professor mit zauseligem weißem Bart, wirrem Haarkranz, euphorischem Augenleuchten und dem inoffiziellen Titel als „ chief agitator“. Wenn man im Norden von München mit dem Glasfahrstuhl hoch über die Stadt geschossen ist, wenn man am Eingang dem niedlichen Roboter Pepper die Hand geschüttelt hat, an den Ingenieuren und Sachbearbeitern vorbeigegangen ist, die klischeegerecht fast alle Männer in sandfarbenen Hosen und hellblauen Hemden sind, trifft man dann doch auf einen sehr nachdenklichen Intellektuellen.

Cohn bremst auch gleich. Watson ist zwar jene künstliche Intelligenz, die im Februar 2011 erstmals Schlagzeilen machte, als sie bei der amerikanischen Fernseh-Quizshow „Jeopardy“ zwei menschliche Gegner besiegte. Im Juni 2018 verwies Watson dann den israelischen Debattiermeister Dan Zafrir in die Schranken. Im selben Monat wurde auch eine Watson-KI in einer medizinballgroßen, weißen Kugel namens Cimon ins All geschossen, um dem deutschen Astronauten Alexander Gerst bei seiner Arbeit auf der internationalen Raumstation ISS zu helfen.

John Cohn arbeitet aber gerade gar nicht an einer Weltsensation, sondern an einer künstlichen Intelligenz, die erkennen kann, wie viele Menschen sich gerade in einem Raum oder in einem Gebäude befinden, ohne die Individuen zu identifizieren. Was wichtig ist, wenn man ein Gebäude digital managen und gleichzeitig die Privatsphäre seiner Bewohner oder Besucher wahren möchte.

Wollte man John Cohn auf einer Skala von Elon Musk (Apokalypse) bis Ray Kurzweil (Erweckungsmoment) verorten, fände man ihn im oberen Drittel der Kurzweil-Achse. „Ich glaube durchaus, dass wir Intelligenzen schaffen werden, die in Kombination mit menschlicher Intelligenz größer sind, als die unsere“, sagt er. „Aber ich bin auch Optimist. Wenn wir frühzeitig über etwaige Probleme nachdenken, die entsprechenden Regularien finden und sie auch umsetzen, können wir auch verhindern, dass wir eine schädliche Superintelligenz schaffen.“

Die Debatte über KI verfolgt er schon lange. Es ist aber vor allem die Praxis der KI-Entwicklung, die ihn so optimistisch macht. „Alle, die sich mit KI beschäftigen, beginnen nun, dieselben Grundstrukturen zu verwenden. So kann man Sicherheitsmechanismen einbauen, auf die jede weitere KI aufbauen wird. Man wird nie verhindern können, dass destruktive Kräfte solche Sicherheitsmechanismen umgehen. Aber wenn man darüber nachdenkt, dass derzeit fast alle praktischen KIs als eine Art kombiniertes Open-Source-Projekt entstehen, ist das wirklich phänomenal. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Weil alle das Allgemeinwohl in solchen Sicherheitsmechanismen erkennen. Und weil es für den hypothetischen Fall, dass es zu so etwas wie einer wild gewordenen KI kommt, die ihre Aufgabe um jeden Preis erfüllen will, in der Infrastruktur auch einen Wachhund gibt, der ihn wieder einfängt.“

Was bleibt im Winter 2018? Die Hoffnung, dass die Debatte über künstliche Intelligenz an einem Punkt beginnt, an dem Grundlagen geschaffen werden. Wenn höher entwickelte KIs in diesen Monaten aus den Laboren der Forschungsinstitute und Konzerne in den Alltag einfließen, schreiben die Entwickler und Ingenieure so etwas wie die DNS der zukü nftigen digitalen Gesellschaft. Genügend Ansätze gibt es.   Die wichtigsten Forscher, Wissenschaftler und Unternehmer dieser Welt trafen sich zum Beispiel im vergangenen Jahr im kalifornischen Asilomar, um einen Katalog ethischer Richtlinien zu verfassen. Diese „Asilomar Guidelines for AI“, diese Richtlinien für KI, sind nun so etwas wie ein philosophischer Quellcode für eine Technologie, die selbst die, die sie erschaffen haben, noch gar nicht einschätzen können. Erste Konzerne ziehen nach. Die deutsche Telekom hat ethische Richtlinien veröffentlicht. Amazon, Facebook, Google, IBM und Microsoft haben eine „Partnership on AI“ gegründet, der inzwischen gut siebzig Organisationen aus aller Welt angehören.

Die erste Phase der Digitalisierung mit ihren niedrigschwelligen KIs hat die Menschheit kalt erwischt. Der gegenwärtige „Teclash“, die wütenden Reaktionen gegen digitale Technologie, sind eine berechtigte Folge. Die Digitalisierung hat ganze Industrien zerstört, Kulturen ausgehöhlt, den öffentlichen Diskurs zersetzt und Millionen zu Mediensüchtigen gemacht. Das sind Fehler, aus denen die digitale Gesellschaft an der Schwelle zum nächsten Technologieschub lernen kann.

Sieht so aus, als täte sie genau das.