Die Leute gucken schon
von Thomas Wochnik
Sozialen Aufstieg erreicht man nicht allein durch Bildung. Sondern durch die tägliche Überwindung einer vererbten Scham. Wie Klassismus wirkt.
Das Kind quengelt an der Supermarktkasse, wird immer lauter, das Quengeln schaukelt sich auf, irgendwann wird es richtig laut, das Kind wirft sich zu Boden und schlägt nach allen Richtungen aus, verweigert Zuhören und jedwede Kooperation. Man kennt die Gesichtsausdrücke der Eltern, genervt, erschöpft und peinlich berührt. „Die Leute gucken schon“, sagt der Vater leise, den sichtlich verängstigten Blick nicht auf das Kind, sondern auf die Umwelt gerichtet.
Als gehe eine Gefahr davon aus, gesehen und gehört zu werden. Der Vater überträgt seine Angst auf das Kind, macht sich, sicherlich unbewusst, die Macht des Sozialen zunutze: Nicht er ist es, den das Kind gerade stört, sondern „die Leute“. Wenn es funktioniert, wird das Kind still vor Scham und „die Leute“ ihm unheimlich. Und mit ihnen die Welt.
Die Scham des Vaters ist keine pädagogische Methode und nicht gespielt. Es handelt sich auch nicht um die bloße Peinlichkeit, die viele Eltern verspüren, wenn sie das eigene Kind nicht kontrollieren können. Es ist die Scham eines Menschen, der selbst dazu erzogen wurde, nicht aufzufallen, unsichtbar zu sein, sich nichts anzumaßen, bescheiden zu leben und niedrig zu stapeln. Die Scham also, überhaupt wahrgenommen zu werden, die in meiner Familie, wie in vielen Familien aus „einfachen Verhältnissen“, seit Generationen weitergegeben wird.
Wie jede Scham, löst auch die Klassenscham den Willen nach Verdrängung aus. So verstecken wir, Kinder aus prekären Verhältnissen, Nichtakademiker-Haushalten, von Niedrigverdiener:innen und Erwerbslosen, jeden Mangel und jede Benachteiligung nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor uns selbst.
Klassistische Diskriminierung wird in der Folge weitgehend unsichtbar – das ist in der Klassismusforschung Konsens. Öffentlich zu Wort melden sich kaum aktuell Betroffene, sondern überwiegend die, die eine soziale Schranke überwunden und sich das Privileg gesichert haben, öffentlich reden zu können und gehört zu werden.
Denn Armut gilt in einer Kultur, in der man nicht über Geld spricht, als unfein. Und glaubt man daran, dass hierzulande jeder des eigenen Glückes Schmied ist, stehen die Unglücklichen immer unter Verdacht, nur nicht fleißig genug zu schmieden. Wie um den Verdacht zu zerstreuen, suchen und finden wir etwas an uns und unserem Umfeld, das vermeintlich nur uns auszeichnet und andere nicht, bilden exklusive Kreise. Dem Vorurteil anderer begegnen wir mit einem zerbrechlichen Konstrukt: dem Klassenstolz.
Mit ihm verkehren wir die unterdrückte Scham in eine scheinbar positive Attitüde: Was wir uns nicht leisten können, wollen wir gar nicht haben. Wo wir keinen Zugang bekommen, wollen wir gar nicht hinein. Wir verdächtigen Menschen, die Erfolg ausstrahlen, der Unehrlichkeit, so wie sie uns der Faulheit, und entwickeln Methoden, uns, unter gleich welchen Umständen, selbst zu den Guten und Ehrlichen zu zählen.
Jede Woche stehen manche von uns mit einem Lottoschein in der Kiosk-Schlange an, um den einzigen vollkommen legitimen Weg nach oben zu beschreiten, der ohne Preisgabe der eigenen Werte gangbar ist. Der Lottogewinn als Korrektur ungerechter Erbverhältnisse. Und jedes Mal, wenn der Jackpot nicht bei uns landet, fühlen wir uns in der Annahme bestätigt, dass die Welt nur die Unaufrichtigen belohnt.
Bereits im Schulalter sabotieren wir auf sogenannten Problemschulen unsere Laufbahn, als gelte es, zu beweisen, dass wir nicht nach Höherem strebten – und also nach dem, was wir offiziell ja ablehnen. Und tun wir es nicht, bringen wir bessere Noten nach Hause und werden Lehrers Darling, ziehen wir in den Pausen, wenn wir Pech haben, nicht nur allein unsere Kreise um den Schulhof, sondern sind auch den Schikanen unserer Mitschüler:innen ausgeliefert.
Laut Hochschulbildungsreport 2020 erreichen nur acht von Hundert Kindern aus Nichtakademiker-Haushalten einen Master-Abschluss, nur eines promoviert. Bei Akademikerkindern mit gleichen Fähigkeiten sind es 45, von denen zehn promovieren.
Jedes Durchqueren sozialer Schranken bedeutet Entwurzelung. Diejenigen von uns, die schon als Kinder vereinzeln, kehren die Ablehnungshaltung auf ihr eigenes Umfeld um. Sie suchen sich für die Assemblage der eigenen Identität Referenzpunkte weit außerhalb ihrer Lebenswelt. Nicht Verwandte, Bekannte, Lehrer:innen oder Mitschüler:innen, sondern Figuren aus Geschichte und Literatur oder dem Pop-Universum werden zu brauchbaren Rollenbildern.
An meiner Schule hörten wir andere Musik als unsere Mitschüler:innen, kleideten uns anders und warfen unsere Identitätsanker in fernen Wassern aus, die wir nur aus medialen Darstellungen kannten. „Die Erinnerungen anderer Leute gaben uns einen Platz in der Welt“, bringt die Schriftstellerin Annie Ernaux die Entfremdung in ihrem autobiografischen Roman „Die Jahre“ auf den Punkt.
Im Studium lernten wir, dass auch Bildung eine Form des Kapitals ist, kulturelles Kapital nämlich. Wenn wir aber Kommiliton:innen dabei zusahen, wie sie unbezahlte Praktika annahmen und Auslandssemester ohne finanzielle Nöte angingen, weil sie von den Eltern finanziert wurden, erfuhren wir die Grenzen dieser Kapitalsorte. Dieselben Eltern halfen beim Ausfüllen von Anträgen für Stipendien, von denen wir nie gehört hatten. Den Verdacht, dass am Ende doch nicht das Wissen, sondern Geld die Welt regiert, unterdrückten wir souverän, darin waren wir bereits geübt.
Die Bildung ermöglichte es uns, den negativ besetzten, pseudo-freiwilligen Verzicht auf materiellen Überfluss in einen positiven Minimalismus-Lifestyle zu verkehren, dem auch Wohlstandskinder frönen. Ein Etikettenschwindel, denn verzichten kann nur, wer die Wahl hat. Und wieder machten wir unsere Verhältnisse unsichtbar.
Wenn Kommiliton:innen verächtlich von Hartz-IV-Empfängern als den Asozialen sprachen, den Gelsenkirchener Barock belächelten oder wenig überzeugend die Sprache von Migrantenkindern nachäfften, lachten wir anfangs mit unterdrückter Hysterie mit, damit niemand merkte, dass wir mitgemeint waren.
Jeder dieser Sprüche erschütterte uns im Kern, weil er uns daran erinnerte, dass wir nicht in diese Kreise, diese Institution, diese Welt gehörten. Entsprechende Bildung vorausgesetzt, konterten wir irgendwann als kritische Akademiker:innen, ohne aber unsere gefühlte Zugehörigkeit preiszugeben. Oder erreichten den Gipfel der Entwurzelung, wenn wir selbst in den Chor des Armen-Bashings einstimmten.
Im Verborgenen unterschieden wir uns durch unsere Ehrfurcht vor der Institution Universität von denen, die nur studierten, weil sie nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten oder weil es von ihren Eltern erwartet wurde. Nach außen ahmten wir ihre Leichtigkeit nach, taten so, als nähmen wir das Studium nicht so wichtig.
Zugleich klammerten wir uns mit existenzialistischem Eifer an das Wissen, das wir uns aneigneten, weil wir es insgeheim für den Schlüssel dazu hielten, ein besseres Leben zu führen, vielleicht sogar die Welt mitzugestalten. Und weil es das einzige Startkapital war, zu dem wir Zugang hatten.
Noch beim Entgegennehmen des Abschlusszeugnisses schwang bei aller Freude ein Unbehagen mit: Statt sich vom erreichten Gipfel aus an der weiten Perspektive zu erfreuen, hatten wir die Fallhöhe vor Augen. Die Angst davor, eines Tages als Fremdkörper im eigenen Umfeld aufzufliegen, ist bekannt als Hochstapler- oder Impostor-Syndrom, das noch im Berufsalltag ständiger Begleiter bleibt. Du hier, unter denen?
Das kann nicht lange gut gehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du wieder an den Platz zurückfällst, den die Geschichte dir zugewiesen hat.
Ich höre innerlich beim Tippen dieser Zeilen imaginäre Zwischenrufe, wie: Ihr legt euch doch selber Steine in den Weg! Hört doch auf, euch zu beschweren und nutzt eure Chancen! Wer glaubt, dass man uns nur einmal nehmen und kräftig schütteln müsse, um uns zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen, hat nicht verstanden, was Selbstüberwindung bedeutet.
Sie ist keine Mutprobe, die ein kurzes Sammeln der Kräfte und dann einen beherzten Sprung erfordert. Sie ist ein ständig aufzubringender Widerstand gegen die eigene Intuition; tagein, tagaus, im beruflichen Alltag, bei Kulturveranstaltungen, beim Small-Talk mit neuen Freund:innen und Kolleg:innen und nicht zuletzt im Denken über sich selbst. Und es ist die Auflehnung gegen klassistische Sprüche, Tritte nach unten, existenzielle Angst und nicht zuletzt die faktische Unmöglichkeit, Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, zu nutzen.
Angst macht Menschen bekanntlich politisch manipulierbar. Die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt sie sogar als stärkste demokratiegefährdende Emotion. Das Schüren von Ängsten vor Fremden, von denen es heißt, sie würden uns etwas wegnehmen, gefolgt vom Versprechen der Linderung, gehören seit Jahrtausenden zum politischen Handwerkszeug.
Weit subtiler funktioniert die Linderung der Angst, für den eigenen sozialen Status verachtet zu werden. Neonazis etwa übertragen schlicht die Verachtung auf andere Gruppen, wenn sie Geflüchtete mit Attributen wie Faulheit und Schmarotzertum belegen, die im klassischen Vorurteilskanon erwerbslosen und einkommensschwachen Menschen zugeschrieben würden.
Wir mögen uns dadurch sogar einen Augenblick lang von unserer eigenen Statusscham befreit fühlen. In Wahrheit aber findet hier die künstliche Konstruktion immer neuer unterster Klassen und damit bloß eine Verschärfung klassistischer – und rassistischer – Diskriminierung statt.
Wollen wir stattdessen die Fluidität zwischen den Gruppen erhöhen, soziale Ungerechtigkeit ausmerzen und die Schranken, um die es hier geht, öffnen, müssen wir auch den Ängsten begegnen. Wenn wir aber meinen, uns darauf ausruhen zu können, dass doch allen de jure gleiche Zugänge zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe eingeräumt sind, verdrängen wir die Wirklichkeit – und tragen weiter zur Unsichtbarkeit des Klassismus bei.
Die Klassenscham speist sich schon daraus, dass wir soziale Hierarchien sprachlich aufrecht erhalten und jede soziale Bewegung als Auf- oder Abstieg bezeichnen, dass wir materiellen Reichtum zu Glück verklären und so tun, als wäre er für alle erreichbar. Materielle Benachteiligung, wie sie schon das Erbrecht sichert, verstärkt soziokulturelle und psychologische Schranken, die wiederum die materiellen verstärken – ein Teufelskreis. Der gleiche Zugang zur Bildung ist nur die halbe Miete, wenn diejenigen, die ihn nutzen, Folgediskriminierungen erfahren, was im Übrigen auch Menschen kennen, die Erfahrungen mit sexistischer oder rassistischer Diskriminierung machen.
Was allen diskriminierten Menschen fehlt, ist das Vertrauen, das nicht diskriminierten selbstverständlich geschenkt wird. Der Teufelskreis wiederholt sich hier: Wer kein Vertrauen von seiner Umwelt erfährt, entwickelt statt Selbstvertrauen sein Hochstapler-Syndrom. Und Vertrauen bedingt Freundschaften, Partnerschaften, Kreditwürdigkeit. Es gibt folglich kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem sich keine Spuren klassistischen Denkens finden ließen. Dieses Denken ist in uns allen, in den Diskriminierenden wie in den Diskriminierten. Klassismus wirkt nicht nur institutionell, sondern systemisch. Das heißt auch: Er nimmt uns alle in die Verantwortung, die eigene Intuition ständig zu hinterfragen.