Der Mann, der die Wüste aufhielt
von Andrea Jeska
Jahrelang bekämpften Entwicklungshelfer den Hunger in der Sahelzone. Vergeblich. Dann kam ein Bauer, pflanzte einen Wald und machte den Boden fruchtbar.
Es sind die Wochen vor dem Regen, als der alte Mann die Samen des Affenbrotbaumes in die Erde legt. Noch einmal sät er. Ernten wird er nicht mehr. Zehn Jahre dauert es, bis die Bäume die ersten Blüten tragen. Der alte Mann wird dann schon tot sein. 40 Jahre vergehen, bis die Bäume so stark sind, dass sie den Stürmen und hungrigen Tieren standhalten. Auch die Söhne des alten Mannes werden dann nicht mehr leben.
Seine Enkel und Urenkel aber werden einmal die Früchte der Bäume essen, die er im Jahr 2012 gepflanzt hat. Sie werden die Samenkörner kauen und aus den Blättern einen dicken Brei kochen, der gegen Ruhr und Koliken hilft. In feuchten Jahren werden sie die Bäume wachsen lassen. In trockenen Jahren werden sie die Bäume wässern. Und vielleicht werden sie sagen: Das sind die Bäume von Yacouba Sawadogo.
70 Jahre ist er alt, ein großer, ergrauter Mann, der langsam müde wird und ahnt, dass sein Leben zu Ende geht.
Für die neuen Bäume hat sich Yacouba ein Stück Land gesucht, das seit Generationen niemand bestellt hat. Land, das niemandem gehört. Höchstens Gott. Und dem Wind und der vorwärtskriechenden Dürre, die die Hirse vertrocknen lässt, bevor die Halme auch nur so hoch gewachsen sind wie ein Kind.
Die gebackene rote Erde ist rissig wie ein altes Stück Papier. Kein Baum stand je auf diesem Land im Norden von Burkina Faso, inmitten der westafrikanischen Sahelzone. Das Wort Sahel kommt aus dem Arabischen. As sahil bedeutet Ufer. Es ist das Ufer der Wüste.
Lange vor der Regenzeit hat Yacouba mit der Arbeit begonnen. Die Löcher für die Samenkörner haben einen Durchmesser von 60 Zentimetern und sind 30 Zentimeter tief - doppelt so groß wie jene, die man für die Samen von Tamarinden-, Niem- und Nérébäumen braucht. Man kann diese Löcher nicht graben, man muss sie hacken. Die ersten Schläge der Spitzhacke lassen die krustige Oberfläche platzen, kleine Steine fliegen davon. Erst nach vielen weiteren Schlägen wird der Boden weicher.
Jahrelang hat Yacouba alleine gehackt. Fern den Feldern der anderen Männer, fern den Häusern des Dorfes. Sein Schatten war der einzige Schatten, das Geräusch seiner Hacke das einzige Geräusch. Nur Ziegen liefen um ihn herum. Monat für Monat, Jahr für Jahr ging er einsam seiner Arbeit nach, eine dunkle, hohe Silhouette unter einer zu heißen Sonne. »Ein Verrückter«, so sprachen die Männer im Dorf.
Im Norden von Burkina Faso, in der Provinz Yatenga, pflanzte Yacouba alleine einen Wald. Er machte unfruchtbare Erde fruchtbar, er ließ Hirse sprießen, wo Ödnis war, er schuf kühlenden Schatten, wo die Sonne brannte.
So rang der Ackerbauer Yacouba Sawadogo dem harten Nichts einen Garten Eden ab.
Man weiß nie, wann eine Erzählung wirklich beginnt. Der Anfang dieser Erzählung liegt vielleicht in uralter Zeit, als die Menschen begannen, Samenkörner in die Erde zu legen, und die Natur ihnen nicht entgegenkam. Als die Ernte vertrocknete oder nicht ausreichte und der Dürre der Hunger folgte. Vielleicht beginnt diese Erzählung aber auch erst in den frühen fünfziger Jahren, als Yacouba Sawadogo, Kind armer Bauern, auf eine Koranschule in Mali geschickt wurde, aber nicht lesen und schreiben lernte, trotz aller Mühe. Heute, 60 Jahre später, sagt der alte Mann Yacouba über den kleinen Jungen Yacouba, er sei wohl nicht klug genug gewesen. Zudem war er der kleinste und schwächste aller Schüler. Nur eines wusste der Junge besser als die anderen: wo die Bäume am grünsten waren und am höchsten wuchsen und wie sich aus ihrer Rinde und ihren Blättern Medizin machen lässt.
Spätestens aber beginnt die Erzählung in jenem Augenblick, der zur Legende wurde. Nach zehn Jahren vergeblichen Bemühens um den Jungen Yacouba schickte die Schule ihn nach Hause. An seinem letzten Tag wurde er zum Scheich gerufen, dem Leiter der Koranschule. Der Junge erwartete Vorwürfe, doch der Scheich prophezeite ihm Großartiges. »Du wirst ein Weiser sein«, sagte er zu Yacouba. Eines Tages, fuhr der Scheich fort, wenn Yacouba alt sei, würden viele Menschen seinem Weg folgen, und selbst kluge Männer aus fernen Ländern würden ihn um Rat bitten.
Der alte Mann hat kein Telefon, und die Post erreicht ihn selten. Wer Yacouba Sawadogo besuchen will, muss nach ihm fragen in Ouahigouya, einer kleinen Stadt, 182 Kilometer von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou entfernt. Muss nach ihm fragen auf dem Markt und wird weitergeschickt in das Dorf Gourga, wo Kinder auf einen Weg deuten, an dessen Ende der alte Mann in seinem Wald sitzt. Einfach auf der Erde sitzt und die Vögel mit Hirsekörnern füttert.
Was der Scheich ihm einst verkündete, sagt Yacouba, habe er nie bezweifelt, auch wenn er sich lange gefragt habe, wie ausgerechnet er dazu komme, anderen den Weg zu weisen - und wohin der wohl führen werde.
Als er seine ersten Samen gesät hatte, erinnerte sich Yacouba an den Aufruf des Korans, ein Mann solle Bäume pflanzen und von der Schöpfung nicht nur nehmen, sondern ihr auch etwas geben. Der Wald ist Yacoubas Gabe an die Schöpfung.
Yacoubas Wald, wie die Leute das Stück Land nennen, ist ein Ganzkörpererlebnis aus Kühle und Schatten, aus Vogelgesang und Bienengesumm. Mit Stämmen und Hirsestroh hat Yacouba einen Unterstand gebaut. Hasen laufen an Bäumen vorbei, Echsen funkeln. Der Wald ist ein Ort, der lebt, wo einst nur Hitze war.
Weil Yacouba dieses Wunder vollbrachte, kommen die Menschen heute zu ihm. Yacouba hält Lehrstunden für andere Bauern ab, empfängt Kranke, die Medizin brauchen, und Agrarexperten aus Europa und Amerika. Sie alle kommen, um zu lernen. Über die Besuche führt Yacouba ein Gästebuch, ein viele Seiten dickes internationales Manifest des Staunens und der Anerkennung.
Alles an Yacouba ist ruhig, seine Bewegungen, seine Stimme, seine Hände. Alles an ihm ist gerade, die äußere und die innere Haltung. Man braucht Ausdauer, um seine Entschlossenheit zu spüren, man braucht Zeit für seine Geschichten, die nie geradeaus führen, sondern wandern und stolpern, schneller werden und stehen bleiben. Man braucht Hingabe, wenn man ihm über die Felder und durch den Wald folgt.
Im Jahr 1952 schrieb der französische Schriftsteller Jean Giono folgenden Satz: »Dieser Mensch verbreitete Frieden um sich [...], er erweckte den Eindruck, dass ihn nichts zu stören vermöge.« So beschrieb Giono den Schäfer Elzéard Bouffier, einen Mann, der in einer abgelegenen Gegend der Provence alleine einen Eichenwald pflanzte. Heute würde er mit diesen Worten vielleicht Yacouba Sawadogo beschreiben.
Der gescheiterte Koranschüler kehrte 1960 in seine Heimat zurück und begann damit, Haushaltswaren zu verkaufen auf dem Markt des Städtchens Ouahigouya. In den Jahren zuvor hatte es böse Missernten in Burkina Faso gegeben, es waren Jahre der Trockenheit, Jahre des Hungers. Womöglich wäre Yacouba sein Leben lang ein Händler geblieben, wäre Anfang der achtziger Jahre nicht eine neue Dürre über die Sahelzone auf die Provinz Yatenga zugekrochen.
50 Millionen Menschen hungerten, man kann nur schätzen, wie viele starben, vermutlich eine Million. Kein Halm wuchs, kein Tropfen befeuchtete den Boden. In Scharen flohen die Menschen aus ihren Dörfern, nach Ouahigouya und in andere Städte. Sie hofften, dem Hunger zu entkommen, doch in den überfüllten Städten fanden sie nur neue Not. Sie bekamen keine Hütten, sie bekamen nichts zu essen. »All das Sterben«, sagt Yacouba und hebt die Hände plötzlich gegen die Vögel, als sei ihre Lebendigkeit seiner Erinnerung im Weg. »All die Verzweiflung.«
Diese Zeit, sagt Yacouba, war die Zeit seiner Verwandlung: Erschrecken vor dem Elend, Ekel vor dem Geld, das er als Händler verdiente in dieser Zeit des Sterbens. Dann ein inneres Wachsen. Klarheit. Gottvertrauen. Kraft. Er verkauft alles und kehrt zurück in sein Dorf, dem Flüchtlingsstrom entgegen. Dort nimmt er seine Hacke und geht dahin, wo nichts ist. Nur leere Wüste. Geht mit dem Willen, die Wüste fruchtbar zu machen. Sie ist nicht sein Feind. Sie ist jetzt seine Zukunft.
Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es ist mehrheitlich bewohnt von den nomadischen Fulbe und den sesshaften Mossi, die von Ackerbau und Viehzucht leben und fünf Könige haben, einer ist der König der Provinz Yatenga.
Burkina Faso hat nur im Süden fruchtbaren Boden. Um die Hauptstadt herum ist das Land noch grün, wachsen Bäume und kleine Wälder. Doch je weiter man nach Norden kommt, desto karger wird die Erde, desto heißer die Luft. Nur vereinzelte Bäume unterbrechen die Linie des Horizonts. Hier liegt Yacoubas Heimat. Männer führen von Eseln gezogene Pflüge, Frauen schlagen mit kleinen Hacken auf den Boden ein. Die uralte Methode, solch spröde Äcker zu bestellen, nennt man in der Sahelzone Zaï.
Zaï ist die Kurzform des Wortes zaïégré, das übersetzt bedeutet: früh aufstehen und den Boden bearbeiten. Zaï wird überall dort praktiziert, wo der Boden so trocken ist, dass jeder Regen in den krustigen Spalten und Kerben versickert. Zaï bedeutet: Löcher graben, wo graben eine mörderische Arbeit ist, meist 20 Zentimeter breit, 20 Zentimeter tief. 60 Tage lang muss ein Mann fünf Stunden täglich die Erde aufhacken, will er einen Hektar dieses wasserarmen Landes zur Saat vorbereiten. Einzeln werden die Samen dann in die Löcher gesetzt und mit Erde bedeckt. Jahrhundertelang wurde so gesät. Jahrhundertelang kam immer wieder die Dürre, und die Samen vertrockneten in der Erde.
Jede Generation in der Sahelzone hatte ihre Hungerzeit. In den sechziger Jahren kamen Franzosen, Deutsche, Amerikaner in die Länder am Südrand der Sahara und initiierten Projekte, die mit »Wieder-« begannen: Wiederbegrünung, Wiederaufforstung, Wiederfruchtbarmachung des ausgelaugten Bodens. »Intensivierung« wurde eine Art Modevokabel westlicher Entwicklungshilfe. Der Hunger war nicht länger nur eine afrikanische Plage, er wurde jetzt als globale Herausforderung verstanden, die sich mit den Methoden der modernen Landwirtschaft bewältigen lässt, mit Geld und Technik. Entwicklungshelfer brachten vollautomatische Pflüge in die Sahelzone, sie ersannen Bewässerungssysteme, bohrten Brunnen, belehrten die Bauern und priesen den künstlichen Dünger und den Anbau schnell wachsender Pflanzen wie Baumwolle. Sie dachten, so lasse sich die Dürre überlisten und der Hunger besiegen. Doch die Pestizide, die Maschinen, die Baumwollsträucher laugten den Boden vollends aus, und schließlich warnten Experten vor einem Kollaps der Nahrungsversorgung. In der Sahelzone waren bereits 80 Prozent des Landes kultiviert, es gab keine Brache mehr. Der Boden konnte sich nicht erholen.
Die tödliche Dürre Anfang der achtziger Jahre markierte das Ende der westlichen Weisheit. Das Fernsehen zeigte Bilder von Flüchtlingen, Hungernden, toten Menschen, toten Tieren. Die Bilder bewiesen vor allem eines: Zwischen den Absichten der Industrieländer und der Wirklichkeit der Entwicklungsländer gab es eine unüberwindbare Kluft. Einträge in seinem Gästebuch lesen ihm seine Söhne vor.
Yacouba ist ein Analphabet, aber Analphabetismus ist ein Begriff aus Europa. Das Alphabet Afrikas ist anders beschaffen, ist weitergetragenes Wissen der Generationen. Kein Handbuch über Landwirtschaft wurde hier je geschrieben. Man ackerte und holte die Ernte ein, wie es schon die Väter taten.
Zaï war langen Dürrezeiten nicht gewachsen. Das zu erkennen war vielleicht Yacoubas größte Leistung. Er wagte etwas Neues. Er vergrößerte die Zaï-Löcher und erfand eine neue Art von Dünger, indem er die Samen mit einer Mischung aus Blättern, Viehdung und Asche ummantelte. Er schützte sie, indem er eine dicke Schicht weicher Erde daraufpackte. Er gab ihnen Feuchtigkeit, indem er vor der Regenzeit mit der Saat begann und Reihen von Steinen auf den Boden legte, um den Fluss des Regenwassers aufzuhalten. So bewahrte er die Samen vor der Hitze und gab ihnen Kraft zum Wachsen.
Schon die erste Ernte war groß, sie füllte Yacoubas Hirsespeicher, und die Nachricht drang bis Ouahigouya. Jetzt kamen die Hungernden zu ihm, und er gab, solange er zu geben hatte.
30 Jahre ist es her, dass Yacouba Sawadogo zum ersten Mal die Hacke schwang. In diesen 30 Jahren sind die Menschen nach Gourga zurückgekehrt, beseelt von einer Hoffnung, die keine der großen Hilfsorganisationen brachte, sondern einer der Ihren. Ein einziger Mann. In diesen Jahren hat sich der Grundwasserspiegel von Gourga gehoben, weil die Bäume die Feuchtigkeit speichern, und Hunderte Hektar Wüste haben sich in Ackerland verwandelt. In diesen Jahren musste Yacoubas Familie - drei Frauen und inzwischen 60 Kinder und Enkelkinder - nie hungern. In diesen Jahren experimentierte Yacouba, veränderte die Düngerzusammensetzung, sodass Termiten angezogen wurden, die den Boden aufwühlten. Regenwasser dringt nun leichter ein. Yacouba lernte, welcher Baum unter welchen Bedingungen am besten wächst, er stellte aus Rinde und Blättern, aus Früchten und Blüten Medizin her.
Der beste Beweis für Yacoubas Können aber ist sein Wald, 30 Hektar ehemals totes Land, 42 Fußballfelder, auf denen 60 verschiedene Bäume und Sträucher wachsen, die größte Artenvielfalt in diesem Teil der Sahelzone. Niembäume, deren fiedrige Blätter viel Schatten geben, hat Yacouba gepflanzt wegen der heilenden und pflegenden Eigenschaften ihrer Rinde, wegen ihrer nahrhaften Früchte, die im Sommer wachsen, kurz vor der Regenzeit, dann, wenn die Ernte des Vorjahres meist verbraucht und die des laufenden Jahres noch nicht eingebracht ist. Dornakazien hat Yacouba gepflanzt, weil die Ziegen gern daran knabbern, Tamarindenbäume, weil sie Früchte und hartes Holz geben. Nérébäume, weil deren Trauben wertvolle Mineralien enthalten. Karitébäume, weil man daraus Sheabutter machen kann, die gegen trockene Haut hilft, und Medizin, die Gelenkschmerzen lindert.
Sosehr Yacouba für die einen zum Heilsbringer wurde, so sehr wurden ihm andere zum Feind. Yacouba bringe Unglück, hieß es, weil er die Traditionen missachte: Zaï dürfe man nicht vor der Regenzeit praktizieren. Als aber die Sprösslinge zu jungen Bäume heranwuchsen, als Yacoubas Felder voller Hirse standen, sagten die Leute im Dorf, er sei mit den bösen Mächten im Bunde. Sie legten Feuer an seine Felder, an seinen kleinen Wald. Die ersten vier gepflanzten Hektar fielen den Flammen zum Opfer. Die Täter zu identifizieren war nicht schwer. Yacouba hätte sie anzeigen, sie zur Rede stellen können. Er tat nichts dergleichen. »Es bringt einem Mann nichts, wenn er behauptet, er habe recht. Es ist besser, die Dinge unter Beweis zu stellen. Bis die anderen sagen: Der hat recht.« Er klagte nicht, er richtete nicht. Er begann von vorn.
Mitte der achtziger Jahre hörten die Menschen auf, in Yacouba einen Verrückten zu sehen. Sie fingen an, mit Respekt von ihm zu sprechen. Damals reiste der holländische Geologe Chris Reij durch den Norden von Burkina Faso. Reij war unterwegs im Auftrag des Zentrums für Internationale Kooperation an der Universität von Amsterdam. Dort suchten Wissenschaftler nach Möglichkeiten, den Boden fruchtbar zu machen und der Wüste Ertrag abzuringen. Reij hörte von diesem Mann, der ödes Land begrünt, und war elektrisiert. Heute sagt er: »Es war eine Zeit des Scheiterns. Ich hatte so viele schlechte, sinnlose Projekte gesehen, dass ich schon glaubte, wir würden das Problem des Hungers nie in den Griff bekommen. Dann traf ich Yacouba, und es war wie ein Lichtstrahl. Dieser Mann ist ein Visionär.«
Seit jener Zeit kehrt Chris Reij regelmäßig nach Gourga zurück, auch dieses Jahr ist er wieder dort, ein Mann Anfang 60 mit der Begeisterungsfähigkeit eines Kindes. Längst sind er und Yacouba Freunde, Bewunderer des jeweils anderen. Bis heute ist Reij von Yacoubas steten Neuerungen begeistert, beugt sich über jedes Zaï-Loch und rennt von Feld zu Feld. »Vor 20 Jahren stand hier nur ein Baum!«, ruft er und sprudelt Zahlen heraus: 1,4 Milliarden hungernde Menschen weltweit, die Hälfte Kleinbauern. Und jetzt, durch die neuen Anbaumethoden, würden zumindest in der Sahelzone zehn Prozent mehr Menschen satt. Mit Zaï, wie Yacouba es praktiziere, könne man die Produktion von null Kilogramm pro Quadratmeter schon bei der ersten Ernte auf acht Kilo steigern.
Von der Amsterdamer Universität ist Reij inzwischen zum World Resources Institute in Washington gewechselt, aber Yacouba ist sein Held geblieben. In den neunziger Jahren holte Reij Bauern aus dem Niger und aus Mali nach Gourga, damit ihnen Yacouba sein Wissen vermittle. »Im Niger ist Yacoubas Zaï inzwischen noch viel erfolgreicher als hier. Tausende Farmer praktizieren es dort mit großem Erfolg. Überall ist der Grundwasserspiegel gestiegen, überall gibt es Familien, die keinen Hunger mehr kennen. Yacoubas Einfluss ist größer als der aller nationalen und internationalen Experten zusammen.«
Wer Reij fragt, warum Yacouba das gelang, woran teuer bezahlte Spezialisten scheiterten, hört vorsichtige Sätze über das Überlegenheitsgefühl der Weißen, das die Entwicklungshilfe bis spät in die neunziger Jahre bestimmt habe. Konzepte seien erfunden worden, die den Bedingungen, der Kultur und den Traditionen nicht angepasst gewesen und nach kurzer Zeit fehlgeschlagen seien. »Damals hatten wir alle keine Ahnung, erst jetzt sind wir so weit, dass wir auf die Eigeninitiative der Bauern setzen und die Landwirtschaft mit einfachen Mitteln beleben wollen«, sagt Reji. »Die Lösung sind nicht Großprojekte, sondern es ist eigener Wille. Wenn Millionen von Farmern Zaï praktizieren, wenn sie Millionen von Bäumen pflanzen und im Schatten dieser Bäume Milliarden von Hirsesamen säen, dann ist der Hunger in der Sahelzone eines Tages vorbei.«
2007 traf der Kameramann Mark Dodd, der damals für die BBC arbeitete, durch Zufall auf Yacouba. Die Begegnung hat Dodds Leben verändert, und nicht nur seines. »Ich sah Yacouba, wie er allein vor dem Horizont stand, auf einer endlosen ausgetrockneten Fläche, und Loch um Loch hackte. Unermüdlich, unablässig. Es war, als sei ich einem Titanen begegnet«, sagt Dodd.
Er kündigte bei der BBC und gründete seine eigene Produktionsgesellschaft, 1080 Films, um eine Dokumentation über Yacouba zu drehen. Bei seinen Recherchen stieß er auf Reij, der ihm half, den Film zu finanzieren. Mit Laiendarstellern aus Yacoubas Familie stellte Dodd Yacoubas Kindheit in Mali, die erfolglosen Jahre in der Koranschule, die Hungersnot und die Flucht aus den Dörfern und die arbeitsreichen ersten Jahre nach. Und er gab Yacouba einen Namen. Der Schriftsteller Giono nannte seine Erzählung einst Der Mann, der Bäume pflanzte, Dodd nannte seinen Film Der Mann, der die Wüste aufhielt. Auf Dutzenden von Filmfestivals wurde er gezeigt, auch im Freilichtkino von Ouahigouya. »Das war die schönste Vorführung«, sagt Dodd. »Das Kino war voll. Die Leute haben gelacht und gejubelt.«
Yacouba bestellt sein Land nicht mehr allein. Nach 30 Jahren, in denen erst nur er, dann auch seine Söhne die harte Arbeit verrichteten, ist er bekannt geworden. Er hat jetzt - durch den Verkauf des überschüssigen Getreides und durch Spenden - genügend Geld, um sich fremde Hilfe zu holen. Und er hat Schüler. Jede Woche kommen Bauern aus einem anderen Dorf zu ihm. Gemeinsam schlagen sie auf die Erde ein, als wollten sie ihr die Unfruchtbarkeit austreiben. Viele von Yacoubas Schülern sind Frauen, die von ihren Männern verlassen wurden oder verwitwet sind. Sie führen ein Leben, das in der Sahelzone oft mit dem Hungertod endet. Land zu beackern, das ihnen keiner streitig macht, ist für die Frauen die einzige Möglichkeit, sich zu ernähren. »Wenn ihr bereit seid, hart zu arbeiten, dann werdet ihr mit Zaï genügend zu essen haben. Zaï wird euch und euren Kindern Essen und Frieden bringen«, sagt Yacouba zu den Frauen, und sie nicken und schwingen die Hacken hoch in den Himmel.
Auch der Stammeschef von Wagdidi in der Nachbarprovinz Loroum, Chief Naba-Ligidi S. Kagoné, hackt. Er und Yacouba kennen sich seit ihrer Kindheit. In den achtziger Jahren, als Yacouba aufs Land zurückkehrte, floh der Chief wie so viele andere in die Stadt. Er wurde Lehrer, rührte keine Hacke mehr an, zog keinen Pflug mehr. Nun ist er seit acht Jahren altersbedingt Stammesoberhaupt außer Dienst. Er hat oft und lange unter Yacoubas Strohdach gesessen und den Vögeln zugesehen. Er hat Reij begleitet und mit Dodd gefilmt. Irgendwann war der Wunsch, auch so einen Wald zu schaffen, so groß, dass der Chief vier Hektar Land kaufte. Nun hat er Schwielen an den Händen.
Gionos Geschichte über den Eichenwaldpflanzer wurde 1954 in der Zeitschrift Vogue veröffentlicht. Gionos Ich-Erzähler berichtet, wie er den Schäfer Bouffier auf einer Wanderung traf, bei ihm übernachtete, und als Bouffier am anderen Tag einen Eisenstecken nimmt und losmarschiert, folgt er ihm und sieht, wie dieser mit seinem Stecken Löcher in die Erde bohrt und Samen hineinlegt. »Ich muss sehr hartnäckig gewesen sein bei meinem Ausfragen, dass er darauf antwortete. Seit drei Jahren pflanzte er Bäume in dieser Einsamkeit. Er hatte bereits 100000 gepflanzt.«
Yacouba hat an der Geschichte von Giono großes Vergnügen. Unter seinem Hirsestroh-Baldachin sitzt er an einen Baum gelehnt und hört still zu, nur bei der Charakterbeschreibung des Schäfers brummt er ein zustimmendes »Hmmm, hmmm«. Bei dem Satz: »Ich habe ihn nie gebeugt und verzweifelt gesehen. Und dennoch, wer weiß, ob nicht Gott selber ihn dazu gedrängt hat«, nickt Yacouba bestätigend. »Natürlich Gott. Kein Mensch kann so viel Kraft aus sich selber heraus finden.«
Ob die Ähnlichkeiten zwischen Bouffier und ihm nicht erstaunlich seien? Aber nein, sagt Yacouba mit tiefem Ernst. Er habe schon auf so eine Geschichte gewartet, auf die Erzählung eines Freundes im Geiste irgendwo auf der Welt, der so sei wie er. »Wir haben ein Sprichwort: Von jedem von uns gibt es einen Zweiten.«
Im vergangenen Sommer breitete sich in der Sahelzone eine neue Dürre aus, neuer Hunger. Auch im Norden von Burkina Faso mit der Provinz Yatenga war die Lage kritisch. Verschärft wurde die Situation durch die Flüchtlinge, die im Frühjahr nach den Unruhen in Mali über die Grenze gekommen waren, 62000 sollen es gewesen sein. Die Krise kam nicht überraschend. Schon vor fünf Jahren begannen Lebensmittel wie Reis oder Mehl knapp zu werden, die Preise stiegen, mancherorts auf das Achtfache. Der Wissenschaftler Reij und sein Institut sehen die Ursachen des Hungers in der Erderwärmung, in den unregelmäßigen Regenfällen, in der abnehmenden Fruchtbarkeit der Böden durch Überdüngung und im nach wie vor starken Bevölkerungswachstum.
Es ist eine erschütternde Diagnose, doch in Yacoubas Speicher lagert genug Getreide, dass seine 60-köpfige Familie zwei erntelose Jahre überstehen könnte. In diesem Frühjahr haben er und seine Söhne zwei weitere neue Felder bestellt, Hunderte von Löchern gegraben und in jedes fünf Hirsesamen gelegt. Mit den ersten Regenfällen im April sprossen sie, und die vier überzähligen Setzlinge hat Yacouba in weitere Löcher gelegt. Als im Juni die Regenzeit einsetzte, trieben die Halme in die Höhe. Die Hirse gedieh.
Seit Jahren kann Yacouba seinen Überschuss verkaufen, und ebenso lange verteilt er seine Saat großmütig an arme Bauern. Für ihn ist es eine Frage der Menschlichkeit. »Zu sagen, ich habe keinen Hunger, während andere hungern, ist keine gute Sache. Wer einen satten Bauch hat, während den anderen der Magen knurrt, ist ein schlechter Mensch«, sagt er.
Auf dem G-8-Gipfel im vergangenen Mai im amerikanischen Camp David beschlossen die Regierungschefs der wichtigsten Industrienationen der Welt eine »Neue Allianz« zur Ernährungssicherung in Afrika. Eines der Länder, die davon profitieren sollen, ist Burkina Faso. Die Neue Allianz ist eine Fortsetzung der auf dem G-8-Gipfel von 2009 im italienischen L'Aquila festgelegten Maßnahmen. Lange waren Kleinbauern nicht im Blick der Entwicklungshilfe, sie galten allenfalls als Empfänger von Almosen, nicht als Wegbereiter landwirtschaftlichen Fortschritts. Erst die L'Aquila-Initiative sah die Kleinbauern als wichtige Partner im Kampf gegen Armut und Hunger. Jetzt sollen sie Unterstützung erhalten, um ihre traditionellen und seit Jahrhunderten erprobten Anbaumethoden zu praktizieren, sie sollen genügend eigene Ernte einbringen, statt Lebensmittelhilfen zu erhalten.
Für die auf einmal international so populäre, in Wahrheit aber sehr alte Art der Landwirtschaft gibt es einen neuen Begriff: climate-smart agriculture - Landwirtschaft, die sich den veränderten klimatischen Bedingungen anpasst. In seinem Rural Poverty Report 2011 lobt der International Fund for Agricultural Development (IFAD) - eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen - den Ansatz, Getreide und Bäume zusammen anzubauen. Bäume speichern Nährstoffe und verbessern so die Bodenqualität. Als Erfolgsbeispiel nennt der Report den Niger - dort liegen jene Gebiete, aus denen Chris Reij einst Landwirte zu Yacouba brachte, damit sie von ihm lernen.
Seit den achtziger Jahren wurden im Niger 200 Millionen neue Bäume gepflanzt. Auf diese Weise ist es Reij zufolge gelungen, die Menge des jährlich geernteten Getreides um 500000 Tonnen zu erhöhen. Davon ernähre man 2,5 Millionen Menschen. Yacouba, der seinem Freund zuhört, lächelt.
Im Büro der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou bestätigt Büroleiter Florent Dirk Thies, wie wichtig Kleinbauern seien. 80 Prozent der Bevölkerung von Burkina Faso lebten von Landwirtschaft, und davon seien wiederum 95 Prozent Kleinbauern.
Die GIZ ist ein Bundesunternehmen, das die Entwicklungshilfemaßnahmen der deutschen Regierung umsetzt. In den vergangenen Jahren, sagt Thies, habe Burkina Faso sich selbst ernähren können, doch fruchtbarer Boden werde knapp. »Die Bevölkerung hat sich verdoppelt, aber die nutzbaren Bodenflächen sind gleich geblieben.« Eigentlich müsse man ein Feld sieben Jahre lang brach liegen lassen, um es ein Jahr lang zu bewirtschaften. »Das können die Leute nicht einhalten. Die Böden verschlechtern sich enorm«, sagt Thies. Er hält es trotzdem für möglich, die Erträge zu verdreifachen. Zu lange habe man auf die falschen Methoden gesetzt. »Wir müssen die lokalen Bauern unterstützen.«
67 Jahre lang hatte Yacouba Sawadogo die Sahelzone nicht verlassen. Dann, eines Tages im Jahr 2009, zog er sein bestes Festtagsgewand an, setzte die traditionell fein bestickte Kopfbedeckung der Mossi-Männer auf und flog in die Schweiz. 2010 war er in den USA, 2011 in Südkorea. Chris Reij hatte dafür gesorgt, dass Yacouba zu internationalen Entwicklungshilfekonferenzen eingeladen wurde. Yacouba traf Ban Ki Moon, den Generalsekretär der Vereinten Nationen, der ihn so nannte wie der Dokumentarfilmer Dodd: »der Mann, der die Wüste aufhielt«.
In Filmaufnahmen von diesen Reisen sieht man Yacouba unbeeindruckt von den internationalen Experten aufrecht auf dem Podium sitzen und in langsamen, ruhigen Sätzen von seiner modernen Form des Zaï erzählen.
Yacouba Sawadogo ist heute ein geachteter Mann in seinem Dorf, in Ouahigouya und bei all jenen, die ihm begegnen. Er ist zufrieden, aber nun läuft seine Zeit ab, und er ist erschöpft. Die Fahrten mit dem Moped von Dorf zu Dorf, die vielen Ratsuchenden, die jeden Tag zu ihm kommen, um zu erfahren, wie sie Ungeziefer verscheuchen, Wasser stauen, Mist anmixen, Bäume von Krankheiten heilen können, werden ihm zu viel.
Sein Wissen hat er an seine Söhne und viele andere weitergegeben. Jetzt träumt er davon, noch ein kleines Haus zu bauen, ein Ausbildungszentrum, wo er die Menschen unterrichten könnte. Und eine Apotheke würde er gerne eröffnen für die Medizin und die Öle, die er herzustellen versteht. Niemand soll dafür bezahlen müssen. Doch für das Zentrum wie für dieApotheke fehlt ihm das Geld. Gionos Ich-Erzähler, so steht es in der Geschichte, wird 1914 eingezogen und kommt erst zehn Jahre später zurück in die Berge. Für ihn überraschend findet er Bouffier wieder, noch immer Bäume pflanzend. »Wir verbrachten den Tag damit, dass wir schweigend im Wald herumgingen. Er maß [...] elf Kilometer in der Länge und drei Kilometer in der Breite. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass dies alles von den Händen und dem Herzen dieses Mannes herrührte, ohne jedes technische Hilfsmittel, dann ging einem auf, dass die Menschen auch in anderen Gebieten so schöpferisch sein könnten wie Gott, nicht nur im Zerstören.«
Gionos Eichenwaldpflanzer wird im Alter geehrt als Bewahrer der Natur, der Schriftsteller lässt ihn noch erleben, wie die Leute sein Werk preisen. Seinen Wald allerdings, so schrieb es der Autor kurz vor seinem Tod im Jahr 1970 in einem Brief, gab es bald nicht mehr. Wo Eichen standen, wurden Kraftwerke und Fabriken gebaut. Nur einzelne Bäume überlebten das Zusammentreffen mit der Moderne.
Vielleicht ist es das Schicksal der Rufer und Mahner, der Steppenwölfe und einsamen Schöpfer, dass ihren Werken keine Ewigkeit vergönnt ist. Auch Yacoubas Wald ist in Gefahr. Das Land, das er beackert, gehört ihm nicht. Er hat es sich genommen, weil niemand es wollte und niemand Anspruch darauf erhob. So ist es in Afrika seit Jahrhunderten. Man darf so lange bleiben, bis der Staat die Hand auf das Land legt.
Vor zehn Jahren kamen Landvermesser aus Ouahigouya und schlugen Grundsteine in Yacoubas Boden. Einen Stein setzten sie mitten in den Schuppen, in dem Yacouba jenes Getreide lagert, das er verschenkt. Der Schuppen müsse abgerissen werden, sagten sie. Einen Stein setzten sie neben die Mauer von Yacoubas Grundstück und zogen von dort eine Linie. Die Linie teilt das Grab seines Vaters. Der Vater müsse umgebettet werden, sagten sie. Einen Stein setzten sie in Yacoubas Wald und sagten, die Hälfte des Waldes müsse abgeholzt werden. Yacouba hat diesen Stein mit dem Fuß umgetreten, und wenn er ihn zeigt, dann sieht er alt und leer aus, wie ein hilfloser Greis. Als Letztes schlugen die Männer ein halbes Dutzend Markierungssteine in die ersten Felder, die Yacouba beackert hat, zwischen die ersten Bäume, die er gepflanzt hat und die damals schon mehrere Meter hoch waren.
Die Jahre vergingen, und nichts geschah. Der Staat mischte sich nicht weiter ein in das Leben von Yacouba Sawadogo. Doch auf einmal, vor wenigen Monaten, tauchten Leute auf, denen irgendein Beamter das Land zur Ansiedlung versprochen hatte. Sie begannen, Yacoubas Bäume zu fällen und Häuser zu bauen, wo Yacoubas Hirse wächst. Yacouba ging zur Provinzregierung. Er erwartete kein Lob, keinen Dank für die vielen Jahre harter Arbeit, keine Bewunderung für seinen Erfolg. Er wollte nur ein bisschen Gerechtigkeit oder wenigstens Gnade. Man sagte ihm, er könne das Land für umgerechnet 50000 Euro kaufen. »Hmmm, hmmm«, brummte Yacouba, drehte sich um und ging.
Er klagte nicht. Er rechnete nicht auf. Er tat das, was er immer getan hat, wenn das Leben sich ihm entgegenstellte: Er fing wieder von vorne an. Wanderte mit seiner Hacke ein Stück weiter: dorthin, wo niemand war und wo niemand sein wollte, hackte neue Löcher. Kleine für die Hirse, große für die Bäume, ganz große für die einhundert Affenbrotbäume. Das war im Jahr 2012, in den Wochen, bevor der Regen fiel.
Yacouba sagt zu seinen Söhnen: »Wenn sie kommen und meinen Wald fällen, setzen wir einen neuen Wald.«
Er wird den Wald nicht mehr wachsen sehen. Er wird die Früchte nicht mehr ernten. Aber er wird wissen, niemand hat ihn besiegt. Die Natur nicht. Und schon gar nicht die Menschen.