Der Corman-Drosten-Test war eine Meisterleistung

von Joachim Budde und Marcus Anhäuser

In Rekordzeit entwickelten Forscherïnnen der Berliner Charité den ersten Corona-PCR-Test. Ihretwegen verlief die Pandemie in Deutschland anfangs harmloser als in anderen Ländern. Dennoch wurden sie angefeindet.

Das SARS-Coronavirus 2 unter dem Elektronenmikroskop
National Institute for Allergies and Infectious Diseases

Am Silvesterabend des Jahres 2019 sitzt Victor Corman im Labor des Instituts für Virologie der Charité Berlin. Er hat einen eiligen Auftrag: Ein deutscher Patient ist in einem Land im Mittleren Osten schwer erkrankt und muss auf der Intensivstation behandelt werden: Verdacht auf eine Infektion mit dem MERS-Virus, einem Coronavirus, das Dromedare auf den Menschen übertragen. Sie kann tödlich verlaufen. Ein Krankentransport hat den Patienten nach Deutschland gebracht, ein Taxi fährt seine Probe nun ins Labor der Charité. Das Institut ist die zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Coronaviren in Deutschland, das sogenannte Konsiliarlabor für Coronaviren.

Victor Corman ist der stellvertretende Leiter des Labors. Sein Chef ist Christian Drosten, inzwischen eine Art Virologen-Superstar. Corman und die anderen Mitarbeiterïnnen hingegen sind in der gesamten Pandemie kaum sichtbar gewesen. Dabei haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass die Corona-Pandemie in Deutschland deutlich milder verlief als in anderen Ländern. Nicht zuletzt, weil Victor Corman federführend den ersten PCR-Test auf das Severe acute respiratory syndrome coronavirus 2, kurz SARS-CoV-2 entwickelt hat. 

Während sich der Rest der Republik mit „Dinner for One“ die Zeit bis zum Jahreswechsel verkürzt, startet Corman eine PCR in einer seiner Maschinen, um herauszufinden, ob sich der Patient tatsächlich mit dem MERS-Virus angesteckt hat. PCR ist die Abkürzung für Polymerase chain reaction, zu Deutsch Polymerase Kettenreaktion, eines der wichtigsten und zuverlässigsten Verfahren, um eine Infektion mit Viren nachzuweisen.

Silvester 2019: Wuhan meldet 27 Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung

Die PCR braucht eine Weile. Corman liest in der Zwischenzeit eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, die ihm ein Kollege per E-Mail geschickt hat: Darin wird berichtet, dass die chinesischen Gesundheitsbehörden in der Millionenstadt Wuhan in Zentralchina 27 Fälle einer viralen Lungenentzündung untersuchen. In den Sozialen Medien sind Gerüchte aufgekommen, das gefährliche SARS-Virus könnte zurückgekehrt sein. 

Das SARS-Coronavirus-1 hatte in den Jahren 2002 und 2003 von China aus in einer kleinen Pandemie Menschen in vielen Ländern infiziert – knapp 800 von ihnen starben. In Wuhan beobachten die Ärztïnnen dieselben Symptome wie bei Infektionen damals. „Hast Du das gesehen? Was ist denn da los?“, fragt der Kollege den Coronavirus-Experten Victor Corman in seiner Mail. Corman begibt sich auf die Suche nach weiteren Informationen in seinen Kanälen. Er durchforstet etwa das Virologen-Forum Virological.org und den Mailing-Dienst PROMed-Mail der International Society for Infectious Diseases.

Dass es sich bei den Wuhan-Fällen vielleicht nur um eine Grippe handelt, dafür spricht wenig und ist in der Virologen-Gerüchteküche praktisch kein Thema. Schließlich lassen sich Influenzaviren gut nachweisen. SARS-1 liegt indes im Bereich des Möglichen. Auch wenn dieses Virus seit 2004 wie vom Erdboden verschluckt ist und keine Fälle mehr aufgetreten sind.

Wie kann man ein neuartiges Virus bestimmen?

„Dann habe ich das gemacht, was ich schon länger machen wollte”, erinnert sich Victor Corman, als wir den Corona-Experten im September 2020 besuchen: „Ich habe meine Datenbanken aktualisiert, meine Virus-Sequenzen sortiert und meinen SARS-Coronavirus-Ordner auf dem Rechner auf den neuesten Stand gebracht.“ Er spricht schnell und mit kräftiger Stimme. „Seit Beginn meiner Zeit in der Virologie verbringe ich immer wieder ein paar Stunden vor dem Computer und gucke mir Coronavirusgenome an.“

Während Corman die Virus-Sequenzen ordnet, fragt er sich: „Wie sähe der neue Erreger aus, wenn es ein Coronavirus wäre? Nach welchen Sequenzen seines Genoms müsste ein PCR-Test suchen? “ 

„Die PCR“, also die Polymerase-Kettenreaktion, ist ein Standardverfahren, ohne das die Biomedizin heute gar nicht denkbar ist. Schon Anfang der 1980er-Jahre hat sie der US-Biochemiker und spätere Nobelpreisträger Karry Mullis entwickelt, darum gibt es weltweit extrem viel Erfahrung damit. Die Technik ist so genau, dass sie schon lange auch bei Vaterschaftstests, in der forensischen Kriminalistik oder bei der Ahnenforschung zum Einsatz kommt. Blutspendedienste untersuchen damit ihre Konserven auf Krankheitserreger für Hepatitis oder Aids. 

Kochrezepte für Erreger-Tests

Kurz gesagt vervielfältigt ein PCR-Test in einer Reihe von Reaktionsprozessen bestimmte, vorher definierte kleinste Mengen von Erbmaterial in einer Probe so lange, bis sie nachweisbar sind (Wie ein PCR-Test genau funktioniert, haben wir hier beschrieben). Für jeden Erreger, für jede Anwendung müssen Forscherïnnen ein jeweils individuelles Kochrezept entwickeln, ein sogenanntes PCR-Testprotokoll.

Auf Cormans Rechner liegt eine ganze Sammlung solcher Rezepte oder PCR-Testprotokolle, zum Beispiel für das MERS- und das SARS-1-Virus. Diese Testprotokolle haben Ende 2019 schon einige Jahre auf dem Buckel. Vielleicht sind die SARS-1-Viren inzwischen mutiert? Dann funktioniert der alte PCR-Test zum Nachweis der Viren womöglich nicht mehr. Corman müsste seine Testprotokolle anpassen.

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Die E-Mail des Kollegen ist nicht ohne Grund ausgerechnet bei Victor Corman gelandet. Es wird sich in Deutschland wohl kaum jemand finden, der sich so gut mit dem Erbgut der Coronaviren auskennt wie er – außer sein Chef Christian Drosten. Die beiden lernten sich 2008 an der Universität Bonn kennen. Drosten hatte im Jahr zuvor das neu gegründete Institut für Virologie übernommen. Corman beendete gerade sein Medizinstudium und suchte nach einem Thema für seine Doktorarbeit. Er wollte über zoonotische Erreger schreiben, also über Viren und Bakterien, die den Sprung vom Tier auf den Menschen schaffen. „Seitdem bin ich der Virologie treu geblieben“, sagt Corman. Als Christian Drosten 2017 nach Berlin an die Charité ging, folgte Corman seinem Chef. Auch nach zwölf Jahren spricht er voller Begeisterung von Viren und ihren Erbanlagen.

Laut einer Statistik der Analysefirma Clarivate aus dem Jahr 2018 gehören Christian Drosten und Victor Corman zu dem einen Prozent der Forscherïnnen ihres Fachgebiets, deren Studien Kollegïnnen auf der ganzen Welt am häufigsten zitieren. Bereits Drostens früheres Labor in Bonn war das Konsiliarlabor für Coronaviren, also die zentrale Anlauf- und Beratungsstelle in Deutschland, wenn es um Erforschung, Diagnostik und Behandlung dieser Virengruppe geht. 

Das neue Corona-Virus überrascht selbst den Experten

Christian Drosten und Victor Corman haben ihre Expertise bereits mehrfach unter Beweis gestellt: 2003 entdeckte Drosten das erste SARS-Virus und entwickelte ein PCR-Test-Protokoll dafür. 2012 wiederholte das Team – diesmal unter Cormans Federführung – diese Leistung für das MERS-Coronavirus. Und so war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis das Drosten-Labor und sein Leiter Victor Corman wieder mit einem Coronavirus konfrontiert werden würden, für das die Welt einen Test benötigt. 

Dass es so schnell passieren sollte, überraschte Victor Corman selbst. Noch im August 2019, wenige Monate vor Beginn der Pandemie, handelte er in einem Übersichtsartikel über Coronaviren das Thema SARS-Viren in wenigen Sätzen ab. Der Virologe wagte in dem Artikel zwar eine Vorhersage: „Da SARS-CoV im Tierreservoir weiterhin zirkuliert, sind […] Mensch-zu-Mensch-Übertragungsketten nach einem erneuten Übergang von SARS-CoV aus Tieren auf den Menschen möglich.“ Er hielt dies indes für eher unwahrscheinlich, „da eine deutlich erhöhte Aufmerksamkeit hinsichtlich Infektionserregern in Fledermäusen und Wildkatzen besteht, insbesondere im Zusammenhang mit dem Handel für den menschlichen Konsum.“ 

So kann man sich irren.

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In den ersten Tagen des Jahres 2020 verdichten sich Hinweise, dass hinter den rätselhaften Lungenentzündungen in Wuhan tatsächlich ein Coronavirus stecken könnte. Vielleicht kommt das tödliche SARS-Virus zurück? Diese Entwicklung macht Victor Corman nervös. „Natürlich wussten wir nicht, dass es ein Coronavirus ist. Aber es ist einfach Teil meines Arbeitsalltags, mir solche Daten anzuschauen und nach neuen Genominformationen zu suchen“, sagt er. Sein Team und er schlagen sich die Nächte um die Ohren, um die Abschnitte im Erbgut des Virus zu bestimmen, nach denen ein PCR-Test suchen soll. Corman will bereit sein. Das Problem: Er hat weder Zugriff auf Proben des Erregers noch kennt er dessen Erbgut

In der internationalen Datenbank für Sequenzdaten (GenBank) findet er 729 bereits bekannte SARS-artige Virus-Sequenzen und lädt sie auf seinen Computer herunter. Per Hand sortiert er Doubletten aus. Aus den verbliebenen 375 Sequenzen leitet er zehn Genabschnitte ab, mit denen er auch ein neues Coronavirus nachweisen könnte – es sind solche Bereiche im Erbgut der SARS-Viren, die im Laufe der Evolution praktisch gleich geblieben sind. An diesen Stellen sind Mutationen der Sequenz eher unwahrscheinlich. 

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Das SARS-Coronavirus-2

Ein Coronavirus ist ein sehr kleines Partikel mit einem Durchmesser von etwa 100 Nanometer. Wäre das SARS-Coronavirus-2 so groß wie ein Vorschulkind, also etwa ein Meter, dann wäre die menschliche Zelle, die es angreift, so hoch wie der Kölner Dom. Das winzige Virus besteht aus erstaunlich wenigen Proteinen und einem einzelnen Strang RNA, auf dem die Bauanleitung für seine Bausteine gespeichert ist. Die kugelige Hülle besteht aus Fetten, in denen sogenannte Envelope- und Membranproteine stecken, für die das Erbgut das E- und das M-Gen als Baupläne enthält. Außerdem ragen die Spike-Glykoproteine (S-Gen) aus der Membran hervor – jene Strukturen, mit denen der Erreger an eine Zelle andockt, um in sie einzudringen. Im Innern der Viruskugel sind die Erbanlagen in die Nucleocapsidproteine (N-Gen) verpackt. Das Ergbut enthält noch ein weiteres Gen, das für diese Geschichte wichtig ist: das Gen für die RNA-abhängige RNA-Polymerase (RdRp-Gen). Das ist ein Enzym, das für den Reproduktionszyklus des Virus unabdingbar ist.

Entert das Virus eine Zelle, programmiert es sie zur Virenfabrik um und lässt sie nach der Bauanleitung auf seiner RNA neue Viren herstellen. Wollen Virologen mit einem PCR-Test ein Virus sicher nachweisen, suchen sie in Proben von vermeintlich Infizierten nach den passenden RNA-Abschnitten des Virus-Genoms. 

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Victor Corman und sein Team arbeiten in den ersten beiden Januarwochen mit Hochdruck daran, möglichst schnell einen Nachweis für das neue Virus zu entwickeln.

Die entscheidende Information: Das erste Virengenom aus China

Am 10. Januar 2020 bekommen sie die entscheidende Information aus China: An diesem Tag präsentieren chinesische Wissenschaftlerïnnen aus einem Labor in Shanghai im Online-Virologen-Forum Virological.org – noch vor der Veröffentlichung auf dem zentralen wissenschaftlichen Server für genetische Sequenzen GenBank drei Tage später – die allererste Sequenz des Virus aus Wuhan. Es ist tatsächlich ein Coronavirus! Und es ähnelt sehr stark dem SARS-CoV-1-Virus. Relevante Genabschnitte sind bei den beiden SARS-Viren beinahe identisch. Deshalb tauft das International Committee on Taxonomy of Viruseses später auch SARS-CoV-2.

Damit hat Corman zwar immer noch kein echtes Virus, er kann nun aber immerhin sein Kochrezept für das PCR-Protokoll fertigstellen. Er muss sich entscheiden, nach welchen Sequenzen im Virusgenom er suchen will. Für diese RNA-Abschnitte baut er sogenannten Primer. Diese 18 bis 30 Buchstaben langen Nukleotidketten binden an die gesuchten Gensequenzen in einer Probe und markieren die Abschnitte, die vervielfältigt werden. Stimmen die Primer, funktioniert die PCR. Sind sie zu ungenau, übersieht der Test das Virus.

Der Berliner Virologe steht allerdings vor zwei fundamentalen Problemen: Echte Virusproben existieren zu diesem Zeitpunkt nur in China. Und niemand weiß, wie repräsentativ die erste Genomsequenz für das neue Coronavirus wirklich ist.

Denn die Erbinformation von Viren ein und derselben Art kann sich an einzelnen Stellen, bei einzelnen Buchstaben im Genom unterscheiden. Corman riskiert also, dass sein mühsam entwickelter PCR-Test Viren übersieht, weil die Primer nicht genau genug zu den Sequenzen der Virusvarianten passen, die tatsächlich in der Mehrzahl grassieren.

Um trotzdem möglichst viele solcher Varianten abzudecken und aufzuspüren, greift der Virologe zu einem klassischen Kniff im Primerdesign: Er lässt an bestimmten Stellen seiner Primer-Sequenzen offen, welcher konkrete Buchstabe dort stehen soll. Fachleute nennen solche PCR-Primer degenerierte Primer. Ausgesuchte Stellen in der Primer-Sequenz der PCR-Reagenzien dürfen sowohl mit der einen als auch mit der anderen Base besetzt sein. Das soll dem PCR-Test etwas mehr Spielraum verschaffen und die Chance erhöhen, die Viren auch dann noch nachzuweisen, wenn sie nicht haargenau passen. Das Vorgehen ist weltweit üblich, zumal in der Frühphase einer Erkrankungswelle mit einem neuen Erreger. 

Der Test mit echten Viren steht noch aus

Doch das alles ist erstmal nur Theorie. Bis zu diesem Zeitpunkt haben Corman und sein Team nur am Computer die Sequenzen verglichen und die Primer entworfen. Die Berliner Virologen müssen noch an echten Corona-Viren nachweisen, dass ihr PCR-Protokoll und die Primer sensitiv genug sind sind, also empfindlich genug, um auch bei geringsten Virusmengen zu funktionieren. 

Echte Viren haben sie aber noch nicht. Darum wählen sie einen Umweg und testen ihr PCR-Kochrezept mit Proben des alten SARS-1-Virus. Die Primer sollten auch bei dem seit Jahren verschwundenen Schwestervirus funktionieren, weil es sich nur wenig von dem neuen Virus unterscheidet. Dabei erweisen sich die Primer als sehr empfindlich. Der Test weist den Erreger selbst dann noch nach, wenn eine Probe gerade einmal fünf Sequenzschnipsel enthält. 

Um zu checken, ob die Testprozedur auch beim neuen Coronavirus funktioniert, greift Victor Corman wieder zu einem Kniff: Er baut das SARS-2-Erbgut Buchstabe für Buchstabe entsprechend der Publikation aus Wuhan nach. Diesen Virus-Nachbau weist sein PCR-Protokoll genausogut nach wie SARS-1.

Die erste Hürde ist genommen.

Nun müssen Corman und sein Team noch zeigen, dass das Protokoll keinen falschen Alarm schlägt, dass der Test also nicht auf die falschen Viren anschlägt. Dazu startet das Team ausgiebige Kontrollversuche: Die Virologen checken zig Viren, die ähnliche Symptome in den Atemwegen hervorrufen wie Corona: Dazu gehören die Grippeviren (Influenza) aber auch Erkältungserreger und ein Vielzahl weiterer Keime. Christian Drosten kann sie noch Ende September 2020 in Folge 58 im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ auswendig herunterrasseln.

Der Aufwand lohnt sich: Der Test löst keinen einzigen Fehlalarm aus. Damit liegt die Genauigkeit, also die sogenannte Spezifität, bei hundert Prozent – besser geht es nicht. Für die Diagnostik bedeutet das: Wenn der Test anschlägt, trägt die Person mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich das neue Virus in sich. 

Um die Zuverlässigkeit noch weiter zu erhöhen, sieht Cormans Protokoll einen zweistufigen Test vor. Stufe eins verwendet einen Primer für das E-Gen des Virus. Stufe zwei dient als Bestätigung und sucht nach einem Sequenzabschnitt auf dem RdRp-Gen.

Wissenschaft in Rekordzeit: Zwei Wochen von der Idee zum Testprotokoll

All das Entwickeln und Testen erledigen Victor Corman und sein Team in der Rekordzeit von weniger als zwei Wochen: Bereits am 13. Januar stellt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Cormans Protokoll als erste Anleitung für einen Nachweis des neuen Virus’ vor. Von der Veröffentlichung der Gensequenz aus China bis zur Publikation ihres Tests brauchen Corman und sein Team also gerade einmal drei Tage.

Jetzt helfen weitere Einrichtungen bei der Überprüfung: Ein Netz aus Laboren in den Niederlanden, Großbritannien, Belgien, Frankreich und Hong Kong überprüft zusammen mit dem Drosten-Corman-Labor die Spezifität mit weiteren Virusproben und bestätigen die hohe Treffergenauigkeit. Am Ende validieren sie das PCR-Protokoll der Charité an fast 200 Proben aus dem „European Virus Archive – Global“ (EVAg). 

Am 21. Januar 2020 reichen die Virologen-Teams ihre Studie beim Fachblatt Eurosurveillance ein, am 22. Januar nehmen die Redakteure sie an und veröffentlichen sie am 23. Januar. Auch das in Rekordzeit. Die Veröffentlichung gelingt so schnell, weil das Protokoll der Fachwelt in großen Teilen durch die WHO-Publikation zehn Tage zuvor schon bekannt ist. Angesichts der dringlichen Lage beschleunigt das Magazin den Prozess zwar, lässt den Artikel dennoch von zwei Experten unabhängig begutachten, was laut dem Magazin in diesem besonderen Fall innerhalb von 24 Stunden gelang. 

Zum Vergleich: Bei SARS-CoV-1 dauerte die Entwicklung des PCR-Tests sechs Monate. Bei Ausbrüchen mit anderen Erregern können Forscher die PCR meist erst dann präsentieren, wenn der Höhepunkt der Infektionswelle bereits vorüber ist. Diesmal gibt es den Test schon, bevor das Virus China so richtig verlassen hat.

Dass ausgerechnet das Corman-Drosten-Labor den Test entwickelt – und das so schnell –, überrascht Ian Mackay von der University of Queensland überhaupt nicht. Der australische Virologe und sein Team arbeiten zur selben Zeit ebenfalls an einem PCR-Test für das neuartige Virus: „[Cormans] Team hat seit langem eine Expertise für den Nachweis, die Charakterisierung und das Verständnis neuer Coronaviren.“ Corman und seine Mitarbeiterïnnen tun also genau das, was man von einem Konsiliarlabor für Coronaviren erwartet. 

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In diesen Januarwochen von 2020 halten weltweit die allermeisten politisch Verantwortlichen den Ausbruch mit dem neuen Coronavirus noch für ein chinesisches Problem. Virus-Expertïnnen hingegen sind längst hellhörig geworden – nicht nur in Berlin. 

Am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in der Ernst-von-Bergmann-Kaserne im Münchner Norden haben Oberstarzt Roman Wölfel und seine Mitarbeiterïnnen ein Auge darauf, welche Infektionen weltweit kursieren. Schließlich sind deutsche Soldatïnnen in vielen Ländern rund um den Globus stationiert und kommen immer wieder mit Erregern in Kontakt, die es in Deutschland nicht gibt: „Beim Ebola-Ausbruch 2013/2014, da waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Instituts mit dem ersten Team in Westafrika dabei“, sagt Wölfel. Die Münchner Forscherïnnen sind weltweit mit Kollegïnnen vernetzt, um möglichst schnell mitzubekommen, wenn sich etwas Neues anbahnt. Daher verfolgen sie die Entwicklungen in Wuhan genau.

Roman Wölfel ist auch einer der ersten, die das neue PCR-Test-Protokoll zu Gesicht bekommen – direkt von Christian Drosten per E-Mail. Die beiden kennen sich seit den 2000er-Jahren. Sie haben 2006/2007 in Hamburg am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin zusammengearbeitet. 

Offener Austausch statt Geheimniskrämerei

Dieser Austausch von Forschungsdaten und -ergebnissen auf dem kurzen Dienstweg ist alles andere als selbstverständlich. Wölfel sieht darin einen Akt wissenschaftlicher Selbstlosigkeit. 

Drosten habe dies beim ersten SARS- und beim MERS-Virus auch schon gemacht. „Normalerweise ist es ja so: Jede Forschungsgruppe versucht, tolle neue Erkenntnisse zu sammeln, diese möglichst wasserdicht und perfekt zu machen, um sie dann in einer begutachteten Zeitschrift zu veröffentlichen“, sagt Roman Wölfel. Die meisten Forschungsteams wollten verhindern, das andere zu früh von ihren Ergebnissen erfahren, weil sie auf diese Weise den wissenschaftlichen Ruhm für sich allein haben. „Diese Verschlossenheit ist natürlich gerade bei einer Krankheit, die sich sehr schnell in der Bevölkerung verbreitet, ein sehr gefährliches Vorgehen“, sagt der Münchner Virologe. 

Ian Mackay aus Australien sieht es genauso: „Was mich am meisten beeindruckt, war der Aufwand, mit dem das Team über alle möglichen Kanäle die Informationen über den Test kommuniziert hat.“ Auch wenn es technisch immer einfacher wird, weltweit Forschungsdaten auszutauschen, ist das längst keine Selbstverständlichkeit. Der Konkurrenzdruck ist enorm. Forschungsdaten aus einem Labor sind üblicherweise streng geheim, sie sind das Öl, das den Betrieb am Laufen hält. 

Wie ungewöhnlich dieses Daten-Sharing der Berliner ist, zeigt auch das Interesse des mehrfach preigekrönten Dokumentarfilmers Valentin Thurn, der Christian Drosten genau wegen dessen Offenheit in seiner aktuellen Kinodokumentation „Träum weiter“ portraitieren wollte. In dem Film stellt Thurn Menschen vor, die lange Zeit eine ungewöhnliche, gar idealistische Idee verfolgen. Letztlich scheiterte das Vorhaben daran, dass Forschungsdaten schlecht zu verfilmen sind.

Jedes Labor testet einen Test, bevor es ihn einsetzt

Roman Wölfels Labor am Institut für Mikrobiologie macht sich nach Drostens Mail sofort daran, das Charité-Protokoll zu etablieren und zu überprüfen. 

Jedes einzelne Labor erprobt ein neues Protokoll, bevor es die Anleitung verwendet. „Wir können uns sogar sehr schnell auf so etwas einstellen“, sagt Wölfel – in der Forschung ist das anders als in einem kommerziellen Routine-Labor. „Die brauchen in der Regel ein paar Wochen oder Monate und meist die Unterstützung durch die Firmen, die die Tests anbieten. Wir machen sowas wirklich innerhalb von zwei bis drei Tagen.“ Behauptungen wie die des Pandemie-Leugners Wolfgang Wodarg, der PCR-Test des Dorsten-Teams sei gar nicht validiert, wie sie ab März 2020 immer wieder kursierten, entsprechen also nicht der Wahrheit.

Die Erfahrung der beiden technischen Mitarbeiterïnnen in Wölfels Labor ist im Januar 2020 bei der Validierung besonders gefordert, denn Wölfel steht vor dem gleichen Problem wie zuvor Victor Corman: Auch er hat keine Proben des echten Virus‘. Auch er muss die RNA-Sequenz von SARS-CoV-2 nachbauen und im Detail überprüfen, ob der neue PCR-Test sie aufspürt.

Am 22. Januar – zwei Tage, bevor der Test an seinem Institut einsatzbereit ist – kündigt Roman Wölfel ihn auf einem Treffen der Münchner Mitglieder im „Deutschen Zentrum für Infektionsforschung“ (DZIF), einem bundesweiten Forschungsnetz, schon an. Es sitzt auch ein Vertreter aus dem Tropeninstitut der Universität München in der Runde. Doch keiner der anwesende Forscherïnnen interessiert sich so richtig dafür, erzählt Wölfel. „Ich hatte den Eindruck, dass meine universitären Kollegen gedacht haben: Na ja, die von der Bundeswehr, die machen immer diese exotischen Sachen.“ 

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Der Münchner Cluster: die ersten Corona-Fälle in Deutschland

Am 20. Januar erreicht eine Mitarbeiterin vom chinesischen Standort des Automobilzulieferers Webasto die Firmenzentrale in Stockdorf am Südwestrand Münchens. Die Frau aus Shanghai nimmt dort zwei Tage lang an einem Workshop teil. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, dass sie sich bei ihren Eltern aus Wuhan, die sie zuvor besucht hatten, mit dem neuen Virus angesteckt hat.

Drei Tage nach Abreise der Frau klappern dem leitenden Webasto-Mitarbeiter Christoph N. in seinem Bett die Zähne. Schüttelfrost, Hals und Gliederschmerzen. Er glaubt zu dem Zeitpunkt noch, er habe einfach eine schwere Erkältung. Sein Hausarzt aber wundert sich. So richtig passen die Symptome nicht zu einem grippalen Infekt.

Am Montag, 27. Januar, geht bei Camilla Rothe das Telefon. Christoph N. klagt der Leiterin der Ambulanz für Tropen- und Reisemedizin am Uniklinikum München, er sei zwar wieder fit, habe sich aber die letzten Tage kränklich gefühlt. Rothe schildert ihre erste Begegnung mit einem SARS-CoV-2 Patienten in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Weil er seine Familie schützen wollte, bat er um einen Test.“ Christoph N. berichtet vom Kontakt zur chinesischen Kollegin. Die ist in China inzwischen positiv auf dieses neue Virus aus Wuhan getestet worden. 

Von dem Kollegen, der an der Sitzung des DZIF teilgenommen hatte, weiß Camilla Rothe, dass es bereits einen Test auf dieses neue Virus gibt – und zwar ganz in der Nähe. Sie nimmt Speichelproben, macht Nasenabstriche und schickt alles zu Roman Wölfel ins Labor. Noch am Abend dieses 27. Januars kommt die Antwort: SARS-CoV-2-positiv. Das ist der erste Corona-Fall in Deutschland. Und die erste Bestätigung: Der Corman-Drosten-Test funktioniert tatsächlich mit dem neuen Virus. 

In München gelingt die Eindämmung des neuen Virus

Webasto schließt den Stockdorfer Standort für zwei Wochen. Tags darauf findet Rothe das Virus noch bei drei weiteren Webasto-Mitarbeiterïnnen. 

Schon am 30. Januar beschreiben Rothe, Wölfel und ihre Kollegïnnen die vier Münchner Fälle im New England Journal of Medicine (NEJM), einer der weltweit renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften. Die minutiöse Beschreibung ist immens wichtig, denn sie zeigt erstmals, dass auch Menschen mit milden Verläufen und schwachen Symptomen den Erreger übertragen können. Der Münchner Cluster ist die erste ausgiebig dokumentierte Ansteckungskette von SARS-CoV-2 außerhalb Asiens

Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) spürt die Kontaktpersonen der Infizierten auf. Bis Mitte Februar finden die Mitarbeiterïnnen mehr als zweihundert Menschen mit höchstem Ansteckungsrisiko. Dass der Ausbruch in einer Firma passiert, ist Glück im Unglück: Viele der Kontakte lassen sich über den Firmenkalender nachvollziehen. Insgesamt haben sich neun Webasto-Mitarbeiterïnnen und sieben Angehörige mit Sars-CoV-2 angesteckt.

Dass es bei den 16 Fällen in München bleibt, liegt vor allem am PCR-Test der Charité. Sonst hätten die Ärztïnnen die Krankheit bei den Betroffenen für einen grippalen Infekt oder eine Erkältung halten können. Weil sie aber wissen, dass das neue Coronavirus hinter den Erkrankungen steckt, können die Medizinerïnnen Infizierte isolieren, ihre Kontakte ausfindig machen und die Patientïnnen entsprechend behandeln. 

Am 12. Februar öffnet Webasto seine Firmenzentrale wieder. Für einen kurzen Moment könnte man glauben, Deutschland komme mit einem blauen Auge davon. 

Am Samstag, dem 15. Februar feiern die Närrinnen und Narrhalesen des Karnevalsvereins Langbröker Dicke Flaa ihre „Kappensitzung“ in Gangelt im Kreis Heinsberg an der Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden. Fünf Tage später beginnt mit Weiberfastnacht die heiße Phase des Straßenkarnevals.

Vier Wochen darauf, am Sonntag, dem 22. März führen die Behörden bundesweit Kontaktbeschränkungen ein – und Deutschland kommt damit vergleichsweise gut durch die erste Welle. In Teilen Italiens sind zu diesem Zeitpunkt schon die Krankenhäuser überfordert. In den USA explodieren die Fallzahlen.

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Ein Scheinwerfer aufs Infektionsgeschehen

Der PCR-Test aus Berlin gibt Medizinerïnnen auf der ganzen Welt ein Werkzeug in die Hand, um die neue Krankheit aufzuspüren und viele wichtige Fragen zu beantworten. Er ist wie ein Scheinwerfer, der Licht ins Dunkle bringt. Mithilfe des Tests zeigen Medizinerïnnen im Laufe der ersten Wochen der Pandemie, dass viele Infizierte gar keine Symptome haben, sie spüren Infektionsketten auf und entdecken Spreading-Ereignisse. Ohne diesen PCR-Test hätte sich das Virus ungehemmt ausbreiten können. Die Krankenhäuser wären des Andrangs kranker Menschen nicht mehr Herr geworden – Zustände wie in Wuhan oder Bergamo.

Mit Cormans PCR-Test lernen Medizinerïnnen die Krankheit kennen, ihre Eigenheiten, ihren Verlauf, wie ansteckend sie ist. Das alles müssen sie wissen, um das Virus abzuwehren. Die Berliner Virologen ermöglichten Laboren auf der ganzen Welt – auch solchen, die nicht selbst Tests entwickeln – die Komponenten zu bestellen oder ein Kit ihres Tests zu erwerben. 

„Das ursprüngliche Corman-Drosten-Protokoll war eine Meisterleistung in der Kürze der Zeit und hat es ermöglicht, in hochspezialisierten Zentren mit diesem öffentlich zugänglichem Protokoll Diagnostik zu betreiben“, sagt Maximilian Münchhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität München, Referent der Nationalen Forschungsnetzwerks COVID-19 task force des Bundesforschungsministeriums (BMBF). 

„In einigen Fällen hat dieser Test die ersten Anzeichen für das Eindringen von SARS-CoV-2 in ein Land aufgedeckt“, sagt Ian Mackay, der australische Virologe. Mit dem Corman-Drosten-Test und anderen wie diesem hätten ganze Nationen die Möglichkeit erhalten, zu planen, schnell zu reagieren und Leben zu retten.

Der Erfolg ist keine Selbstverständlichkeit

Dass es auch anders hätte laufen können, zeigt der Fall des PCR-Tests aus den USA: Statt das von der WHO empfohlene Protokoll zu nutzen, entwickeln die US-Amerikaner ein eigenes – ähnlich wie China und andere Länder. Als der Test fertig ist, behält sich die amerikanische Seuchenschutzbehörde, die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) allerdings vor, die Materialien zentral herzustellen und zu verteilen. Das bremst die Tests im ganzen Land aus. In Deutschland sind die Labore unabhängiger und tauschen sich in einem Netzwerk aus.

Dann der GAU: Die Reagenzien, die die CDC verschickt, sind verunreinigt, die Testergebnisse unbrauchbar. Erst Ende März können die Amerikaner wirklich mit dem Testen beginnen. Das hat fatale Konsequenzen, erklärt der Diagnostik-Experte Peter C. Iwen, Direktor des Nebraska Public Health Laboratory in Omaha, der Washington Post: „Wenn wir schneller diagnostiziert hätten, hätten wir Menschen gerettet.“ 

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Je weiter sich SARS-CoV-2 auf der Welt ausbreitet, desto mehr zeigt sich, dass die weltweit entwickelten PCR-Protokolle zwar sehr gute Werte für die analytischeSensitivität und Spezifität unter den kontrollierten Bedingungen der Labore gezeigt haben. Doch im klinischen Alltag fallen die Werte in der Regel schlechter aus: Statt 99 Prozent oder 100 Prozent Sensitivität berichten Forscherïnnen über Werte von rund 70unter 60 oder sogar unter 30 Prozent

Windige Studien liefern Munition für Schwurbler und Querdenker

Kritiker, Skeptiker und Leugner benutzen diese Werte gerne, um die PCR-Tests generell in Zweifel zu ziehen. Dabei stammen diese Zahlen teils aus kleinen, wenig aussagekräftigen Untersuchungen, aus Preprints – also Vorabveröffentlichungen von Studien ohne Begutachtung – die nur unzureichend beschreiben, wie die Proben entnommen und verarbeitet wurden. 

Denn es gibt viele Fehlerquellen auf dem Weg vom Rachen der Patientïnnen bis in die Röhrchen der Analysemaschinen: Der Abstrich kann zu früh oder zu spät erfolgen – dann ist noch nicht oder nicht mehr genügend Virus vorhanden. Testerïnnen können die Probe an der falschen Stelle nehmen oder zu wenig infizierte Zellen erwischen. Sie können Fehler bei der Verarbeitung der Probe machen. Es können Dinge beim Transport und der Lagerung schiefgehen. Es können im Labor Fehler bei der eigentlichen PCR passieren.

Beim PCR-Test muss man sich sklavisch an die Anleitung halten. Jede Zutat muss stimmen, die Reagenzien müssen exakt dieselben, genau in den angegebenen Mengen sein. Die Temperaturen müssen auf das Grad genau eingehalten werden. 

Aufs Kochen übertragen hieße das: Es müsste sogar die Marke der Butter übereinstimmen, damit das Rezept gelingt. 

PCR-Tests liefern nur dann gute Ergebnisse, wenn man sich ans Rezept hält

„Bei jedem Assay sind die Temperaturen, die Zeiten der Zyklen, die Chemiekomponenten, die Konzentrationen der Oligonukleotide, des Magnesiumchlorids und der Enzyme fein abgestimmt“, sagt Stephan Ölschläger. Der Mikrobiologe arbeitet bei Altona-Diagnostics, einem Hamburger Hersteller und Entwickler medizinischer Tests – unter anderem eines kommerziellen PCR-Tests für das neue Coronavirus. Der Biologe leitet dort heute das Marketing, hat aber lange in der Entwicklung gearbeitet.

Für Victor Corman sind die schier unendlichen Fehlerquellen der Grund, warum er all den Diskussionen um Sensitivität, Spezifität, positivem oder negativem Vorhersagewert nur wenig Gewicht beimisst. Die Werte sind zwar wichtig – aber: „Diese ganze Diskussion um falsch-negative Proben oder falsch-positive Proben wird gerne auf den PCR-Test selbst heruntergebrochen“, sagt Corman: „Eigentlich müsste sie aber den gesamten komplexen Ablauf von der Probennahme bis zur Befund-Mitteilung an den Patienten im Blick haben.“ Schließlich fragten sich die Fachleute im Labor immer: Ist das Ergebnis plausibel? Ein generelles Problem mit der Genauigkeit seines Tests könne man aus den kritischen Studien nicht ableiten.

Aber dann taucht doch ein Problem auf, das er nicht ignorieren kann.

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Das Problem mit dem RdRp-Primer

In den folgendenMonatenhäufen sich Meldungen, dass etwas nicht stimmt mit dem PCR-Protokoll aus Berlin. Verschiedene Teams zeigen, dass die erste Teststufe mit dem Primer auf das E-Gen sehr gut arbeitet, die zweite Stufe zur Bestätigung mit dem RdRp-Primer aber weniger empfindlich ist als andere Tests. 

„Unsere Daten legen nahe, dass der RdRp-SARSr-Assay bei sehr geringen SARS-CoV-2-Mengen kein zuverlässiger Bestätigungstest ist,“ fasst ein Team von 46 Autoren um Chantal Vogels von der Yale School of Public Health in New Haven, Connecticut, seine Ergebnisse zusammen. Sie bestätigen damit andere Untersuchungen, die ähnliche Vergleiche durchgeführt haben.

Das Problem fällt sogar dort auf, wo es niemand gesucht hat: beim unabhängigen deutschen Ringversuch INSTAND. Der überprüft eigentlich, wie zuverlässig die deutschen Diagnostik-Labore Tests durchführen. Da aber im Fall des RdRp-Bestätigungstests einheitlich schlechtere Ergebnisse erkennbar sind, wird klar, dass die Forscher-Community das untersuchen muss.

Die Flexibilität verschlechtert die Empfindlichkeit

Eine Erklärung für die schlechtere Sensitivität des Bestätigungstests liefert dann eine deutsche Forschergruppe um den Münchner Virologen Maximilian Münchhoff. Zu dem 22-köpfigen Team seiner Studie, die Mitte Juni bei Eurosurveillance erscheint, sind neben Roman Wölfel aus München und Sandra Ciesek aus Frankfurt auch Christian Drosten als Co-Autoren beteiligt.

Während die allermeisten Tests in der Untersuchung „sehr sensitiv“ sind und selbst dann noch anschlagen, wenn Proben lediglich fünf Kopien der Viren-RNA pro Mikroliter enthalten, hat der RdRp-Primer der Charité bei so geringen Mengen Aussetzer. Stecken noch weniger RNA-Kopien in einer Probe – ein Extrembereich –, landen andere Primer noch Treffer, aber der RdRp-Primer übersieht sie. 

Münchhoff und seine Kollegen verändern daraufhin den Primer. Schon Chantal Vogels und andere Forschïnnen hatten vermutet, dass einige der von Corman absichtlich flexibel besetzten Positionen in der Sequenz des degenerierten Primers den Bestätigungstest zwar flexibler machen, aber eben auch weniger empfindlich. Corman und Drosten fanden dafür keine Hinweise, sondern vermuten, dass andere Parameter dahinterstecken – etwa, dass die Labore eine falsche Temperatur verwendet haben.

Münchhoff passt beides an: An zwei Positionen der Sequenz, an denen die Berliner Forscher Platzhalter eingefügt hatten, verwendet er genau die Basen aus der ersten Virussequenz aus Wuhan, und er korrigiert eine der Temperaturen. Und tatsächlich: Sein RdRp-Primer ist nun so gut wie andere Primer.

War diese Ungenauigkeit des PCR-Tests, der von der WHO empfohlen und weltweit im Einsatz war, nun schwerwiegend? Das könne niemand beziffern, schreibt Maximilian Münchhoff auf unsere Anfrage. Er glaubt aber: Wenn es denn überhaupt einen Schaden gab, dürfte er sich in Grenzen halten. Denn der RdRp-Primer war ja lediglich zur Bestätigung gedacht, um die Genauigkeit des Tests zu erhöhen.

Auch Chantal Vogels von der Yale University beruhigt in einer E-Mail an uns: „Mit dem E-Gen Assay erwischt man sehr wahrscheinlich alle Fälle, während man mit dem RdRp-Gen-Assay einige schwach positive übersieht. Das sollte indes kein Problem sein, wenn man die beiden zusammen verwendet.“ 

Stephan Ölschläger von Altona Diagnostics ergänzt: „Kein Labor würde ein widersprüchliches Testergebnis als negativ durchwinken. Wann immer ein Test so ein Ergebnis liefert, untersucht man diese Probe noch einmal mit einem anderen Testprotokoll.“ 

Maximilian Münchhoff von der LMU München weist auf einen weiteren entscheidenden Punkt hin: „Der Test hat nur bei schwach positiven Proben versagt.“ Gerade die von ansteckenden Menschen mit deutlichen Symptomen enthalten viel Virus – und die dürfte auch der RdRp-Primer aufgespürt haben.

Das RdRp-Problem – eine normale wissenschaftliche Diskussion

Der Virologe Ian Mackay von der University of Queensland betrachtet das ganze RdRp-Problem sogar als ein Beispiel guter wissenschaftlicher Praxis. Auch wenn das Corona-Skeptiker offenbar nicht verstünden – genau so funktionierten Wissenschaft und Forschung: „Klingt ziemlich gut gelöst. Wissenschaft bei der Arbeit!“, schreibt er uns per E-Mail. 

Die Debatte um den RdRp-Primer verdeutliche noch einmal die Problematik: Ganz zu Beginn des Ausbruchs sei überhaupt nicht klar gewesen, wie das SARS-CoV-2 aussehen würde, sagt Mackay: „War die allererste Genom-Sequenz repräsentativ für alle folgenden Virus-Varianten oder war sie nur eine Momentaufnahme aus einem Erreger-Pool mit größerer genetischer Variation, die wir zu Beginn noch nicht quantifizieren konnten?“ 

Dass Ersteres richtig war, habe in den ersten Tagen des Ausbruchs niemand wissen können. „Wir durften keine Zeit verlieren, um die Werkzeuge zum Nachweis des Virus zu diesem Zeitpunkt zu entwickeln“, sagt Ian Mackay. Drosten und Corman hätten genau das erreicht und zwar in Rekordzeit.

Die Arbeit findet auch bei Kollegen Anerkennung, die keine Virologen sind. Rangmar Goelz, bis 2020 leitender Oberarzt an der Neugeborenenabteilung des Uniklinikums Tübingen, sagt: „Es ist ein Segen für die Menschheit, dass die Entwicklung so schnell gegangen ist, dass Leute so gut über Coronaviren Bescheid wussten. Es können sich alle nur bedanken bei den Leuten, die sich damit beschäftigt haben, solange es noch unwichtig war.“

Alle Anerkennung und alles Lob von Expertïnnen weltweit hindern Pandemie-Leugner und Corona-Skeptiker nicht daran, immer wieder gezielt den „Drosten-Test“ anzugreifen mit nur einem Ziel: Den PCR-Test zu diskreditieren. Wie im November 2020, als ein schillerndes Konsortium das sogenannte „Corman-Drosten-Review“ auf einer eigenen Webseite veröffentlicht und die Rücknahme des Fachartikels aus dem Januar in Eurosurveillance einfordert, in dem Corman und Drosten ihr Testprotokoll vorstellten.

Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg bewertete diese Initiative in einem Interview mit der Welt so: „Es handelt sich um eine Mischung, wie man sie bei solchen Desinformationskampagnen häufig findet: Einige korrekte Aussagen, die in dem Zusammenhang aber nicht relevant sind, werden mit Falschaussagen zusammengerührt.“ Eine Beschreibung, die auf viele Aktionen aus dem Lager der Querdenker und Corona-Leugner zutrifft. Das Unterfangen blieb erfolglos.

Ian Mackay nahm das „Review“auf Twitter Stück für Stück auseinander (hier findet sich eine deutschsprachige Widerlegung). Schon allein das Fokussieren auf dieses eine Protokoll findet er absurd: „Diese Vorstellung lässt fundamental außer acht, wie Labore und Wissenschaft funktionieren“ wettert Mackay. 

Die komplexen Testassays, die zu Beginn an Institutionen wie der Charité in Berlin, aber auch am CDC in den USA, in Hong Kong oder in China entwickelt wurden, waren Pioniertests, um überhaupt Werkzeuge gegen das neue Virus in Händen zu halten. 

Für die Massentests übernehmen die kommerziellen Anbieter

Massentestungen, wie sie im Laufe der Pandemie nötig waren, hätte man mit diesen Pioniertests gar nicht bewältigen können. In Deutschland allein haben die Gesundheitsbehörden zeitweise mehr als anderthalb Million Tests pro Woche durchführen lassen. Dafür sind kommerzielle Systeme in großen Laboren mit großem Durchsatz nötig – vollautomatisierte Roboterstraßen, die eigene PCR-Reagenzien, Sonden und Primer einsetzen. „Die meisten Labore, mit denen wir [für unsere Studie] in Deutschland in Kontakt standen, hatten im Mai 2020 bereits auf andere Verfahren umgestellt“, sagt Maximilian Münchhoff. 

Das ist auch der Grund, warum Victor Corman und seine Kollegïnnen ihr PCR-Protokoll nicht mehr aktualisiert haben – denn das hatten sie kurz überlegt. Aber das benötige niemand mehr. Selbst außerhalb der Industrieländer verwenden die Labore und Mediziner inzwischen die PCR-Kits kommerzieller Hersteller.

Diese Firmen hatten ausgiebig Zeit, ihre Systeme zu testen und aus den Erfahrungen der Pioniertests zu lernen. War zu Beginn der Pandemie der Corman-Drosten-Test praktisch allein auf weiter Flur, konnten Labore schon bald aus einer Flut kommerzieller Testvarianten auswählen. In der EU-Datenbank für Covid-19-PCR-Tests finden sich inzwischen weit über fünfhundert verschiedene Systeme für manuelle Tests, halb- wie auch vollautomatische Anlagen.

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Ganz zu Beginn der Corona-Pandemie konnte sich Victor Corman nicht vorstellen, wie sich die Pandemie entwickeln und was sie mit der Gesellschaft machen würde. Inzwischen hat sie sein ganzes Leben im Griff. Vielleicht noch mehr als bei allen anderen auch: Wenn er aus dem Fenster des Backsteingebäudes mit dem Institut blickt, sieht er die Welt durch einen leichten Graufilter: „Wir haben Splitterschutz an den Fensterscheiben und einen Wachmann vor der Tür“, sagt er im September 2020 – Sicherheitsmaßnahmen gegen militante Corona-Leugner. Dass so etwas einmal nötig sein würde, er hätte es nie gedacht. Für die selbsternannten Querdenker und Co. ist das Institut für Virologie der Charité zum Hassobjekt und zur Quelle allen Übels in dieser Pandemie geworden. Kill the messenger.

Die Pandemie bestimmt Cormans Arbeit immer noch, aber nicht mehr der Test

Die Pandemie bestimmt seine Arbeit noch immer, erzählt er. Und sie überrascht auch ihn immer wieder: Im Januar 2020, als das Testprotokoll gerade fertig war, saß er mit seinem Team zusammen. „Da hab ich gesagt: Das war super. Ich glaube, jetzt werden wir nicht mehr gebraucht.“ Er glaubte, von da an sei er und sein Team nur noch ab und zu gefragt, wenn die Medizinerïnnen in Deutschlands Gesundheitsämtern, Kliniken und Testzentren hin und wieder Rat benötigten. „Eigentlich hatten wir abgeliefert, was man von uns verlangen kann“, sagt er und macht eine kurze Pause.

„Dasselbe habe ich dann noch dreimal gesagt: im Februar, im März, im April. Dann habe ich damit aufgehört, weil es demotivierend ist, wenn es immer anders kommt als man vermutet.“ 

Ein Jahr später, im September 2021 am Telefon. Noch immer spricht Victor Corman schnell und mit kräftiger Stimme. Noch immer klingt er etwas gestresst, dabei waren die letzten Monate ruhiger. Doch das wird sich ändern: „Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass es wieder losgeht“, sagt er. Die Inzidenz beginnt wieder zu steigen, die Impfkampagne stockt. 

Jetzt kommen Fragen zu den Impfungen statt zur PCR

Es wenden sich wieder mehr Ärztïnnen aus ganz Deutschland an das Konsiliarlabor. Aber ihre Fragen haben sich verändert. „Der klassische SARS-2-Patient, dem es jetzt schlechter geht und der aufwändig beatmet werden muss – damit kennen sich die großen Kliniken aus“, sagt Corman. Jetzt stellten die Kollegïnnen per Mail und Telefon Fragen zu Einzelfällen rund ums Impfen: Was macht man bei einer immunsupprimierten Personen, die geimpft ist, aber keine Antikörper bilden? Wann sollte man impfen, wenn ein Patient gerade eine Chemotherapie macht? 

Der PCR-Test ist kein Thema mehr.

Den Ordner mit den SARS-Coronavirus-Sequenzen auf seinem Rechner, den er immer mal wieder auf den neuesten Stand gebracht hatte, braucht Victor Corman inzwischen nicht mehr zu vervollständigen. Aus dem Nischenvirus ist ein globales Phänomen geworden. „Die Sequenzen werden inzwischen zentral gesammelt“, sagt er. In der Datenbank der Global Initiative on Sharing All Influenza Data stecken inzwischen mehr als 2,5 Millionen Sequenzen des Severe acute respiratory syndrome Coronavirus 2.