Feiert Orgien mit Messer und Gabel!
Von Jakob Strobel y Serra
Essen wird nur noch danach definiert, was es alles nicht enthält. Ignoranten, Ideologen und Asketen geben den Ton an. Werden wir doch endlich ein Volk von Genießern. Ein Aufruf zur Wollust.
Essen macht Spaß. Und sehr gutes Essen macht sehr viel Spaß. Das muss einmal gesagt werden, selbst wenn es in den Ohren jedes vernunftbegabten Menschen wie die banalste Selbstverständlichkeit klingt. Blickt man sich allerdings im kulinarischen Deutschland um, könnte man manchmal glauben, das Gegenteil sei der Fall. Was wir sehen, sind nicht nur blühende Landschaften des Genusses, Heerscharen von Gourmetgeschäften und Sternerestaurants, Horden fröhlicher Hobbyköche, sondern auch Hysterisierung, Radikalisierung, Ideologisierung, Dämonisierung - die Vertreibung des gesunden Menschenverstandes von Küche und Tisch.
Denn immer häufiger wird das Essen als Quelle des Unglücks und Wurzel allen Übels wahrgenommen, als Bedrohung für unsere Gesundheit und Angriff auf unser Wohlbefinden. Allein durch Verzicht und Selektion, so die Suggestion der Heilsversprecher, können wir unsere Haut noch retten. Und viel zu viele Menschen gehen dieser Definition von gutem Essen ex negativo auf den Leim: Ein Gericht ist gut, weil es kein Protein, kein Gluten, kein einziges Kohlenhydrat enthält, weil es unseren Cholesterinspiegel nicht explodieren, unsere Fettzellen nicht wuchern, unsere Darmflora nicht kollabieren lässt. Es ist nicht gut, weil es uns schmeckt und uns glücklich macht. Es ist ein Trauerspiel.
Wir leben in einer Welt kulinarischer Obsessionen, in der sich der klassische Genießer immer fremder fühlt, weil nicht mehr der Geschmack, sondern die Gesundheit oder das Dogma oder die Moral das neue A & O des Essens sind. Freiheit bedeutet nicht länger die Freiheit des Genusses, sondern die Befreiung des Essens vom vermeintlich Bösen: von Fett, Fleisch, Eiweiß, Glukose, Laktose, Fructose. Das Suffix "-frei" ist zum Glaubensbekenntnis einer neuen Schicht von Wohlstandsasketen geworden, die in ihrem Leben sonst auf nichts verzichten müssen und ausgerechnet beim Essen die Enthaltsamkeit eines Eremiten üben. Ein unschuldiges Klebereiweiß wird da schnell zum Sündenbock und dermaßen verteufelt, als wäre es ein vergiftetes Geschenk der bösen Stiefmutter Natur.
Befeuert von der Lebensmittelindustrie, die mit solcher Hysterie Geschäfte macht, glauben inzwischen Millionen Menschen, an irgendwelchen Unverträglichkeiten zu leiden. So sind wir zu einem Volk der eingebildeten Kranken verkommen, das sich aus panischer Vorsorgefurcht laktosefreie Milch in den Cappuccino schüttet. Und keinen rechten Trost will der Blick über den Atlantik spenden, der uns zeigt, dass wir im Vergleich zu den Hypochondern in den Vereinigten Staaten noch regelrechte Ernährungsrationalisten sind. In Amerika leben mittlerweile geschätzte sechzig Millionen Fanatiker, die ein paranoides Verhältnis zu Gluten pflegen, Roggen, Weizen, Gerste oder Dinkel für die Leibspeise des Leibhaftigen halten und jedes glutenhaltige Lebensmittel meiden wie der Teufel das Weihwasser. Dabei ist es längst wissenschaftlich erwiesen, dass maximal ein Prozent der Bevölkerung an Zöliakie (Glutenintoleranz) leidet. Wir sollten wieder zu einer vernünftigen Mitte finden. Noch mehr Dogmatismus und Fundamentalismus, als wir ohnehin schon haben, würden den Brei endgültig verderben - was keinesfalls heißt, dass man sich nicht auch weiterhin Gedanken über die Ernährung und deren Konsequenzen machen muss. Natürlich soll jeder auf seine Weise glücklich werden und essen, was er will. Selbstverständlich ist es gut, dass Vegetarier und Veganer in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Sieben Millionen Deutsche ernähren sich inzwischen fleischlos, 800 000 verzichten sogar ganz auf tierische Nahrungsmittel. Die Zahl der vegetarischen und veganen Kochbücher hat sich innerhalb von vier Jahren verzehnfacht, und eine Ikone des Veganismus wie der Berliner Koch Attila Hildmann soll ruhig seinen Popstarstatus genießen.
Doch es darf nicht sein, dass sich Vegetarismus oder Veganismus selbst zu einem Katechismus, einer Welterrettungslehre überhöhen. Sie sind in erster Linie Ernährungsstile, die allerdings einer fortgesetzten Selbsttäuschung unterliegen: Der freiwillige Verzicht wird mit einer fast schon zwanghaften Ersatzsuche kompensiert. Es gibt eine Flutwelle vegetarisch-veganer Imitationen von Fleisch, Käse, Milch aus Reis, Dinkel, Soja. Alles soll möglichst originalgetreu aussehen, ohne es zu sein, was nicht nur mitunter zu absurder Komik führt - in der Schweiz heißen vegane Fischkopien "Vische" -, sondern auch einen Kult der Künstlichkeit befördert. Die Nahrungsmittelindustrie bedient ihn mit größtem Renditevergnügen, so dass es sich Vegetarier und Veganer in einer Scheinwelt optischer Täuschungen bequem machen und sich dabei auch noch der Illusion hingeben können, eine Rückkehr zu Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu betreiben.
Man könnte es sich leichtmachen und die ideologische Zersplitterung der Ernährungsweisen als spleeniges Kuriositätenkabinett betrachten. Dort tummeln sich Sektierer wie die Anhänger der Paläo-Diät, deren Lichtgestalt der vom Sexsymbol zur Sofakartoffel aufgedunsene und dank dieser Steinzeitkost wieder einigermaßen in Form gekommene Schlagersänger Tom Jones ist. Er schwört auf einen Speiseplan, wie ihn die Jäger und Sammler aus dem Paläolithikum hatten: Berge von Fleisch, dazu ein paar Kräuter und Beeren. Denn die Paläoisten glauben allen Ernstes, dass es seit der Erfindung des Ackerbaus in der neolithischen Revolution vor 10 000 Jahren mit der Menschheit bergab geht. Für sie ist die Wurzel alles Übels die Feldfrucht in jeder erdenklichen Kohlenhydrateform, sei es als Reiskorn, Kartoffelknolle oder Getreideähre. Eine schon fest etablierte Variante der Höhlenmenschendiät ist übrigens "Low Carb" mit der klapperdürren Schauspielerin Gwyneth Paltrow als oberster savonarolischer Kohlenhydrateverteuflerin.
Groß im Kommen ist auch die Heilslehre des Pescetarismus, also des klassischen Vegetarismus, bei dem Fische erlaubt sind. Denn alle Studien sprechen dafür, dass dies die gesündeste aller Ernährungsmethoden ist. Das Sterberisiko der Pescetarier ist um neunzehn Prozent geringer als das von Fleischessern, weil sie ihren Körper dank der Fische und Meeresfrüchte massenhaft mit Omega-3-Fettsäuren panzern. Diese hemmen Entzündungen, halten den Blutzucker im Zaum, stärken das Herz, schützen vor Diabetes, Infarkten und Schlaganfällen. Als Zeugen werden gern die langlebigen Japaner bemüht, die täglich Fisch - aber auch leidenschaftlich gern exzellentes Rindfleisch - essen und achtzehnmal seltener den Herztod sterben als der gemeine Schweineschnitzeldeutsche.
Schon im extremistischen Lager bewegen sich hingegen die Fructarier, sozusagen die Isis-Gotteskrieger unter den Radikalveganern. Sie rühren nicht nur keine tierischen Produkte an, sondern wollen auch Pflanzen kein Haar krümmen. Deswegen kommen nur Obst, Gemüse, Nüsse oder Samen auf ihren Teller, also all das, was die Pflanzen freiwillig hergeben, aber keine Knollen und Wurzeln. Da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Nahrungspulver Soylent, das der amerikanische Softwareentwickler und bekennende Essensverächter Rob Rhinehart auf den Markt gebracht hat. Es ist - Zynismus oder Dadaismus? - nach einem Hollywoodfilm mit Charlton Heston benannt, in dem sich Menschen in einer apokalyptischen Zukunft ausschließlich von Pillen aus Menschenfleisch ernähren, und versteht sich als "Total Food Replacement". Das Pulver enthält alle Nähr-, Ballast- und sonstigen Stoffe, die ein Mensch zum Überleben braucht, wird mit Wasser angerührt, mit Fischöl verfeinert und wohl unglücklicherweise ein Erfolg werden. Zumindest hat Rhinehart in zwei Runden Crowdfunding mehr Kapital eingenommen, als er erwartet hatte.
Man sollte nicht tatenlos zusehen, wie solche Ideologien immer weiter um sich greifen. Denn sie zersetzen das Fundament des guten, vorurteilsfreien, genussgesteuerten Essens und damit letztlich der vernünftigen Ernährung. Dieses Fundament bröckelt schon jetzt bedenklich, weil es von zwei Seiten angegriffen wird: nicht nur von der grassierenden Dogmatisierung, sondern auch vom dramatisch wachsenden kulinarischen Analphabetismus, der Kehrseite des inquisitorisch ideologischen Interesses am Essen. Jeder zweite Deutsche schert sich nicht darum, was er isst; und nur 44 Prozent der Bevölkerung halten es für wichtig, Zeit und Geld in eine gute Ernährung zu investieren. Das hat eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker-Krankenkasse ergeben. Alle anderen Befragungen zu diesem Thema bestätigen die deprimierenden, schockierenden Ergebnisse: 37 Prozent der Deutschen finden, dass um die Ernährung zu viel Wirbel gemacht wird. 35 Prozent der deutschen Männer sagen, dass der Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit überschätzt werde. Gleichzeitig kochen nur 35 Prozent der Männer zu Hause; der Rest gibt unter anderem an, entweder zu faul (neun Prozent), zu lustlos (vierzehn Prozent) oder zu blöd (siebzehn Prozent) zu sein.
Jeder fünfte Deutsche kocht nur einmal pro Woche selbst. Elf Millionen Deutsche kochen nie. Zwölf Millionen Deutsche bekennen ganz offen, dass es ihnen keinen Spaß mache, beim Kochen neue Gerichte auszuprobieren. 41 Prozent essen mindestens einmal pro Woche Fertiggerichte, sieben Prozent sogar täglich. Und nur jeder sechste Deutsche lässt sich zu dieser Aussage hinreißen: "Ich esse gerne richtig gehoben und edel."
Das unbestrittene Lieblingsgericht in deutschen Kantinen ist übrigens die Currywurst. Achthundert Millionen dieser darmgepressten Fleischabfälle, die nur dank einer absurd stark gewürzten Sauce überhaupt genießbar sind, werden in Deutschland Jahr für Jahr gegessen. Doch der schlimmste Wert von allen ist dieser: In einem Drittel der deutschen Familien läuft beim Essen der Fernseher oder der Computer.
Wir haben einen ganzen Strauß Probleme mit unserer Ernährung: die Diktatur der Indifferenz, die Tyrannei des Verzichts, die Dogmatisierung der Ernährung, die Skandalisierung der Haute Cuisine - wenn man für ein Degustationsmenü hundert Euro ausgibt, erntet man mitunter immer noch Unverständnis, Misstrauen, Stirnrunzeln; wenn man hingegen eine Blechkiste mit vier Rädern und vierhundert PS für das Tausendfache kauft, gibt es Bewunderung, Neid, Applaus.
Wir haben aber auch einen kühnen, wenngleich ganz einfachen und vielleicht sogar einfältigen Lösungsvorschlag für unsere Probleme: Wir müssen begreifen, dass gutes Essen in seiner ganzen Vielfalt Spaß und Lust macht. Wir müssen uns zum Genuss bekennen, auf die Kraft der Qualität vertrauen und minderwertigem Industriefutter abschwören. Wir müssen viel öfter auf den Verzicht verzichten und uns stattdessen der Wollust am Tisch hingeben und manchmal sogar der Völlerei. Wir müssen Gargantua und Pantagruel statt Paltrow und Jones zu unseren Helden ernennen und so oft wie möglich die herrliche Erfahrung machen, dass man von der Zufriedenheit nach einem schönen Mahl ganz bestimmt keine Magengeschwüre bekommt. Wir müssen ganz einfach gut essen wollen, ohne schlechtes Gewissen, ohne Vorbehalte, ohne Verbote. Dann werden wir verstehen, dass Essen kein Unglück, sondern unsere größte, alltäglichste, wunderbarste Quelle des Glücks ist.