Der Mann, der alle erreicht
Von Thomas Löffelholz
Es ist wahr: Er hat Besseres verdient, als dass sein Lebenswerk von jemandem gewürdigt wird, der über nichts als Politik, Politiker und Ökonomie geschrieben hat. – Obwohl ... Joachim Kaiser wurde von einer Jury ausgezeichnet, in der kein Musikkritiker sitzt und noch nicht einmal ein Feuilletonist. Kaiser hat einfach alle fasziniert, weit über die Musik- und Theaterwelt hinaus. Kann man über einen Journalisten Besseres sagen? – Experten lobten ihn an seinem 80. Geburtstag als den »zweifellos größten Musikkritiker des Landes«. Als Theater kritiker ragt er heraus. Wer seine Kritiken und Essays liest, ist von dem ungeheuren Wissen fasziniert, das da ausgebreitet wird. Kein Wunder, dass ein Urteil auch von jenen ernst genommen wird, über die er schreibt, von Musikern, Dirigenten, Sängern. Goethes Wut – »Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent « – hätte Kaiser nie getroffen.
Noch wichtiger aber: Er schreibt nicht nur für Musiker und Theaterleute, noch nicht einmal nur für seinesgleichen, die Feuilletonisten, für die viele Feuilletonisten am liebsten schreiben. Sein Publikum sind auch nicht allein die Kulturbegeisterten. Er will jenen erreichen, der nicht ahnt, welche Probleme der langsame Satz der fis-Moll-Klaviersonate von Schumann stellt. »Wer sich über Kunst äußert, sollte es so tun, dass es jeder verstehen kann, der sich beim Lesen etwas engagierte Mühe geben mag.« Das ist Kaisers Maß. Es ist das Maß aller guten journalistischen Arbeit. Der Leser, auch der Laie, muss es verstehen.
Kaiser schreibt klar und er erklärt dem Unkundigen leidenschaftlich gern Details der Musik oder des Theaters, die der Leser nie entdeckt hätte. Dabei ruft er sich nicht zum Kulturpapst aus. In jeder Kritik steckt ein subjektives Urteil: »Man muss seine Argumente plausibel darlegen, aber Beweise finden in der künstlerischen Sphäre nicht statt.« Und er fordert Verantwortung beim Journalisten: »Ohne ein gewisses Ethos geht es nicht«. Er gebe sich auch bei »kleinsten Meldungen oder Kommentaren immer die größte Mühe«.
Die Medienwelt ist in den letzten Jahrzehnten lauter geworden. Sie lebt von Skandalen, vom Unerhörten, und produziert es oft selbst. Auch die Sprache wird lauter, jubelnder, verdammender. Umso faszinierender, dass Joachim Kaiser eher leise schreibt, behutsam. Vernichtende Kritik findet man bei ihm kaum. Er will, auch wenn ihm etwas nicht gefällt, darüber »so urteilen, dass man nachher mit dem Autor reden kann. Ein Kritiker mit Schaum vor dem Mund wirkt doch komisch.«
Wobei Joachim Kaiser den Leser trotzdem wissen lässt, ob ein Buch, eine Aufführung, ein Theaterstück gut ist oder schlecht ... und vielleicht auch gar nichts. Seine Urteile sind für die Theatermacher nicht immer bequem. Er ist einer der wenigen Feuilletonisten, die dem Regietheater kritisch gegenüberstehen, und er begründet dies sehr genau. König Lear als modernen Industriellen darzustellen, der »keine Verse spricht, sondern im bayerischen Tonfall nuschelt«, ist nur lächerlich. Er wird dem Genie Shakespeares, der Faszination seiner Sprache, nicht gerecht.
Und jenseits der Musik- und Theaterkritik? »Im Falle eines Falles, schreibt Kaiser über alles«, soll man in der Süddeutschen Zeitung gesagt haben. Das ist übertrieben. Denn »ich war nie sehr politisch. Ich spürte, dass meine ästhetische Lebensform die mir gemäße ist.« Doch auch dies stimmt nicht ganz. Schon als 24-Jähriger stieß er zur Gruppe 47. Im Kreis dieser Kriegsteilnehmer dominierte die Literatur, aber unpolitisch war man nicht. Kaiser selbst hatte als 16-Jähriger die totale Niederlage erlebt. Das Ausmaß der Katastrophe hat er später »ein großes Glück« genannt. 1945 konnte man nichts mehr schönreden. Man musste neu anfangen, und genau dies schuf – zum Beispiel in der Gruppe 47 – eine geistige Aufbruchstimmung, die die Nachgeborenen oft übersahen. Kaiser nennt sich deshalb einen Alt-45er, bewusst als Gegenpol zu den (Alt-)68ern.
1966 bekam er schon einmal den Theodor-Wolff-Preis: Für ein »Plädoyer gegen das Theater-Auschwitz«. Auf fünfzehn deutschen Bühnen wurde damals an einem Tag Peter Weiß’ »Ermittlung« uraufgeführt, die den großen Prozess gegen KZ-Wächter aus den 60er Jahren dokumentiert. Ein Spektakel! Kaiser warnte: »Wird da nicht der unselige, aber typisch deutsche Versuch gemacht, auf dem Theater Ersatzentscheidungen herbeizuführen, während man sich um reale Sinnesänderungen herumdrückt?« Auschwitz war kein Theater.
Was er sagt, zwingt den Leser nachzudenken. Kann man sich als Journalist mehr wünschen? Er hat mit seinen Texten alle erreicht und fasziniert – immer wieder.