Bis zum letzten Tropfen

von Maris Hubschmid

Alle, die hier landen, sind austherapiert. 46 Männer, schwere Alkoholiker, leben im Herrenwohnheim in Kreuzberg und dürfen trinken, so viel sie wollen. Ihr Leben lang haben sie sich und andere enttäuscht. Nun formuliert die Gesellschaft keine Erwartungen mehr.
Es ist ein wunderbarer Ort.

Ganz oben, den Gang runter links, wohnt Martin. Martin fand sich eines Tages mit Schläuchen und Kanülen im Körper in einem Neuköllner Krankenhausbett wieder. Passanten hatten die 112 gewählt, weil er bewusstlos in einer Hofdurchfahrt lag. Der Befund: schwerste Unterkühlung, Lungenentzündung. „Beinah wär' ich hops gegangen“, sagt Martin. Die Ärzte waren schon drauf und dran, die Maschinen abzustellen. Was aus seiner damaligen Sicht nicht weiter schlimm gewesen wäre.

 

Mockup des nominierten Textes von Maris Hubschmid von der Tagesspiegel-Website
Der Tagesspiegel / BDZV

An seinem Bett stand eine Frau und sprach von einer Krankenhausrechnung von mehr als 20 000 Euro. Da er die offensichtlich nicht habe, werde ihm künftig eine Betreuerin an die Seite gestellt und das sei sie. Direkt, vertrauenswürdig. „Die Frau ist ne echte Kapazität!“, sagt Martin. Die hat ihn vermittelt, und jetzt gehört ihm hier das Premiumzimmer, 22,56 Quadratmeter mit Sonnenterrasse und freier Sicht bis zur Gneisenaustraße und dem Swingerclub Zwanglos III.

Vier Jahre, fünf Monate. So lange sei er hier, sagt Martin, er weiß das genau. Alles super, Zimmer mit eigenem Schlüssel, Frühstücksbuffet und Mittagessen nach Wahl, 24 Stunden jemand da, das ist nützlich.

Ganz unten, im Erdgeschoss, wohnen die, denen man schon Beine hat abnehmen müssen, die nicht mehr laufen können. Oder ihr Stockwerk sonst nicht finden würden.

Sie nennen es Herrenwohnheim. Ein unauffälliger Zweckbau, fünfstöckig, blauweiße Fassade. So etwas wie das Haus in der Kreuzberger Nostitzstraße gibt es in Berlin kein zweites Mal. Hier leben 46 Männer, allesamt Alkoholiker, Obdachlose, ehe sie hierherkamen. Jeder zweite von ihnen ist ein Pflegefall. Viele überfordert die bloße Frage, wie viele Entzüge sie gemacht haben.

Die Männer, die hier landen, sind austherapiert, sagt der Heimleiter. Keiner setzt mehr Hoffnungen in sie. Weil man ihnen die Kraft abspricht, gegen ihr Verlangen anzukämpfen, dürfen sie tun, wonach sie am meisten dürsten: Trinken. „Suchtakzeptierendes Modellprojekt“, heißt das in der Broschüre. „Betreutes Bechern“, nennt das mancher im Kiez.

Ihr Leben lang haben diese Männer andere Menschen enttäuscht – oder sich selbst. Hier schließlich, am Ende eines langen Weges, formuliert die Gesellschaft keine Erwartungen mehr an sie. Das Herrenwohnheim ist ein wunderbarer Ort.

Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.

Martin ist dünn und 62 Jahre alt, die fahle Haut lässt ihn älter wirken. An sonnigen Tagen wie heute trägt er Schirmmütze über den langen offenen Haaren, an wolkenverhangenen eine schwarze Strickmütze. Martin ist kein Mann, der große Worte verliert. Aber er gewährt ihnen gerne Unterschlupf. An dunkelblauen Schranktüren kleben Weisheiten, die er aus Zeitungen ausgeschnitten hat: „Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.“ Hölderlin. „Das Lachen lernt der Mensch später als das Weinen und verlernt es früher.“ Charles Tschopp. Jetzt zitiert Martin Einstein: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ Genau so sehe er das. Und zwar hier. Dabei könnte Martin mühelos woanders sein. Als einziger.

Wer hierher kommt, wird zuallererst gebadet oder geduscht. Sämtliche Kleidungsstücke, die er am Leib hat, wandern in den Müll. Viele Neuankömmlinge haben offene Wunden, in die manchmal schon die Strümpfe eingewachsen sind. Dann wird gewaschen, gesalbt, verbunden. Als vor 19 Monaten ein Mann vor der Tür steht, frisch rasiert, Hemd und Jackett, mit blank geputzten Stiefeln, fragt die Frau, die ihn begrüßt, ob er sich als Sozialarbeiter bewerben wolle. „Ich würde gerne hier einziehen“, sagt Till.

Wir sitzen alle im selben Boot hier: Wir haben im Leben ein bisschen verkackt.

Till ist eine Ausnahmeerscheinung, sagen die Mitarbeiter des Heims, dem Till merkt man die Straße nicht an. Gepflegt wie der ist, adrett, höflich. Nur wenigen fällt das leichte Zittern auf, das Till schon am Morgen hat. Der unsichere Gang. Die Augen, die manchmal verwässert sind.

Seit Till 18 ist, hat er immer eine eigene Wohnung gehabt. Charlottenburg. Er hat die Freiheit früh gewollt: Niemandem Rechenschaft schulden, einfach machen können. Darum war – er stand in Anglistik, Geschichte und Politik bereits kurz vor der Magisterarbeit – das Jobangebot auch so verlockend. Messe- und Ausstellungsbau, 3000 Mark sofort aufs Konto, nicht mehr ständig knapsen müssen. Letztlich, sagt er rückblickend, „hätte ich lieber mein Studium abschließen sollen“. Er habe, ihm sei das klar, Chancen nicht genutzt. „Wir sitzen alle im selben Boot hier: Wir haben im Leben ein bisschen verkackt.“

Till ist 51 und „Spiegeltrinker“. Er bemüht sich, seinen Wohlfühl-Pegel zu halten. Morgens drei Bier, das reicht ihm erstmal. Nur manchmal rutscht es ihm weg. „Wenn ich dicht bin, lege ich mich gleich ins Bett.“ So wie Silvester. Till, haben sie gerufen, die Jungs aus seiner Etage, an seine Tür geklopft, ist gleich zwölf, Mensch, komm mal runter. Unten im Gemeinschaftsraum war High Life, Häppchen, Luftschlangen, Tischfeuerwerk. Er aber ist stumpf ins neue Jahr hineingedämmert, allein, keine Raketen, nichts.

Ist das nicht Luxus? Ruhe, sagt Till. Auf Platte darfst du nicht allein sein, allein Platte zu machen, ist gefährlich. Leute, die nichts haben, bestehlen andere, die auch nichts haben, sie rauben dir Tabak, Trinken, Essen, den vollen Sack Pfandflaschen, bestimmt 15 Euro. Wenn du pennst, nehmen sie dir deine Schuhe weg. Als er noch unerfahren war, hat Till sich einmal in den Aufgang zu Karstadt am Hermannplatz gelegt. Da kam eine Frau, rüttelte ihn an der Schulter: Schlaf hier nicht ein, Mann, die ziehen dich ab! Recht hat sie behalten.

Man wird so schnell verprügelt. Dort drei gelangweilte Russen, „kriegst du halt auf die Fresse“, da ein paar Türken, die dir den Weg versperren: „Bist du schwul? Du hast rote Haare!“ „Pass mal auf, du Suppenkasper“, hat er noch zurückgeschnauzt, als sie ihm schon in den Hintern traten, man hat ja seinen Stolz, ergibt sich nicht wortlos. Nee, sagt Till, schüttet sich nochmal Wodka mit Apfelsaft nach, obwohl es erst Vormittag ist, weil aber diese Unterhaltung eine dieser besonderen Situationen darstellt, in denen er nervlich angespannt ist. „Du musst schon zu zweit sein, mit einem Passmann oder einer Passfrau“. Mitstreitern, die aufpassen. „Oder einem Hund.“

Till betont, dass er da draußen, was nicht heiße unter Brücken, nee, ganz solide mit festem Wohnsitz, viele Freundinnen und Freunde hat. Bei denen er auch übernachten durfte, vorübergehend, als die Wohnung futsch war. Es ging nur nicht vorüber.

Der jüngste der Männer hier ist 40. Der älteste 77. So unterschiedlich sie sind, haben sie alle auf ähnliche Weise verkackt: „Job verloren, Kind gestorben, Frau gestorben, aus der Bahn“, fasst der Heimleiter, Ulrich Davids, zusammen. Dem Alkohol verfallen. Die Miete nicht bezahlt.

An einem Korkbrett an der Wand im hellblau gestrichenen Eingangsbereich hängt ein Schild: „Aus Gründen der allgemeinen Hausruhe ist in der Zeit von 6 Uhr bis 10 Uhr kein Alkoholkonsum im Vorraum sowie Tagesraum gestattet.“ Trinkt man eben auf dem Zimmer. Es ist zwanzig nach zehn, alle haben Bierflaschen in der Hand.

„Wärst du nicht mal wieder reif für eine Entgiftung?“, fragt der Heimleiter gelegentlich – das Herrenwohnheim ist ein Haus, in dem man duzt. Der Leiter ist der Uli. Wer einwilligt, kommt zehn Tage ins nahe Urbanklinikum oder ins Krankenhaus Neukölln. Auch Till überlegt, ob er das mal wieder machen sollte: als lebensverlängernde Maßnahme. Dem Körper eine Pause gönnen.

Till war auch mal vier Jahre trocken. Oder anderthalb. Wie oft hat ihn die Mutter mit ihrem kleinen Citroën zur Entgiftung gefahren? Er weiß noch, wie sie, viel früher, ein Klümpchen Haschisch unter seinem Bett fand. „Das ist mir lieber, wenn du mal nen Joint rauchst, als wenn du anfängst zu saufen“, hat sie gesagt.

Schon Tills Vater war ein Trinker. Aber den kannte er kaum. Der Stiefvater goss sich immer freitags einen auf die Lampe, wenn Lohntag war. Mach nicht den Fehler deiner Väter, hat die Mutter gemahnt, und an ihn geglaubt, als er es schon selber nicht mehr tat. Wie stolz sie war, als er die IHK-Prüfung zum Übersetzer bestand, nur zwei von 14 aus der Gruppe! Kam ihm entgegen, die Freiberuflichkeit, einerseits. Kein Chef, der tadelt: Sie haben ja 'ne Fahne! Kaum Kontrolle, viel Flexibilität.

Er hatte die besten Vorsätze. Die hat das Pils weggespült. Aufträge verloren, Miete nicht gezahlt. „Du hast doch die Ausbildung“, hat die Mutter wieder und wieder angefangen, bis er geschrien hat, dass er sowieso noch nie zu dem Dreck gestanden habe, den er da übersetzen soll, Wirtschaftsschreiben, Kapitalistensprech. Ich kann die Vorwürfe nicht mehr ertragen, hat er gebrüllt, hau ab! Sie hat geweint. Von da an war Funkstille.

All die Frauen, die es gut mit ihm meinten, haben irgendwann gesagt: Der Alkohol oder ich. Und Till, der sich nicht vorschreiben lassen wollte, wie er zu leben hat, hat sich jedes Mal, wie er meinte, für die Freiheit entschieden.

Till ist auch deswegen eine Ausnahme, weil er offen ausspricht: Ich bin krank. Der Alkohol gehört zu meinem Leben, sagt er. Darum hat Till, als er im Spätsommer 2016 einmal wieder in einer Suppenküche im Wedding saß und eine Sozialarbeiterin an ihren Tisch trat mit der Frage: „Ist einer von Ihnen Alkoholiker?“, anders als seine Passmänner, die sofort verneinten, ja gesagt. Ja, ich bin süchtig. „Da habe ich vielleicht was für Sie“, hat die gesagt, und so hat die Freiheit Till hierhergeführt.

Natürlich, sagt Till, lasse ihn nicht kalt, was der Alkohol mit Menschen macht. Wie er Leben zerstört, Karrieren, Familien. Zwei im Wohnheim haben das Korsakow-Syndrom, da ist der Alkohol bereits im Hirn. Die kriegen gar nicht mehr mit, dass man ihnen alkoholfreies Bier hinstellt. „Manche scheißen auf alles“, sagt Till und meint es wörtlich. Wenn ein Gast das Klo auf dem Gang benutzen will, geht Till schnell vor, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Eine Zeit lang hat einer hier gelebt, der hatte verlernt, die Toilette zu benutzen, immer in die Ecke gekotet. Das war ein Maler, dessen Bilder hingen sogar im Bundestag.

Ein anderer war früher IT-Manager bei Siemens. Alkoholismus gibt es in allen Altersgruppen und allen gesellschaftlichen Schichten. Manche verbergen ihn erstaunlich gut. Andere übersehen ihn erstaunlich lange. Wann wird aus geselligem Trinken eine zerstörerische Krankheit? Lange hat Till geglaubt, dass er den Alkohol im Griff hat. Spät hat er erkannt, dass es umgekehrt ist.

Wie er lachte, als die Freundin ihn zur Therapie anmelden wollte. Der zeig ich's, ab sofort trinke ich nix, sagte er sich, nachdem sie gegangen war. Zwei Nächte lag er wach. In der dritten rieselte plötzlich Schnee von der Decke, hörte er Stimmen. Als sich der Boden zu wellen begann, lief Till davon. Fiel. Kam irgendwann, wacklig, mit blutigen Knien, bei seiner Mutter an. Die fuhr ihn ins Jüdische Krankenhaus. „Meine erste Entgiftung.“

Die Ärzte rieten: Suchen Sie sich einen neuen Freundeskreis, starten Sie neu! Er hätte ihnen die Freude gern gemacht. Ein Dreivierteljahr riss sich Till zusammen. Dass er sich, als die Langeweile wieder allzu groß wurde, einen Sechserträger holte: Reine Trotzreaktion, sagt er. Das schlechte Gewissen kam erst mit dem Kater. Danach ging er dazu über, sich Ziele zu setzen. Nicht mehr als vier Bier am Tag. Nicht mehr als sechs.

Und wenn es zwanzig sind – im Heim hält ihm das keiner vor. Der Till hat es sich nett gemacht im dritten Stock, sagt der Heimleiter, so richtig mit Teppich und Salzkristalllampe, Grünlilien und Dekoschälchen auf dem Fensterbrett. Auf einem schmalen Wandregal thront Disneys Elsa, die Eiskönigin. Die hat er zwei kleinen Mädchen abgekauft, sagt er, die Flohmarkt gemacht haben auf dem Bürgersteig. Sie wollten 50 Cent dafür haben, er gab einen Euro.

„Das habe ich vermisst. Meine Dinge um mich.“ Als Obdachloser hast du ewig die Sporttasche auf der Schulter, um elf Uhr raus aus den Notunterkünften, nicht vor 18 Uhr zurückkommen, Schlange stehen. Als er hier einzog, hat er zuerst den Plattenspieler abgeholt, den er bei Freunden untergestellt hatte, die Freunde genug waren, ihn nicht fortzugeben. Till hat Platten vertickt, wann immer er Geld brauchte, und das war oft. Zum Glück nicht alle. Tills Mutter war Schallplatten-Verkäuferin im Kadewe. Mit Jimi Hendrix, Neil Young, den Sex Pistols übertönt er das Husten, die ständige Hintergrundmusik des Heims.

Von ganz oben, von seinem Balkon aus, blickt Martin auf das Dach der Tankstelle, bei der sich diejenigen mit Alkohol eindecken, die es nicht mehr bis Edeka oder Netto in die Bergmannstraße schaffen. Das ist die Mehrheit. Der Kosmos der Herren im Herrenwohnheim ist klein geworden. Die Tankstelle markiert den Horizont. Es gibt eine Regel: Die Mitarbeiter dulden den Alkohol, aber sie kaufen ihn nicht. Es wird auch nicht gern gesehen, dass jemand Sprit für andere kauft.

Die Tankstelle grenzt nahezu direkt an das Wohnheim, ein Segen für die Bewohner und für den Tankstellenbesitzer. Einmal waren der Inhaber, zwei Angestellte und ein Azubi bei ihnen zu Gast. Der Heimleiter Ulrich Davids hat sie herumgeführt und gebeten, nichts mehr zu verkaufen, wenn einer offenkundig richtig, richtig fertig ist. So, dass er womöglich den Heimweg nicht schafft. Da achten die jetzt drauf, die Leute in den roten Poloshirts, mehr kann man nicht verlangen.

Es ist nur: Weil der Stoff an der Tankstelle teuer ist, wird es bei vielen zum Monatsende knapp. Es ist Unsinn, sein Bier an der Tanke zu kaufen, sagt Till, schwer genug, von Hartz IV eine Sucht zu finanzieren. Till geht täglich einkaufen, das beschäftigt, dann fängt er nicht gleich morgens an zu trinken. Die drei Bier zählen nicht. Ich kann ganz gut kochen, sagt er, jedes Stockwerk hat eine eigene Kochnische. Wenn ihm danach ist, macht er Grünkohl mit Pinkel und Kartoffeln. Sein übernächster Nachbar, der Uwe, macht manchmal Chili con Carne, da kriegen dann alle was ab. Tür auf, Uwe rein: „Hab‘ ich meinen Namen gehört?“ – „Lauschst du etwa, Uwe?“ – „Oha, Damenbesuch!“ Kichernd verschwindet Uwe wieder im Flur, seine Schritte entfernen sich hörbar auf dem Linoleum.

Letzte Woche hat sich Till ein bisschen Extravaganz gegönnt. Ein Sonderangebot in der Bergmannstraße. Teller Sushi für unter sechs Euro. „Businesslunch“, sagt er.

Das Hartz-IV-Geld kommt auf das Konto des Heims, und die Bewohner können entscheiden, ob sie es sich in einem Schwung auszahlen lassen oder in täglichen Raten. Um 13 Uhr, nach dem Mittagessen, ist Taschengeldausgabe. Zum Monatsbeginn, und so einer ist gerade, heißt es: hoch die Tassen! Am Stammtisch gegenüber der automatischen Eingangstür und dem Fahrstuhl, Polsterbank unterm Po, Aschenbecher neben sich, prosten sie einander zu. Reißen Witze über Angela Merkel, den FC Bayern – oder erzählen einander, wie man hier gelandet ist. Hat sich ja jeder mal was anderes ausgemalt, sagt Till. Gleichwohl: Im zweiten Stock hat einer eine Karte an seine Tür gehängt, „Komm, wir leben einfach. Egal wohin“. Das gefällt ihnen gut.

Zum Monatsende wird die Stimmung schnell aggressiv. „Der Typ ist ein Arsch, der schuldet mir Geld“, schon wird rumgeschubst. Auch Till wollte bei der ein oder anderen Gelegenheit schon der ein oder andere die Fresse polieren. Wenn es richtig Krawall gibt, rufen die Sozialarbeiter zum Plenum, Stuhlkreis im Gemeinschaftsraum. Früher oder später, sagt Till, hat sich noch fast jeder entschuldigt. „Ich hatte nix mehr zu trinken.“ Oder: „Ich war besoffen.“ Ich weiß, sagt Till.

Echte Prügeleien gibt es selten. Häufiger ist, dass der zuerst Geschubste direkt liegen bleibt. Wenn es vor Tills Tür poltert, guckt er, wie er helfen kann. In glimpflichen Fällen trägt er mit dem Nachtdienst den Bernd ins Bett. In schlimmen alarmiert er den Notarzt.

Das Wunderbare an diesem Ort ist auch, dass hier jeder sieben Leben hat. Viele wären längst tot, wenn sie statt vor Tills Tür vor einer Parkbank zusammengebrochen wären. So wie damals Martin.

Vor 17 Monaten hatte Martin wieder so ein Aufwacherlebnis der besonderen Art. Er war zusammengeklappt, einfach so, und wie er – schon wieder im Krankenhaus – zu sich kam, hatte er null Promille und keine nennenswerten Entzugserscheinungen. Da hat er das nochmal als Signal für einen Neuanfang begriffen, und seit bald anderthalb Jahren, ganz aus eigenem Antrieb, in der Geschichte des Heims hat es so was noch nie gegeben, hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.

„Unser Star.“ So sprechen die Sozialarbeiter inzwischen anerkennend von ihm. Er raucht noch, 30 Zigaretten am Tag, schätzt er, aber seine Augen, wie klar die geworden sind! Wenn wieder alle einander zuprosten, trinkt Martin Filterkaffee oder Wasser. Er sitzt jetzt seltener am Stammtisch. „Das Gelaber nervt mich, Schwachsinn aus allen Richtungen.“ Früher sei ihm das nur nicht so aufgefallen.

Nach seiner Nahtoderfahrung habe er sich an vieles nicht mehr erinnern können. 30 Jahre seines Lebens: „Einfach weg“, sagt er. Auf jeden Fall war da, er formuliert es mal so, eine Riesenpleite mit einer Beziehung. Der Schwiegervater hatte noch gewarnt: Heirate die nicht, die kommt nach ihrer Mutter! Krittelte ständig an Martin herum. „Trink nicht so viel“, gehörte auch dazu. Martin hätte ihr den Gefallen gern getan. „Bis Madame durchdrehte, selber Alkohol, Drogen; und so'n Penner heiraten wollte“. Martin zog zu seinen Eltern, Sonnenallee, gegenüber dem Arbeitsamt. Aber Jobs hatten die für ihn, der mal Elektromechaniker gelernt hatte, da schon nicht mehr.

Die Mutter ging zu Reemtsma in die Zigarettenfabrik in Wilmersdorf, zuhause hockte der Vater, der nach einem Unfall auf dem Bau Frührentner war.

Eines sonnigen Nachmittags, Schirmmützen-Wetter, saß Martin zeitunglesend am Hermannplatz, als eine Frau einen Kinderwagen vorbeischob, das Kind im Wagen auf ihn zeigte und „Papa!“ rief. Die Mutter, etwas peinlich berührt, schob schnell weiter, Martin nahm die Verfolgung auf. Es begann seine glücklichste Zeit, doch, so viel weiß er noch.

Sei man nicht aber eigentlich hier, um über das Heim zu reden? Drei Jahre war er obdachlos. Was ihm hier ein bisschen fehle, sagt Martin, sind die Tiere. Wenn du zitternd auf einer Parkbank aufwachst und ein Eichhörnchen randaliert über dir im Baum. Wenn du feststellst, dass du gar nicht mehr privat in deinem Schlafsack bist, weil ein vorwitziger Spatz Krümel pickt.

Haustiere darf er keine halten. Ansonsten möchte er echt nicht meckern. Jede Woche Spielenachmittag, die Ärzte kommen zur Blutabnahme ins Haus. Freundliche Frauen helfen auch bei der Hygiene, wenn es nötig ist. „Die Diana ist 'ne Feine“, sagt er, die putzt hier und hat immer Zeit für einen Plausch, da, die Brünette auf dem Bild, das im Regal über dem Buch mit dem Titel Faszination Oper und dem Ratgeber lehnt, 1000 Tipps, 'ne extra Mark zu verdienen, das ist die Diana. Und die andere, blonde daneben? Das ist die gesetzliche Betreuerin, die Kapazität, auf dieser Aufnahme verkleidet als Teufel. Sonst gibt es keine Fotos im Raum.

Wir haben uns unser Leben lang gut verstanden.

Die Kleine, die sich Martin als Papa ausgesucht hatte, ging, als sie 18 war, zum Studium nach Hannover. Was sie heute macht, weiß Martin nicht. Die zugehörige Mutter starb 2005, 13 Jahre ist das her. Ihm ist, als sei es gestern gewesen. Bloß erinnern kann er sich kaum. Frau gestorben, Miete nicht gezahlt. Zog Martin eben abermals zu seiner Mutter. „Wir haben uns unser Leben lang gut verstanden“, sagt er. 2010 starb auch sie.

„Ich habe einen Sohn“, sagt Martin plötzlich. Als sei es eine Anekdote von vielen. Mit der durchgeknallten Madame, jawoll. Aber das habe sich irgendwie verlaufen. Martin weiß nicht mehr, wie.

Ab und zu, wenn im Büro des Heimleiters das Telefon klingelt, fragt eine Stimme zögerlich: Wohnt mein Vater bei Ihnen? Es kommt vor, dass der Leiter jemandem mitteilen kann: „Du hast ein Enkelkind.“ An solchen Tagen passiert es, dass im Kreuzberger Herrenwohnheim eine hochprozentige Träne fließt.

Einigen Anrufern reicht die Gewissheit: Der Vater ist versorgt. Anderen reicht die Gewissheit: Der Vater ist ein Penner und Säufer. Sie rufen nie wieder an. Nur ein kleiner Teil nähert sich vorsichtig an. Mithin scheuen die Angehörigen den letzten Schritt über die Schwelle, weil sie dem Vater nicht verzeihen können, dass er sie oder die Mutter geschlagen und verlassen hat. Oder sie müssen feststellen, dass nicht mehr viel Austausch möglich ist. Bei einigen wenigen kommt regelmäßig ein Verwandter und macht das Zimmer.

Dann lugt plötzlich das Draußen ins Heim. „Vorsicht, wir essen Kinder!“, ruft Tills Nachbar Bernd, als eines Nachmittags eine Frau ihre zweijährige Tochter mitbringt. Und schiebt, selber erschrocken, schnell hinterher: „Nur ein Scherz.“ Er geht in die Knie, bläst die Backen auf. Das Kind lacht. „Hab ja selber welche“, sagt Bernd.

Die Männer auf Tills Etage heißen Uwe, Ralf, Rolf, Manfred, Volkmar, Volker und Bernd. Die Männer auf der Etage von Martin heißen Siegfried, Christoph, Manfred, Günter, Herbert und Frank. Auch ein paar Osteuropäer leben hier, Pawel, Zygfryd, Yogendran. Und im Erdgeschoss gibt es einen Ghanaer. Neulich hat einer „Halt's Maul, du Neger“ geschimpft. Da war Till zur Stelle. Lass doch den Mann in Ruhe, du kannst dir das nicht leisten. Bei Rassismus ist der Heimleiter konsequent.

Auch ein Türke wohnt jetzt hier. In anderen Kulturkreisen, sagt Ulrich Davids, sei es noch selbstverständlicher, dass man Angehörige zuhause pflegt. Doch dieses Verständnis kippe. Parallel wächst da draußen in Berlin die Zahl jener, die gar keine Familie in Deutschland haben.

Tills Mutter stand ein halbes Jahr, nachdem es eskaliert war, unangekündigt mit einer Sonnenblume vor der Tür, wollte sich versöhnen. Till war froh – und wusste zugleich: Im nächsten Moment ist es damit vorbei. Du bist ja schon wieder betrunken, Till, sagte sie, nachdem sie ihn gemustert und die Luft eingezogen hatte. Till sagte nichts. Da schritt sie an ihm vorbei, stellte ihm die Sonnenblume in sein halbleeres Bierglas und ging wieder. Drei Monate später erreichte ihn die Nachricht von ihrem Tod. Herzinfarkt.

Eine junge Frau, lachend, dunkler Bubikopf, auf einem geblümten Bettbezug liegend, die sich an ein Baby schmiegt. Der Säugling: die Finger zu Fäustchen geballt, ängstlich in die Kamera guckend. Till. Frühling, Sommer, Herbst, Winter auf der Platte hat Till diese Schwarzweißfotografie bei sich getragen. Und gehütet.

Wenn ein Neuer von den Sozialarbeitern an dieser Adresse gemeldet wird, dauert es nicht lange, ehe die ersten Briefe eintreffen. Unterhaltsforderungen, Inkassoschreiben, Anzeigen. Till hat Schulden bei Vattenfall, Gasag, „ein bisschen Scheiße hab ich auch gebaut. Aber nie geschnorrt“. Das habe was mit Selbstachtung zu tun.

Im Sommer feiern sie hier ihr 20. Jubiläum. Doch so lange ist kein Bewohner dabei. 77, sagt der Heimleiter, sei schon ein verdammt hohes Alter für einen Alkoholiker.

Wenn jemand gestorben ist, ist die Stimmung im Haus eine andere. Auf einem Tisch im Gemeinschaftsraum stehen ein Foto, eine Kerze, ein Kondolenzbuch. Der kleine Günter ist tot, rufen die Männer einander zu, „wir brauchen einen neuen kleinen Günter!“ Doch ehe es zur Beisetzung kommt, vergehen oft Monate. Sozialbestattung – da nimmt das Beerdigungsinstitut die Einäscherung dann vor, wenn es passt. Das Amt überweist 285 Euro für eine Trauerfeier, den Rest gibt die Kirchengemeinde dazu, die das Heim unterhält. Für einen Musiker, einen kleinen Kranz, ein Blech Kuchen.

Jeder, der sich dann noch an den Verstorbenen erinnert und mitwill, bekommt eine Blume in die Hand. Früher haben sie öfter gemeinsam Ausflüge gemacht, rein in den Bus und ins Grüne. Mit der aktuellen Mannschaft, sagt der Heimleiter, funktioniere das nicht. Der Friedhof der evangelischen Heilig-Kreuz-Passion ist der einzige Ort, an dem sie sich regelmäßig treffen. Und ihre gemeinsame Perspektive.

Doch nicht alle schlafen hier ihren letzten Rausch aus. Manche verschwinden einfach. In der Wache Friesenstraße sind die Beamten schon daran gewöhnt, dass der Heimleiter Vermisstenanzeigen aufgibt. Wenn jemand sein Zimmer unabgesprochen länger als drei Nächte nicht nutzt, wird es weggegeben. Die Warteliste ist lang.

Seitdem Martin nicht mehr säuft, macht er mehr sein Ding. Neulich ist er mal bis Ku'damm gefahren, wo er in den Siebzigern mit seiner Mutter essen war, Lehniner Platz, und bis Breitscheidplatz zurückgelaufen. In der Bahn sprang ihn eine Reklame für das „Sealife“ an, aber da stand keine Adresse, ein Plakat ohne Adresse! Es dauerte, die herauszufinden, aber gelohnt hat sich das. Bald will er mal ins richtige Aquarium.

Alkoholiker bleibt man ein Leben lang.

Müsste der Heimleiter Martin nicht bitten, zu gehen, strenggenommen? Wo der nun kein Alkoholproblem mehr hat? Das möchte der Heimleiter nicht, er mag Martin und weiß, wie schnell ein Alkoholiker rückfällig wird. „Alkoholiker bleibt man ein Leben lang.“

Till schenkt sich ein letztes Mal an diesem Vormittag Wodka nach, in drei Minuten ist es zwölf. Ich will, sagt er, hier nicht meinen Lebensabend verbringen. Das Heim sei bloß eine Übergangslösung. Wieder eine eigene Wohnung zu haben, so eine richtige, vielleicht mit einer schicken Freundin, davon träumt er. Er hat deshalb gerade einen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit beantragt, mal gucken, was daraus wird. Vielleicht der Beginn von etwas Großem, vielleicht nix. Das Leben ist ein Spiel, sagt Till, Mensch, ärgere dich nicht.

Oder Monopoly. Vor einer Weile hat Martin eine Ereigniskarte gezogen, ausnahmsweise im richtigen Leben. Martin hat geerbt. Eine große Summe, näher soll sie nicht beziffert werden. Die „Kapazität“ hat angerufen und den Heimleiter informiert, dass jetzt kein Hartz IV mehr gezahlt werde. Martin könnte sich nun eine eigene Wohnung leisten. Vielleicht gar kaufen. Ich bin finanziell unabhängig, sagt Martin dazu nur. Das sei angenehm. Sollten die Mitbewohner aber besser nicht wissen: Da stünden die ja ewig auf der Matte.

Er ist, 62, geschieden, verwitwet, jetzt also ein nüchterner, wohlhabender Mann in einem Heim für obdachlose Alkoholiker.

Und nun? Was nun? Nichts, sagt Martin, werde ihn je dazu bewegen, dieses Heim zu verlassen. „Verhungern werd' ich nicht. Erfrieren muss ich nicht. Was will ich mehr?“

Wieso sich dem Erfolgsdruck der Welt aussetzen? Der Gefahr, zu scheitern?

Und das Elend um ihn herum? „Elend?“, fragt Martin. Draußen habe er mehr Elend gesehen. Nein, zum ersten Mal in seinem Leben, sagt Martin, fühle er sich angekommen.