Die Welt ist verrückt - und was machen wir?
Von Bernd Ulrich
Ukraine, Gaza, Syrien, Irak – die Vielzahl der Krisen bringt den Westen ins Wanken. Es ist Zeit, Interessen und Ideale, Gewissheiten und Gefühle neu zu sortieren. Auftakt einer ZEIT-Serie.
Irgendwann muss der Machthaber im Kreml die Geduld verloren haben. Jedenfalls schickt er an einem kalten Sonntag im Januar Soldaten und Panzer nach Vilnius, um dem Spuk der litauischen Unabhängigkeit ein Ende zu bereiten. Vierzehn Menschen sterben dabei, manche werden von russischen Panzern überrollt, es gibt mehr als tausend Verletzte.
Das ist keine Dystopie, keine düstere Vorausschau darauf, wo die aggressive Politik von Wladimir Putin noch enden könnte. Vielmehr fand der sogenannte Blutsonntag von Vilnius schon statt, vor dreiundzwanzig Jahren, und der Mann, der den Befehl dazu gab, die litauische Freiheitsbewegung niederzuwalzen, hieß Michail Gorbatschow. Ja, genau der Mann, der bis heute als bester Freund des Westens und Ermöglicher der deutschen Einheit gefeiert wird. Manch einer im politischen Berlin denkt dieser Tage daran zurück und fragt sich: Wenn schon ein Gorbatschow zu einer solchen Tat in der Lage war, was haben wir dann erst von einem Putin zu erwarten?
Die Frage erscheint allzu plausibel, weil der russische Präsident in Sachen Ukraine schon jetzt alles erreicht hat, was man vernünftigerweise von seiner "Vorneverteidigung" russischer Interessen erwarten kann. Die Annexion der Krim wird ihm der Westen völkerrechtlich nicht ratifizieren können, hingenommen hat er sie freilich schon; eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato ist auf absehbare Zeit ausgeschlossen; die Ukraine dürfte sich künftig zugleich mit der EU assoziieren und mit der russisch dominierten Zollunion; und auch ein föderaler ukrainischer Staat mit starken Selbstbestimmungsrechten der russischen Minderheit wird bereits vorgedacht. All das hat Putin schon, und er weiß es. Was also will er jetzt noch, warum hört er nicht auf, schwere Waffen in die Ostukraine zu schicken?
Darauf sagen die Optimisten, er könne eine militärische Niederlage seiner
Separatisten aus Gründen der Gesichtswahrung nicht hinnehmen, müsse also ohne strategisches Ziel vorerst weitermachen.
Die Pessimisten denken dagegen, der Kremlchef habe eben doch ein strategisches Ziel, allerdings nicht die Schwächung und Destabilisierung der Ukraine, sondern: die Schwächung und Destabilisierung des Westens insgesamt, speziell der Nato.
Der Westen - so schwach wie nie zuvor
Dass konkurrierende Mächte in diesen Tagen auf solch eine Idee kommen können, verwundert kaum. Denn die USA und Europa befinden sich in einer tiefen internationalen Orientierungskrise. In den westlichen Hauptstädten ist die strategische Verunsicherung mit Händen zu greifen, die dreifache Krise - in der Ukraine, im gesamten arabischen Raum und wieder mal in Nahost - überfordert: mental, politisch und militärisch. All das ist allzu offenkundig; jeder Versuch, es zu leugnen, um die Gegner nicht noch weiter zu ermutigen, scheint sinnlos. Jetzt muss man anfangen, der Sache auf den Grund zu gehen, auch wenn die Konflikte derweil in hohem Tempo weitergehen. Nicht zuletzt Putins ideologischer und militärischer Großangriff, der vielleicht tatsächlich den Westen ins Wanken bringen soll.
Den Westen ins Wanken bringen? Wie das? Hier spielt wieder das Baltikum, die Achillesferse der Nato mit seiner starken russischen Minderheit, eine große Rolle. Angenommen, die russische Führung würde das ukrainische Szenario auch dort anwenden - russische Minderheit ruft nach Hilfe, Soldaten ohne Hoheitsabzeichen tauchen auf, ebenso russisches Kriegsgerät, dann Bürgerkrieg et cetera -, was könnte der Westen dann tun?
Nicht viel. Das Baltikum ist militärisch kaum zu verteidigen, höchstens zurückzuerobern. (Es sei denn, man würde so viele westliche Soldaten und so schwere Waffen dort stationieren, dass Russland sich provoziert fühlen dürfte und die Nato als Aggressor dastünde.) Eine Rückeroberung des Baltikums würde allerdings bedeuten, dass sich Nato und Russland direkt bekriegten, wodurch sofort die Gefahr der nuklearen Eskalation entstünde. Die Älteren unter uns, also vermutlich auch Wladimir Putin, erinnern sich noch an eine Grundregel der atomaren Konfrontation, die da lautet: Der Irrere ist der Stärkere. Sie besagt, dass in einem solchen Konflikt derjenige die Dominanz gewinnt, dem man zutraut, zu größeren Opfern bereit zu sein, und der willens und verrückt genug ist, die je nächste Stufe der Eskalation zu erklimmen. Das wird die Nato nicht sein, der Westen ist nicht verrückt, nicht mal der Nato-Generalsekretär ist es. Wenn nun aber der Westen am äußersten Rand seines Territoriums, dem Baltikum, angegriffen wird und eine militärische Konfrontation mit Russland aus guten Gründen scheut, dann, so die deutsche Verteidigungsministerin in der ZEIT von letzter Woche, "ist die Nato tot". Ursula von der Leyen spricht hier mit der Offenheit des außenpolitischen Neulings von etwas, wovon andere nur munkeln: von der neuen Verwundbarkeit des Westens.
Die Sanktionen dienen der Vorneverteidigung der Nato
Ob es im Baltikum jemals so weit kommen wird, darum geht es im Moment nicht, allein dass ein solches Szenario denkbar ist, als düstere Drohmasse wirkt und von den Beteiligten hüben wie drüben vermutlich gedacht wird, beeinflusst schon jetzt den Konflikt in der Ukraine, es erklärt die freche und frische Provokationsmacht des Kreml. Manche kritisieren die Sanktionen gegen Russland mit dem Argument, sie könnten allenfalls langfristig wirken und hätten im aktuellen Konflikt keine oder gar eine kontraproduktive Wirkung. Das mag zunächst so sein, verkennt aber, dass diese Sanktionen unausgesprochen eine Warnung an Putin sind, keinen Fuß breit über die Ukraine hinauszugehen. Die Botschaft lautet: Wir wissen, dass du weißt, dass wir nicht militärisch eingreifen werden, aber du sollst auch wissen, dass wir stark, einig, opferbereit und entschlossen genug sind, asymmetrisch zu kämpfen, also ökonomisch. (Wenn's denn stimmt.)
So weise diese Sanktionen, mithin die Abkehr vom Militärischen auch sein mag, so sehr muss es den Westen beunruhigen, dass Wladimir Putin es überhaupt wagt, derart dreist und aggressiv vorzugehen. Auch dass Ursula von der Leyen ein Ende der Nato für möglich hält - und zwar nicht wegen Erschlaffung mangels potenter Gegner, sondern machtpolitisch und militärisch geschlagen -, zeigt, in welcher Lage sich der Westen außenpolitisch zurzeit befindet. Man könnte sagen: So schwach wie heute war er noch nie. Was überraschend ist, wenn man bedenkt, dass der vermeintliche Höhepunkt westlicher Macht gerade mal ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Erstaunlich auch, wenn man in Betracht zieht, wie überlegen die USA und die EU ökonomisch und sogar militärisch nach wie vor sind. Das Problem liegt nicht in den Tresoren und nicht in den Raketendepots, das Problem ist mental.
Interventionen sind gescheitert, Nicht-Interventionen auch
Im eigenen Kopf hat der Westen in den letzten beiden Jahrzehnten eine Verheerung angerichtet, wie sie seine Gegner niemals hinbekommen hätten. Viele sagen, die von den USA angeführten Kriege seien Schuld daran, dass der Westen militärisch-moralisch kaum noch handlungsfähig ist. Peter Scholl-Latour konstatierte noch kurz vor seinem Tod: "Heute lässt sich kein Krieg mehr gewinnen." Man würde ihm mit Blick auf Afghanistan und den Irak gern zustimmen, vor allem auch, weil dann die Lösung schön einfach wäre: keine Kriege mehr.
Leider ist seine markige These doppelt falsch. Zum einen gab es durchaus siegreiche Kriege, zumindest der Kosovokrieg und der vorletzte Irakkrieg gehören dazu, mit dem die völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch Saddam Hussein rückgängig gemacht wurde. Zum anderen, und hier nähern wir uns dem Kern der aktuellen Tragödie, hatte der Westen mit nicht militärischen Lösungen außerhalb Europas auch wenig Glück. Im Mittleren Osten wurde in den vergangenen zwölf Jahren alles durchgespielt: der reguläre Krieg mit Bodentruppen in der riskanten wie auch in der irrwitzigen Variante (Afghanistan und Irak), die kurzfristige, überwiegend luftgestützte Intervention zur Vermeidung eines Massakers (Libyen), die friedliche Teilung eines Landes in einem von den UN moderierten Prozess (Sudan), die Nicht-Intervention trotz unzähliger Toter (Syrien). Darüber hinaus in rascher Folge: Sturz von Diktatoren durch Intervention, Unterstützung von Diktatoren zur Stabilisierung der Region, Unterstützung von Revolten gegen die Diktatoren zur Demokratisierung der Region, keine Unterstützung der Revolten mehr, dafür erneute Unterstützung neuer und alter Diktatoren. Nichts davon hat wirklich gut funktioniert.
In den Jahren nach dem 11. September war unter westlichen Geopolitikern im Vollgefühl der eigenen Macht gern vom außenpolitischen Werkzeugkasten die Rede, aus dem je nach Lage die richtigen Instrumente entnommen werden. Heute muss man sagen: Der Kasten ist ziemlich leer.
Nicht mehr nur die Macht im Staate steht infrage, sondern die Staatlichkeit selbst
Das Ergebnis all dieser Experimente: Im Mittleren Osten wird nicht mehr nur wie üblich mit aller Härte um die Macht in den jeweiligen Staaten gekämpft, die staatlichen Strukturen selbst lösen sich auf. Das gilt für den Irak und Syrien, aber auch für Libyen, ja im Grunde für die gesamte Sahara und Subsahara. Der terroristische Fallout des Mittleren Ostens hat dabei noch zugenommen, und wenn nun der radikalisierte Islam in einer noch unmenschlicheren Gestalt auftritt als 2001 Al-Kaida, so steigert das die westliche Überraschung zur Bestürzung.
Die Ratlosigkeit ist unübersehbar. Mittlerweile werden die Partner des Westens so schnell zu Gegnern, die Gegner zu Feinden und die Feinde wieder zu Partnern, dass Moralpolitik wie Realpolitik weitgehend zuschanden taktiert sind. Um nur die aktuellsten Wendungen zu nehmen, die so abenteuerlich sind, dass man sich kaum traut, sie auszusprechen: Der Westen, mittlerweile sogar die Deutschen, liefern mehr oder weniger direkt Waffen an die bis vor Kurzem noch als Terrororganisation geltende kurdische PKK, um die Terroristen von IS zurückzudrängen. Wenn man die verantwortlichen deutschen Politiker fragt, wohin man die Islamisten denn zurückdränge, dann antworten sie kleinlaut: in den Nordosten Syriens - wo man dann hoffen muss, dass der noch vor einem Jahr als Hauptfeind definierte Baschar al-Assad, assistiert von einem gewissen Wladimir Putin, sie bekämpft. Und dieser Assad dient sich nun sogar als Partner des Westens an, IS zu bekämpfen.
Bei den deutschen Waffenlieferungen verschmelzen Verantwortung und Verzweiflung.
Wenn eine nicht moralische Politik einigermaßen erfolgreich ist, geht das irgendwie. Wenn eine moralische Politik nicht sehr erfolgreich ist, geht das auch. Aber eine amoralische und zugleich erfolglose Politik - das geht auf Dauer nicht.
Obamas außenpolitische Zögerlichkeit kommt nicht aus seinem Charakter
Nun könnte man sich wünschen, dass an all dem eine schlechte westliche Führung schuld ist, am liebsten also die USA, wahlweise der allzu militante George W. Bush oder der zu wenig militante Barack Obama, gern auch beide zusammen. In der Tat hat der amtierende Präsident der westlichen Glaubwürdigkeit schweren Schaden zugefügt, als er Assad eine rote Linie in den Sand zog - keine Giftgasangriffe -, um dann beim Giftgasangriff nicht einzugreifen. Allerdings tat er das nicht, weil er ein Weichei wäre, sondern weil er glaubte, dafür auf längere Sicht keine politische Unterstützung zu bekommen. Viel spricht dafür, dass er die Kriegsmüdigkeit seiner Landsleute richtig einschätzte. Auch
David Cameron, der britische Premier, fiel auf die Nase, als er sich vom Unterhaus den Einsatzbefehl gegen Assad holen wollte. Die Zögerlichkeit kommt also nicht nur von ganz oben, sondern auch von unten.
Und sie kommt aus der Sache. Als Hillary Clinton, eine humanitäre Interventionistin, Obama zuletzt vorwarf, er habe IS durch seine zaghafte Unterstützung der gemäßigten syrischen Rebellen erst möglich gemacht, da antwortete ihr der Präsident darauf in der New York Times: "Diese Option, wir könnten leichte oder gar schwere Waffen an eine Opposition liefern, die im Grunde aus ehemaligen Ärzten, Apothekern und so weiter bestand, und sie damit in die Lage versetzen, gegen einen gut bewaffneten, von Russland, dem Iran und der kampferprobten Hisbollah unterstützten Staat zu kämpfen, die stand nie zur Verfügung." Das moralisch Zwingende schien ihm militärisch unmöglich.
Wer es ganz, ganz freundlich ausdrücken möchte, der würde sagen: Die
atlantisch-europäische Politik befindet sich in einer poststrategischen, postprinzipiellen Phase. Es wäre an der Zeit, dass Interventionisten und Isolationisten, Realisten und Idealisten, Amerikaner und Europäer einander in die Augen sehen und bekennen: Im Moment wissen wir es alle nicht, wir müssen umdenken, anders diskutieren, wir brauchen eine neue außenpolitische Grammatik, in der wir uns dann wieder sinnvoll streiten können.
Zu einer neuen Ehrlichkeit würde auch das Eingeständnis gehören, dass der Westen sich mit Entwicklungen konfrontiert sieht, die er nicht vorausgesehen, die er unterschätzt oder schlicht noch nicht verstanden hat. Und sosehr man sich hier auch selbst kritisieren kann und soll, so offenkundig ist doch auch: Unglücklicherweise ist der Westen nicht an allem Schuld, leider hat er nicht die Macht, allein durch Selbstverbesserung die Welt zu verbessern.
Russland und die islamischen Staaten haben ein Problem mit Gott
Die Konflikte in Russland und im Mittleren Osten lassen sich schließlich auch als Binnenkonflikte lesen, bei denen die USA und Europa Katalysatoren, Projektions- und Angriffsfläche sind, nicht aber die erste Ursache. Sowohl das orthodox geführte Russland als auch die islamisch geprägten Staaten haben ein Jahrhundertproblem mit der Globalisierung, die ihre Kultur relativiert und ihre Ökonomie bloßstellt, sie haben aber auch, auf ganz unterschiedliche Weise, ein Kardinalproblem mit der Säkularisierung, der fehlenden Trennung von Kirche und Staat oder von Glaube und Politik. Opfermythos und heilige Mission - eigentlich religiöse Topoi und auch nur darin erträglich - werden politisiert und dadurch gewissermaßen scharf gemacht. Lösen lässt sich das nur durch innere Entwicklungen in Russland und in Arabien, die der Westen nicht erzwingen kann.
Nicht ausweichen können die westlichen Gesellschaften allerdings den religiös-ideologischen Angriffen gegen ihre eigene innere Verfasstheit. Etwa so: "Viele euroatlantische Länder (...) verleugnen ihre moralischen Prinzipien und alle traditionellen Identitäten: nationale, kulturelle, religiöse und sogar sexuelle. Sie machen eine Politik, die große Familien gleichstellt mit homosexuellen Partnerschaften, den Glauben an Gott mit dem Glauben an den Teufel." Das könnte von jedem beliebigen Islamisten stammen, wurde jedoch von Wladimir Putin gesagt, und zwar am 20. September 2013, also lange vor der Eskalation in der Ukraine. Sein moralisches und kulturelles Überlegenheitsgefühl ist nicht die Folge des Ukraine-Konflikts, eher eine seiner Ursachen.
Russischer und islamischer Fundamentalismus attackieren den Westen wirkungsvoll
Russische und islamische Fundamentalisten fühlen sich vom Westen, so wie er heute ist, offenbar bis ins Mark provoziert. So schwul, so libertär, so säkular - und dabei nach wie vor ökonomisch so erfolgreich, das können sie nicht fassen. Die Vorstellung, dass die westlichen Gesellschaften nicht trotz ihrer Toleranz, ihrer Pluralität, ja ihrem ganzen verweichlichten Gehabe so erfolgreich sind, sondern eben deswegen, die ist ihnen komplett wesensfremd. Darum gehen sie irrigerweise vom alsbaldigen Niedergang des Westens aus, ihn anzugreifen lohnt sich also. Hier prallen wirklich Welten aufeinander.
Autoritär geführte Staaten wie China und Russland haben sich überdies propagandistisch weiterentwickelt. Nicht nur, dass sie ihre eigenen Medien recht effizient steuern, sie beeinflussen mit ihren Fernsehsendern, mit Bloggern und über die Sozialen Medien auch die westliche Öffentlichkeit. Das ist eine eminent wichtige Veränderung, weil die Selbstkritik zum Wesen westlicher Gesellschaften gehört, ja einen großen Teil ihrer Stärke ausmacht. Diese Selbstkritik wird nun von anderswoher bösartig verstärkt, sie bekommt dadurch leicht einen selbstzerstörerischen Zug.
Zumal die fundamentalistische Kritik am Westen durchaus nicht immer fundamentalistisch vorgetragen wird, sondern oft intelligent und detailliert. Die autoritären Regime haben für die Kritik am Westen ein einfaches, aber sehr wirksames Passepartout entwickelt, das funktioniert so: Für alle demokratischen Defizite, für alle Arten von Unterdrückung, für Korruption und Zensur, die in den autoritären Staaten systemisch dazugehören, finden sich in den mehr als vierzig westlichen Staaten natürlich jederzeit auch Referenzbeispiele. Dass dies hier Verstöße gegen die eigenen Prinzipien sind, die zumeist geahndet werden, und dort Wesensmerkmale des politischen Systems, wird geschickt verwischt. Wladimir Putin ist ein Meister dieser Art von Kritik und erwischt damit westliche Journalisten und Politiker immer wieder auf dem falschen Fuß. Überhaupt kann man nicht sagen, dass die führenden Politiker diesseits der russischen Grenze darauf bisher gute und vor allem effektive Antworten gefunden hätten. Überdies bedeutet die neue Schwäche des Westens ja keineswegs, dass er seine alte Arroganz schon durchgehend abgelegt hätte, auch das lässt ihn im Rest der Welt nicht eben überzeugender erscheinen. Wie westliche Staatschefs in den letzten fünfzehn Jahren das Völkerrecht gebogen, teils gebrochen haben, welche Kriegsbegründungen sie gegeben und welche Bündniswechsel sie vollzogen haben, das war schon atemberaubend. Diese Hypothek muss endlich ausgesprochen und angenommen werden, neu handlungsfähig wird der Westen nur eingedenk dieser Schuld, nicht indem er sie beschweigt.
In Ostasien schwindet der westliche Einfluss - zum Nachteil Ostasiens
Die Welt ist für den Westen in den letzten Jahren und beschleunigt in den letzten Monaten eine grundsätzlich andere geworden - dieser Befund wäre grob unvollständig ohne die Veränderungen in Ostasien, die momentan wegen der Dreifachkrise in Europas Cordon insanitaire in den Hintergrund gerückt sind.
Im Jahr 2011 verkündete Barack Obama den sogenannten pivot to Asia, eine strategische Hinwendung der USA zum pazifischen Raum. Die europäischen, insbesondere die deutschen Reaktionen darauf waren ängstlich, ja beleidigt. Würde Europa damit an den Rand der Geschichte gedrängt? Wäre die transatlantische Partnerschaft bald nur noch Folklore? Nichts davon ist eingetreten, weil es in Wirklichkeit keinen ernst zu nehmenden pivot to Asia gab, jedenfalls keinen militärischen, sondern allenfalls einen pivot to America, eine stärkere Besinnung auf das eigene Land. Militärisch hat der amerikanische Einfluss auch in jener Region abgenommen. Das ist einesteils eine Nebenfolge der imperialen Überdehnung im Mittleren Osten und der daraus folgenden breiten Militärverdrossenheit, andererseits logische Konsequenz aus der gewachsenen Stärke Chinas. Immer weniger wird in Ostasien geglaubt, dass die USA den vielen kleinen Nachbarn eines mächtigen und zunehmend machtbewussten China ernstlich zu Hilfe eilen könnten.
Die ostasiatische Machtprojektion der USA schwindet rapide, was der Region alles andere als guttut. Vorerst hat es zu einem Anwachsen des Nationalismus in beinahe allen Staaten der Gegend beigetragen, unter Einschluss allfälliger Grenzstreitigkeiten. Das amerikanische Zurückweichen lässt nun die fatale geopolitische Konstellation in Ostasien wirksam werden: China ist größer und bald auch stärker als alle seine Nachbarn zusammen (Indien spielt eine Sonderrolle, bleibt eher auf sich bezogen). Man muss sich vorstellen, wie es in Europa aussähe, wenn Deutschland fünfmal so groß und so mächtig wäre, wie es ist, dann hat man die Zukunft Asiens vor Augen - eine Zukunft, die vom Westen nur schwer zu beeinflussen sein wird, jedenfalls nicht durch Hinwendungs- oder Abwendungsbeschlüsse im Weißen Haus.
Ein Gespenst geht um, es ist das Gespenst der Geschichte
Grenzen, das lernen wir ins diesen Tagen schmerzlich, sind gefrorene Geschichte. Werden sie verletzt, kehren die alten Monster zurück. Jeder findet dann einen Punkt in der Vergangenheit, in dem seinem eigenen Land oder Volk oder Stamm Unrecht zugefügt wurde, jeder hat eine alte Landkarte zur Hand, die seine Ansprüche auf russische Erde, chinesische Inseln oder heilige Stätten beweist. Grenzen trennen und schützen nicht nur Länder voneinander, sie schirmen auch die Gegenwart vor der Vergangenheit ab. Die Erkenntnis jedoch, dass Grenzen, auch ungerechte, falsch gezogene, allemal besser sind als keine oder umkämpfte, scheint dieser Tage nicht sehr verbreitet.
Ein Gespenst geht um, es ist das Gespenst der Geschichte. Im Mittleren Osten werden die von den Europäern willkürlich und im eigenen Interesse gezogenen Grenzen infrage gestellt, man ist gewissermaßen wieder am Anfang des 20. Jahrhunderts angelangt, zugleich erinnert uns die religiöse Aufladung der Konflikte dort, auch ihre Bestialität, an den Dreißigjährigen Krieg. In der Ukraine kehrt der Kalte Krieg zurück, in Ostasien entsteht mit China als unsaturierter und überstarker Zentralmacht eine Konstellation, die an das Europa vor dem Ersten Weltkrieg erinnert.
Dieses Epochendurcheinander, diese sich ineinanderschiebenden Bilder überfordern zunächst einmal die Politik, die Kommentatoren und Professoren, auch die Bürger im Westen. Niemand muss sich deswegen schämen, das Eingeständnis eigener Schwäche gehört zu unserer postheroischen Kultur. Auch dass die westlichen Demokratien weniger als andere Sklaven ihres eigenen Stolzes sind, könnte sich im Konflikt mit übermännlichten, autoritären Gesellschaften noch als großer Vorteil herausstellen.
Allerdings wird man dabei nicht stehen bleiben können, der Westen kann sich nicht heraushalten, er ist überall schon involviert. Er muss wieder strategiefähig werden, seine Prinzipien neu sortieren. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Nach wie vor ist das Bruttoinlandsprodukt der westlichen Staaten mehr als doppelt so groß wie das von Russland und China zusammen, man hat also Macht. Nach wie vor wird im Westen offener diskutiert als überall anders auf der Welt, man wird Lösungen finden.
Darum wird die ZEIT in den nächsten Wochen eine internationale Debatte führen: über die veränderte weltpolitische Lage, über die Frage, ob und, wenn ja, wozu es den Westen noch gibt, wie Deutschland mit seiner rapide gewachsenen Verantwortung in Europa, für Europa und für die Länder um die EU herum umgehen soll. Welche westlichen Prinzipien gelten noch, welche haben ausgedient? Wie könnte eine Realpolitik aussehen, die diesen Namen verdient und die nicht immerzu von den Realitäten überholt wird? Gibt es Interessen ohne Ideale?
Was ist uns, nicht zuletzt, das Wort noch wert, das in diesem Text bewusst nicht gefallen ist, weil es in der Außenpolitik zuletzt oft missbraucht wurde: Freiheit?
Die Zeit
Nr. 36 vom 28. August 2014