50 Jahre Theodor-Wolff-Preis
Spiegel der Medienrevolution
Der Kalte Krieg hatte einen Höhepunkt erreicht: Die Mauer teilte Berlin. Ein Reporter steht in der Bernauer Straße und erlebt, wie die Fenster auf der Südseite zugemauert werden. „Im Berliner Wedding stirbt eine Straße." Die Reportage wird mit einem der ersten Theodor-Wolff-Preise ausgezeichnet. Als er 1962 übergeben wird, steht die Welt näher an einem Atomkrieg als je zuvor. Sowjetische Schiffe mit Atomraketen nehmen Kurs auf Kuba.
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Und heute? Die Mauer ist gefallen, die Sowjetunion existiert nicht mehr. Viele der Feinde aus jenen Zeiten sind Mitglieder der Europäischen Union. Wer die Schlagzeilen der Zeitungen oder die Bilder im Fernsehen sieht, der spürt: Die Welt ist nicht einfach schön geworden, im Gegenteil: Die Klimakatastrophe steht vor der Tür. Fukushima erlebt den Super-Gau. Deutsche Soldaten sterben in Afghanistan in einem „heißen“ Krieg. Und „die Armut bei Kindern hat in der Bundesrepublik Deutschland einen historischen Höchststand ... erreicht", klagt das Rote Kreuz. „Wutbürger" ist das Wort des Jahres 2010!
Auch die Welt der Medien ist eine neue Welt. Gewiss, am Kiosk hängen die Zeitungen wie vor fünfzig Jahren. Aber 1961 gab es in der Bundesrepublik einen einzigen Fernsehkanal und ein Dutzend Radiostationen. Privater Rundfunk? Privatfernsehen? Schnapsideen! Noch nicht einmal das ZDF war auf Sendung. Heute buhlen über 100 Fernsehsender um die Gunst der Zuschauer. Dramatische Bilder erreichen uns aus allen Kontinenten. Die Türme des World Trade Centers stürzen in der Ecke unseres Wohnzimmers zusammen, Sekunden nach der Katastrophe in New York. Wir sehen, wie die Atommeiler in Fukushima explodieren.
Wir sind informiert. Wir brauchen – so scheint es – kein bedrucktes Papier mehr. Wir brauchen kaum Worte; wir haben die ganze Welt im Blick. Journalisten haben ihr Vorrecht verloren, als „vierte Gewalt" exklusiv ihre Meinung zur Entwicklung der Welt zu sagen. „Blogger" melden sich rund um die Uhr zu Wort. Vor zwölf Jahren war das Wort „Blog“ noch nicht erfunden. Ein Sturzbach von Meldungen und Meinungen geht auf den Bürger nieder.
Dabei hatten die Medien 1961 die größte Revolution bei der Verbreitung von Nachrichten schon hinter sich: Telefon und Telegraf. Als Napoleon 1815 die Schlacht von Waterloo verlor, erfuhr man davon in London – zwei Eisenbahnstunden entfernt – vier Tage lang nichts. Und Amerika erreichte die Nachricht von der Schlacht, die Europa veränderte, sechs Wochen nach Waterloo. Das war 1961 ganz anders. Ob Sputnik oder Mauerbau: man wusste sofort Bescheid. Und vor allem: In einer globalen Welt geht (fast) jede Nachricht jeden an. So beklagte schon Anfang der 1960er Jahre ein Korrespondent in Paris die Unrast moderner Zeiten. Wehmütig erinnerte er sich, wie er früher morgens zum Zeitungsstand ging, die französischen Blätter kaufte, sich zur Lektüre in ein Café setzte, einen Pernod nahm, und prüfte, ob dies alles wichtig genug sei, um in Deutschland gedruckt zu werden. Und oft beschloss er, die Dinge reifen zu lassen. Wie hätten sich – so klagte er – die Zeiten geändert. Er ahnte ja nicht, wieviel schlimmer es werden würde.
Denn die Kommunikation war auch 1961 noch archaisch. Die Korrespondenten diktierten ihre Texte über das Telefon ins Stenogramm. Auf das Fax musste man noch Jahre warten. Dass ein Redakteur Texte in den Computer schreibt, die direkt auf die Zeitungsseiten wandern, war unvorstellbar. Die Seiten wurden noch in Blei gegossen. Als am 22. November 1963 – kurz vor dem Druck – die Nachricht vom Attentat auf John F. Kennedy eintraf, setzte man zwanzig dramatische Zeilen mit der tonnenschweren Setzmaschine: „Attentat auf Kennedy – schwerverletzt". Minuten später wurde der kleine Bleiblock – noch warm – zum Umbruchstisch getragen. Da trifft die Nachricht ein: Kennedy ist tot. Keine Chance, die bleiernen Sätze zu ändern. Nur in der Schlagzeile hät¬te man die aufrüttelnde Nachricht noch schreiben können: „Kennedy tot". Doch der Redakteur entschied: „Was nicht in der (bleigegossenen) Meldung steht, kann auch nicht in der Schlagzeile stehen.“
Nichts ist so alt, wie die Zeitung von gestern.
Heute hat der Redakteur bis zur letzten Minute Zugriff auf die Nachricht. Und trotzdem scheint es fast ein Wunder, dass sich die Zeitungen in dem rasenden Wettlauf mit den elektronischen Medien behaupteten. „Nichts ist so alt, wie die Zeitung von gestern", hieß es früher. Im Wettlauf mit den elektronischen Medien kann sogar die „Zeitung von heute" alt aussehen. Weshalb sich alle Zeitungen inzwischen auch „online" zu Wort melden.
Und doch sind sie nach wie vor da: Leitartikel, Glossen, Reportagen füllen die Seiten wie 1961. Bilder freilich haben inzwischen ein neues Gewicht. Damals waren die vorderen Seiten der großen Zeitungen „Bleiwüsten". Fotos konnten nicht in Sekundenschnelle rund um den Globus abgerufen werden, von Farbfotos nicht zu reden. 1969 veröffentlichte die „Bild"-Zeitung ihr erstes Foto in Farbe: Neil Armstrong betritt den Mond.
Heute kommt keine Zeitung mehr ohne Bilder und Farbe aus. Und vor allem: 1961 verschwendete man – sieht man von den Boulevardblättern ab – an Grafik und Layout kaum einen Gedanken. Heute sitzen Artdirektoren und Layouter in den Redaktionen. Für das Layout werden Medienpreise vergeben wie für brillante Texte.
Der Irrweg des Kurz-kurz-kurz
Der Weg in die neue Medienwelt war freilich nicht gradlinig. Die Allgegenwart des Fernsehens ließ viele Redaktionen und Verlage zunächst glauben, auch die Zukunft der Zeitung liege vor allem in Bildern und knalligen Schlagzeilen. „USA Today“, die 1982 gegründete Tageszeitung, bildergeprägt, mit knappen Texten galt vielen Medienmachern rund um den Globus als Vorbild. Es schien der logische Weg, um die Information nicht dem Fernsehen und den elektronischen Medien ganz zu überlassen.
Der moderne Mensch – so die These – nimmt sich wenig Zeit, um zu lesen und schon gar nicht für anspruchsvolle Texte. Im Fernsehen ist in 1:30 alles gesagt. Und auch die Rundfunkkommentare, die in den 1960er Jahren noch fünf Minuten lang sein durften, müssen in unserer hektischen Welt kürzer werden. Doch die Devise „kurz, kurz, kurz“ erwies sich für die Zeitung als Irrweg. Das zeigen die Theodor-Wolff-Preis-gekrönten Texte der vergangenen Jahre. Kurz zu sein, garantiert keine Aufmerksamkeit. Meinungsforscher sagen inzwischen, das Gegenteil ist der Fall.
Mit dem emotionalen Bild, der aufrüttelnden Schlagzeile, der schnellen Nachricht kann die Zeitung den Wettlauf gegen die elektronischen Medien nicht gewinnen. Sie hat den eindringlichen Text, die gründliche Information, die bewegende Reportage den elektronischen Medien voraus. Hier müssen sich die Zeitungen behaupten. Es klingt altmodisch: Aber Theodor Wolff weist mit seinen intensiven Analysen, Essays, Erzählungen auch für die modernen Zeiten den richtigen Weg.
Emotionen wecken Aufmerksamkeit
Die Texte, die in den vergangenen 20 Jahren mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wurden, zeigen die Stärke der Zeitung. Sie faszinieren und bewegen. Auch in ihnen spiegelt sich freilich der Umsturz der Medien wider. Die preisgekrönten Artikel sind emotionaler und persönlicher geworden. Es sind eher Geschichten als Analysen oder grundsätzliche Betrachtungen. Da ist der Herzkranke, der – fast ohne Hoffnung – über Wochen hin auf sein neues Herz wartet; der kleine Junge, den die Eltern in die Babyklappe legen und dann doch zurückholten, zu ihrem Glück; das Multikulti-Haus in Kreuzberg oder das Portrait des Fotografen, dessen Leben es war, Lady Di immer im Sucher zu haben. Texte, die – auch wenn es um einzelne Schicksale geht – Fragen an die Gesellschaft stellen.
In den letzten Jahren wurden immer wieder Artikel auch ausgezeichnet, in denen Journalisten über persönliche Erfahrungen berichteten, über den Konflikt, der sich an der Rolle des Vaters bei der Erziehung der eigenen Kinder entzündet; über die Gefühle des Journalisten als er einer Partei beitritt; über das glückliche Leben mit dem eigenen behinderten Kind. Brillante Texte, emotionaler und oft fesselnder als jene, die früher ausgezeichnet wurden.
Doch dies hat eine Kehrseite, die zwingt, über die Medienwelt nachzudenken. Beiträge, die sich mit großen politischen Themen oder gesellschaftlichen Fragen beschäftigen, sind unter den preisgekrönten Arbeiten rar geworden. Vor 25 Jahren (1987) gingen drei Preise an Essays über die Barschelaffäre, Lothar Späths Aufstieg und die provozierende Behauptung: „Deutschland ist teilbar." Vor vierzig Jahren (1971) wurden Texte ausgezeichnet, die untersuchten, wie die Proteste der 68er das Denken der Gesellschaft verändert hatten oder welche Rolle das Fernsehen für die Entwicklung eines Politikers spielte. Eher grundsätzliche Analysen.
Bilder und Worte
Kommen wir noch einmal auf die Bilder zurück. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte!" Eine chinesische Weisheit, heißt es. In Wahrheit erfand der britische Werbefachmann Fred R. Barnard vor neunzig Jahren diesen Satz. Er wurde zum medialen Glaubensbekenntnis. „Am Anfang war das Wort!" Ein absurder Gedanke. „Am Anfang war das Bild!" Bewegende Bilder, anrührende Schicksale faszinieren den Leser stärker als die nüchterne Analyse. Nur: Bieten „menschliche Schicksale" und „erschütternde Bilder" tatsächlich immer die „besseren Argumente", wie manche Medienexperten sagen? Beschwören sie nicht die Gefahr herauf, dass Gefühle die Vernunft überwältigen?
Jede Gesellschaft, auch die reichste, auch die gerechteste, produziert Tag für Tag „erschütternde Bilder" und „bewegende, menschliche Schicksale". Sogar in der Natur, die vielen als das Gute schlechthin erscheint, ist das Erschütternde allgegenwärtig, so wenn der Gepard die Antilope tötet oder ein Tsunami die Küsten überrollt. An erschütternden Bildern ist in unserer Medienwelt nie Mangel. Aber sagen Bilder, was sie sagen?
Zum Sinnbild des ersten Golfkriegs wurde ein ölverschmierter, totgeweihter Kormoran. Das Bild rüttelte die Menschen auf, als Saddam Hussein Öl in den Golf laufen ließ. Experten warnten, das brennende Öl werde das Klima zerstören. Der sterbende Kormoran hatte freilich den Golf nie zu Gesicht bekommen. Sein Bild lag im Archiv, wo es kampagnenfähige Journalisten fanden und als Mahnung publizierten. Es ging um den Frieden in der Welt!
Bilder, die kommentieren
Die Bilder auf den vorderen Zeitungsseiten sind oft eher Kommentare als Dokumente. Der ölverschmierte Kormoran belegt ja nicht, was er angeblich belegt. Da schlittert die Regierung in eine Krise und das Foto zeigt die entgleisten Gesichtszüge der Kanzlerin. Jetzt weiß der Dümmste, was los ist. In Wahrheit hat das Bild in der Regel mit der Krise nichts zu tun. Es wurde irgendwann aufgenommen und lag im Archiv. Bilder führen in die Irre, wenn man sie nicht einordnen kann.
Medien, die jede „Katastrophe" rund um den Globus in Sekundenbruchteilen in unsere Wohnzimmer bringen, zeigen eine Welt, die von Unheil, Gefahr, politischem und gesellschaftlichem Versagen geprägt ist. Dioxin steckt in den Eiern, Millionen Tonnen Erdöl laufen im Golf von Mexico ins Meer, ein Anschlag auf dem Moskauer Flughafen kostet 36 Menschen das Leben, in Duisburg endet die Love-Parade mit 21 Toten. Und obendrein Stuttgart 21, Guttenberg, Fukushima und Sarrazin!
Verblüffend nur, dass wir in dieser Welt des Rinderwahns, Dioxins und der Pestizide immer älter werden. „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind's 80 Jahre", lehrt die Bibel. In Wahrheit wurden damals die wenigsten auch nur siebzig Jahre alt. Die erste überlieferte Sterbetafel – 1693 in Breslau erhoben – zeigt: noch vor 300 Jahren war die Hälfte der Menschen mit zwanzig Jahren tot.
Seit 2008 aber ist das biblische Alter von achtzig Jahren in Deutschland der Normalfall. Weltweit ist die Lebenserwartung des Menschen in den letzten zwanzig Jahren um vier Jahre gestiegen. Was nicht hindert, dass wir unter dem Titel „Unser täglich Gift" immer wieder gezeigt bekommen, wie uns moderne Lebensmittel – „vollgepumpt mit chemischen Stoffen" – vom Leben zum Tode befördern. Dass die Lebenserwartung so dramatisch gestiegen ist, hat aber nichts mit Bio oder Öko zu tun, sondern mit Technik, Medizin und menschengemachter Chemie. Immer weniger Krankheiten „nehmen heute einen tödlichen Ausgang", meldete vor Jahren das Statistische Bundesamt. Auch andere „Lebensgefahren", wie verdorbene Lebensmittel, Mutterkorn, Schimmel, Fleischvergiftung (Botulismustoxin), an denen früher Millionen starben, spielen in den Industriegesellschaften keine Rolle mehr.
Die journalistische Wahrheit, dass die schlechte Nachricht die gute Nachricht ist, hat eine neue Dimension bekommen. Einmal, weil es in der vernetzten Welt unendlich viele „schlechte“ Nachrichten gibt; zum anderen weil der Druck wächst, emotionaler, skandalisierender zu berichten, um den Bürger zu erreichen. Gewiss ist es manchmal nötig, dass Journalisten mit erschütternden Bildern „argumentieren" oder „Kampagnen fahren", um Missstände aufzudecken. Doch dies ist nicht alles, ja noch nicht einmal das Wichtigste. In den frühen Jahren des Theodor-Wolff-Preises schrieb DoIf Sternberger über die Rolle der „Journalisten im Staatsleben: „Der erste und wahrhaft elementare Beitrag der Journalisten zum Staat – das Erste, was sie ... für den Staat tun, auch tun müssen und tun sollen – ist nicht zu regieren oder die Regierung zu beraten, ist nicht zu opponieren, nicht zu kritisieren, nicht zu kontrollieren und es ist auch nicht die Meinungsbildung und es ist auch nicht die Willensbildung. Sondern das Erste ist die Information, die Nachricht. Die Unterrichtung... Sie werden mir sagen: Das ist eine Binsenwahrheit. ... Binsenwahrheiten haben es vielfach an sich, dass man sie übersieht und vergisst."
Wo Pressefreiheit herrscht und jedermann lesen kann, da ist Sicherheit.
Nüchterne Information ist heute – inmitten der Flut der Bilder, Emotionen und Informationen, die auf den Bürger nieder geht – schwieriger geworden. Zumal in der modernen, arbeitsteiligen Welt ungezählte, oft dramatisch widersprüchliche Interessen miteinander konkurrieren. Ihnen muss die Politik gerecht werden, so gut es geht. Und oft geht es nicht. Wir fordern den Atomausstieg (sofort) und natürlich keine Kohlekraftwerke (des Klimas wegen). Aber genügend Strom (aus der Steckdose) und alle Energie, um die Arbeitsplätze zu sichern. Eine solche Gesellschaft im Widerspruch können „erschütternde Bilder" und Emotionen nicht erklären, im Gegenteil, sie vernebeln und befördern Politikverdrossenheit. Trotzdem kokettieren wir damit, in einer Gesellschaft der „Wutbürger" zu leben; wir lieben unsere Wutbürger fast. Aber kann sich ein demokratischer Staat wünschen, dass „Wutbürger" über die Zukunft der Gesellschaft entscheiden. „Wo Pressefreiheit herrscht und jedermann lesen kann, da ist Sicherheit“, schrieb Thomas Jefferson, der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Doch gilt Jeffersons Satz in unserer emotionalen, manchmal hysterischen Gesellschaft? Er unterstellt, dass die Medien den Bürger, den Souverän im demokratischen Staat, so klar und unvoreingenommen informieren, dass der sich sein Urteil bilden kann. Dies ist schwieriger geworden. Der Mensch greift tiefer in die Natur ein, als je zuvor in der Geschichte. Die Folgen sind oft schwer abzuschätzen. Unser Blick in die Zukunft ist unsicherer auch für die Medien. Der Philosoph Hermann Lübbe, nennt es „Zukunftsgewissheitsschwund".
Doch genau das setzt – wenn man an die aufklärerische Rolle der Medien glaubt – das Maß für den „Qualitätsjournalismus". Journalisten dürfen sich nicht auf Emotionen, Skandale und aufrüttelnde Bilder beschränken. Sie müssen, so gut sie es können, die Fakten in ihrer ganzen Breite dem Menschen nahebringen, damit der sich sein Urteil bilden kann. Und da sind – gerade in unserer bildlastigen Welt – vor allem die Zeitungen gefordert.