Die Nacht der 100.000 Bomben

Von Rudi Kübler und Christine Liebhardt

Der Tod ist eine Sammlung loser Blätter. Vergilbter und an den Ecken eingerissener Blätter. Teils handschriftlich, teils mit Schreibmaschine ausgefüllt.

Der Tod hat eine Signatur: B 051/89 Nr. 1 und Nr. 2. Wer sich im Stadtarchiv Ulm in diese beiden Akten vertieft, blickt auf das Grauen jenes 17. Dezember 1944, als 330 englische Bomber die Stadt in Schutt und Asche legten und hunderte Ulmer umkamen. Genau: 707 Menschenleben forderte der bis dato schwerste Luftangriff auf Ulm, der von 19.23 bis 19.50 Uhr dauerte. Die Toten wurden in den Tagen darauf fein säuberlich erfasst, Nummer für Nummer, ja, die Nationalsozialisten waren Meister des Durchnummerierens. Die Partei war vorbereitet. "Meldungen über Verletzungen mit Todesfolge bei Luftangriffen" - so hießen die Vordrucke, die an die Kriminalpolizei-Außendienststellen verteilt worden waren. "Die nebengenannte Person wurde beim Luftangriff auf … am … um … bei der Schadenstelle … getötet." Die nächste Nummer bitte!

Die Menschen hinter den Nummern? Dass sie im Tod gleich waren, lässt sich nicht sagen. Die einen waren äußerlich fast unversehrt, sie starben an Rauchvergiftung, beispielsweise im Bunker an der Heidenheimer Straße. Die anderen wurden im Luftschutzkeller unter dem eigenen Haus verschüttet, Tage später ausgegraben und auf den Friedhof gebracht. Vom Ehepaar Josef und Ida Beer, Nummer 403, ist nichts übriggeblieben. Nichts. Nicht einmal der goldene Ring mit Aquamarin oder die Armbanduhr, wie auf dem Meldebogen steht. Weil die beiden den Luftschutzkeller nicht mehr erreichen konnten, legten sie sich beim Bombenabwurf auf die Straße. "An dieser Stelle soll nach Angaben der Schwiegermutter eine Bombe eingeschlagen haben. Von den Leichen konnte gar nichts mehr aufgefunden werden." Wiederum andere verbrannten bis zur Unkenntlichkeit an jenem dritten Adventssonntag - wie Jakiw Rewa, registriert als Nr. 560; er starb im Lager Roter Berg, wo er als Zwangsarbeiter hausen muss­te. An ihn erinnert nur ein vergilbtes Blatt Papier. Oder Czeslaw Golab, Nr. 540: Der polnische Zwangsarbeiter kam auf dem Güterbahnhof ums Leben.

 

Das Brummen aus dem Nebel

 

Als das Inferno über Ulm hereinbricht, ist es 19.23 Uhr. Seit Minuten schon verstärkt sich das Brummen über der Stadt. Laut und lauter wird es. Friedrich Glauninger aber sieht nichts. Er schaut angestrengt durch sein Fernglas. Dort, im Nordwesten, dort tauchen helle Lichter auf. Aber sonst: nichts. Nebel. Nur Nebel. Ein trügerischer Nebel freilich. Oft genug klagen die Ulmer über den Nebel, der in den Herbst- und Wintermonaten über den Dächern der Häuser hängt und durch die Straßen und Gassen wabert. Heute, an diesem dritten Adventssonntag, setzen sie all ihre Hoffnungen in die Nebelschwaden, die sich am Abend zu einer Waschküche verdichten: Die feindlichen Bomber werden die Stadt auf keinen Fall finden.

Dass Ulm ein potenzielles Angriffsziel für die englische Luftwaffe ist, ist den Menschen klar - spätestens seit den Luftangriffen auf Heilbronn, auf Freiburg. Zerstört erst in den vergangenen Tagen. Sie haben von Stuttgart, Darmstadt, Augsburg und Kassel gehört. Dem Erdboden gleichgemacht in den vergangenen Wochen und Monaten. Von Hamburg und Köln, von Rostock und Lübeck. Ganze Stadtteile ausradiert, mit Tausenden von Toten schon vor mehr als zwei Jahren. Warum sollte Ulm verschont bleiben? Ausgerechnet Ulm, der Eisenbahnknotenpunkt. Eine Stadt auch mit kriegswichtiger Industrie: Magirus und Kässbohrer. Das eine Unternehmen produziert Lkw, Omnibusse, Anhänger für Flakgeschütze, Kettenfahrzeuge, Düsentriebwerke und sogar Mini-U-Boote, das andere Spezialfahrzeuge für die Wehrmacht und Leitwerkflossen für die berüchtigte V2. Wieland und die Pflugfabrik Gebrüder Eberhardt sowie rund zwei Dutzend kleinerer Ulmer Firmen liefern ebenfalls der Rüstungsindustrie zu.

Friedrich Glauninger hat seinen Dienst um 18 Uhr angetreten, 300 Stufen ist er hochgestiegen bis zum Turmviereck des Münsters. Dort, auf einer Höhe von

70 Metern, hat er seinen Arbeitsplatz. Einen Arbeitsplatz, um den ihn viele beneiden - bei schönem Wetter und im Sommer. Der 43-Jährige hat den exklusivsten Blick auf die Straßen und Gassen; er kann die Straßenbahn beobachten, die die Hirschstraße hochkommt und auf den Münsterplatz einfährt.

Von hier oben kann der Bürstenmachermeister sein Haus in der Karlstraße 28 sehen, die kleine Werkstatt im Hinterhof, wo Kernseife und Bohnerwachs sowie Parfüm in den Regalen stehen. Allerdings: Glauninger muss auch bei Kälte, Regen, Schnee oder Eis in der Türmerstube Dienst schieben. Seit einem Unfall hat er ein verkürztes rechtes Bein, ist also nicht mehr fronttauglich. Für den Einsatz an der Heimatfront wird Glauninger freilich herangezogen, er gehört als Warndienstbeobachter dem Ulmer Luftwarnkommando an, das auf der Wilhelmsburg, dem Oberberghof und dem Münster stationiert ist. Als der Vater dreier Kinder oben auf dem Turmviereck ankommt, deutet nichts darauf hin, dass die Stadt zwei Stunden später nicht mehr dieselbe sein wird. Zerstört von Sprengbomben, vernichtet durch den anschließenden Feuersturm, der in der Altstadt wütet und ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichmacht.

Sicher, an den vergangenen zwei Tagen hatten die Sirenen immer wieder aufgeheult: am Freitag vier Mal, am Samstag zwei Mal. In der Nacht, während des Tages. Auch am Sonntagvormittag wird zwei Mal "öffentliche Luftwarnung" gegeben, die Vorstufe des Fliegeralarms. Um 18.59 Uhr dringt der Heulton erneut durch den Nebel, drei Mal mit je 15 Sekunden Dauer. Glauninger hatte zuvor schon die Meldung erhalten, dass 300 viermotorige Bomber im Anflug sind. Der Warndienstbeobachter und seine zwei Kollegen starren durch die Feldstecher. Noch ist nichts zu sehen: der Nebel. Sechs Minuten später, um 19.05 Uhr, ertönt Fliegeralarm, ein auf- und abschwellender Heulton von einer Minute Dauer.

Friedrich Holl und seine Eltern sitzen gerade beim Abendessen, sie lassen

alles stehen und liegen. Schnappen Rucksack und Koffer, die, vollgepackt mit Kleidungsstücken, Zahnbürste, Teller, Tasse und Besteck sowie Urkunden und Sparbüchern, an der Wohnungstür stehen. Auf einen Luftschlag vorbereitet zu sein, gehört zu den Pflichten des Volksgenossen. Wasser und Decken gehörten ebenfalls zum Luftschutzgepäck - wie lange man im Bunker ausharren muss, weiß ja keiner. Und dann steigen sie in den Keller ihres Hauses in der Schülinstraße 10. "Den ganzen Tag schon lag eine seltsame Spannung über der Stadt", erinnert sich der 88-Jährige. Immer wieder waren Flugzeuge zu hören. Im Luftschutzkeller angekommen, ist es plötzlich ganz leise. Etwas mehr als ein Dutzend Hausbewohner sitzt auf den Stühlen. Und einer sagt: "Die fliegen auf Ulm."

In der Tat, sie fliegen auf Ulm. Nicht daran vorbei und nach München. Heute ist Ulm dran. Für Friedrich Glauninger wird die Vorahnung bittere Gewissheit: Nordwestlich der Stadt, über dem Eselsberg, hellt sich die dunkle Nebelsuppe auf. Gelbes oder orangefarbenes Licht ist zu sehen, dann leuchtet es rot auf. Die Szenerie wirkt gespenstisch. Der Warndienstbeobachter weiß: Werden erstmal die "Christbäume" geworfen, also die Leuchtbomben, die das Angriffsziel markieren, das Areal abstecken, dann sind die Bomber nicht mehr weit. Und wenn, wie gemeldet, wirklich 300 britische Flugzeuge im Anflug sind, dann … gute Nacht! Das Röhren der Flugzeugmotoren wird von Sekunde zu Sekunde lauter. Glauninger hängt am Telefon, den Helm mit dem Luftwaffenabzeichen hat er sich über den Kopf gezogen. Er gibt die Lage durch, meldet die roten und grünen Leuchtbomben - und dann, es ist 19.23 Uhr, rollt die erste Angriffswelle über die Stadt. Die ersten Bomben regnen auf die Altstadt nieder, sie pfeifen durch den Nebel. Schlagen in die Häuser rund um den Münsterplatz ein. Die Explosionen sind teilweise so stark, dass Steine auf das Turmviereck geschleudert werden, dort, wo Glauninger und seine beiden Kameraden hinter der Brüstung kauernd die Stellung halten.

 

"Ich war still wie ein Fisch"

 

Gerade noch geschafft! Jetzt schnell in den Keller! Walter Barnikel und sein Freund Adolf Kley sind um ihr Leben gerannt. Die Treppe runter im Haus an der Ecke Schiller-/Böblingerstraße. Unten wartet schon Adolfs Mutter, sie ist heilfroh, dass sie ihren Sohn in die Arme schließen kann. Wie den Barnikels wohl zumute ist, die in der Schadstraße am Galgenberg im Keller sitzen? Sie können nur hoffen, dass ihr Walter irgendwo einen sicheren Unterschlupf gefunden hat. Die beiden 15-Jährigen waren den ganzen Tag über mit ihrer Bannspielschar unterwegs, ein Auftritt im Reservelazarett, eine Weihnachtsfeier im "Gotischen Saal", der Säulenhalle des ehemaligen Spitals bei der Dreifaltigkeitskirche. Just als die Feier beendet war: Fliegeralarm! Eigentlich hätten die beiden Hitlerjungen Barnikel und Kley den nächstgelegenen Schutzraum aufsuchen müssen, "doch dies taten wohl die wenigsten von uns, wir wollten heim", sagt Barnikel. Sie sausten los, Richtung Weststadt. Mit dabei ihr Klassenkamerad Hans Maier. Durch die stockdunkle Lange Straße (heute: Neue Straße), am Münsterplatz vorbei, wo Straßenbahnwagen verlassen dastanden, die Hirschstraße hinab, die Bahnhofstraße hoch und über den Bahnhofsteg. "Kaum ein Mensch begegnete uns." Das Brummen am Himmel verstärkte sich, und plötzlich tauchten farbige Lichter durch den Nebel auf. "Nun war es klar: Jetzt ist Ulm an der Reihe, was man schon länger befürchtet hatte."

Kaum sitzt Walter Barnikel im Luftschutzkeller, zwischen Frauen und Kindern, die er nicht kennt, geht es los. Die erste Bombe, die in der Nähe runtergeht, erwischt die Elisabethenkirche. Dann die Blauring-Schule. Die Einschläge kommen näher, die Detonationen werden lauter. Walter Barnikel presst sich ein sauberes Taschentuch auf Mund und Nase, die Luftschutzbrille, ein Utensil, das er immer mit sich trägt, hat er bereits aufgesetzt. Bombe auf Bombe folgt. Das Haus erzittert immer wieder, das kleine Kellerfenster zerbirst. Das Licht flackert, geht aus. Der Boden wackelt, die Kinder schreien auf, die Frauen jammern und klagen. "Ich war still wie ein Fisch und habe in mich hineingebetet."

 

Operation Garfish

 

Die Maschinen der Royal Air Force hoben zwischen 15 und 15.30 Uhr von mehreren südenglischen Flugplätzen ab. Kurz vor 12 Uhr hatte der Chef des Bomberkommandos, Luftmarschall Arthur Harris, auch "Bomber-Harris" genannt, den Angriffsbefehl gegeben, wie Hans Eugen Specker im Sammelband "Ulm im Zweiten Weltkrieg" schreibt. Der ehemalige Leiter des Ulmer Stadt­archivs hatte Mitte/Ende der 1980er Jahre Einsicht in die Akten, die jahrzehntelang im Public Record Office, dem Nationalarchiv in London, unter Verschluss gehalten worden waren. Akten, die präzise Auskunft geben über die Luftangriffe auf die deutschen Städte. Auch darüber, dass Harris Ulm bereits früher als Angriffsziel genannt hatte - unter dem Codenamen "Garfish" sollte die Stadt bereits am 5. Dezember 1944 in Schutt und Asche gelegt werden. Doch die Operation "Garfish", auf Deutsch: Hornhecht, wurde wieder abgeblasen. Der dicken Wolkendecke wegen.

Der Angriff war freilich nurmehr eine Frage der Zeit, denn Harris und sein Stellvertreter Robert Saundby wussten um die Bedeutung Ulms. Um den Eisenbahnknotenpunkt. Von Ulm aus lief der Nachschub an die Westfront. Sie wuss­ten um die Kriegsindustrie, die im Westen der Stadt angesiedelt war. Und sie wussten um die Verletzbarkeit der Innenstadt durch Brandbomben. Enge mittelalterliche Bebauung, viele Fachwerkhäuser. Ulm, ein lohnendes Ziel also, um einen Feuersturm zu entfachen. Deshalb hatte Saundby die Stadt an der Donau auch auf seine "Top-Secret"-Liste genommen, die so genannte Fischliste. Sie umfasste 94 Decknamen für deutsche Städte, die die Royal Air Force mit Flächenbombardements überziehen wollte: von Haddock (Schellfisch) für Leipzig über Cod (Kabeljau) für Duisburg und Shark (Hai) für Bonn bis Sawfish (Sägerochen) für Heilbronn und Chevin (Döbel) für Dresden.

Für den 16. Dezember hatte Harris erneut Ulm ins Visier genommen. Operation Garfish, die zweite. Aber wieder machte das Wetter dem englischen Bomber Command einen Strich durch die Rechnung. Zwei Mal verschob Harris, der ganz bewusst zivile Ziele hatte bombardieren lassen, um den Widerstandswillen der deutschen Bevölkerung zu brechen, den Angriffszeitpunkt - bevor er letztlich auf den 17. Dezember auswich. Ulm sollte, wie Specker schreibt, eine "allerletzte Schonfrist" bekommen.

Die Wetterbedingungen waren zwar am dritten Advent auch nicht besser, aber kurz vor 12 Uhr kam der Einsatzbefehl für "Garfish" - und damit für die Crews von 317 schweren viermotorigen Lancaster-Bombern und 13 leichten zweimotorigen Mosquito-Jagdbombern der 1. und 8. Bombergroup. Die Mannschaften wurden gebrieft, die Bomben geladen. 1.449 Tonnen an tödlicher Fracht: Sprengbomben, Minen - vor allem aber Brandbomben. Insgesamt 96.646 Bomben unterschiedlicher Art hatten die Flugzeuge geladen, als sie an diesem Nachmittag starteten und sich westlich von London zu einem riesigen Luftverband vereinten, um nach einer Flugzeit von rund drei Stunden und zwanzig Minuten ihr Ziel zu erreichen. Der Befehl lautete: Zerstörung der Innenstadt sowie der Industrie- und Eisenbahnanlagen.

"Target: Ulm. Mission Date: 17/12/1944." So wird Captain Peter Clayton, der die 156. Squadron mit neun Lancaster-Bombern anführte, später in seinem Bericht über den Nachtangriff schreiben. Clayton war einer der erfahrensten Piloten mit über 80 Einsätzen, er gehörte zu den "Pfadfindern", jenen Crews also, die den Bombern den Weg wiesen. "We light the way" lautete denn auch das Motto der Einheit. Für einen seiner Kameraden, Flight Lieutenant Lindsay Cann, sollte der Angriff auf Ulm der letzte Flug werden: Die Maschine des 23-jährigen Piloten stürzte über Frankreich ab, die siebenköpfige Besatzung wurde in Clichy begraben. Sieben von insgesamt mehr als

55.000 Angehörigen der Royal Air Force, die bei den Luftangriffen auf deutsche Städte ums Leben kamen - was Arthur Harris den wenig schmeichelhaften Beinamen "Butcher" (Schlächter) einbrachte, angesichts seiner Strategie, die keine Rücksicht auf eigene Verluste nahm.

Captain Clayton kennt die Stadt nicht, Ulm, die historische Altstadt, die mittelalterlichen Häuser, die sich um das Münster gruppieren, die engen Gassen. Er weiß auch nicht, wie die Menschen in den Kellern sitzend um ihr Leben bangen. Er fliegt über einer Wolkendecke, setzt die Skymarker gemäß der Anweisungen des Masterbombers, der in einer Höhe von rund 9.000 Metern über der Stadt kreist und mit Radar ausgestattet ist - also trotz Nebels die Lage der Innenstadt, der Fabriken und Eisenbahnanlagen ausmachen kann. Beim Abdrehen stellt Clayton fest, dass sie offensichtlichen einen guten Job gemacht haben. Schwarzer Rauch dringt durch die Wolken, die Stadt brennt:

Skymarking and the bombing appeared to be well concentrated. Although the position could not be identified good fires were reported at the end of the raid with black smoke coming up through the cloud.

 

Feuersäulen über der Stadt

 

Unter der Wolkendecke brennt Ulm. Die Sprengbomben und -minen hatten die Dächer der Häuser weggepustet, die Fenster waren zerborsten, die Türen eingedrückt. Die zweite und die dritte Angriffswelle der englischen Bomber brachten das Feuer in die Stadt, die Stabbrandbomben, fast 95.000 an der Zahl, lassen die Häuser auflodern, meterhohe Flammen schlagen aus der Platz-, der Pfauen- und der Herrenkellergasse empor, riesige Feuersäulen stehen über dem Rathaus und dem Schwörhaus, vernichten den Büchsenstadel und das Kornhaus. Der Turm der Dreifaltigkeitskirche brennt wie eine Fackel, die Kirchenglocken krachen mit Getöse herunter, wird später René-Paul Zander in sein Tagebuch schreiben. Die Feuerwehren, mehrere Dutzend aus Nah und Fern, stehen auf verlorenem Posten gegen den Feuersturm, der durch die Altstadt fegt. Aus Wassermangel. Die Menschen versuchen zu löschen, rennen mit Eimern zur Donau …

"Der Luftschutz ist ein wichtiger und unentbehrlicher Teil der Landesverteidigung, der Dienst in ihm ein ehrenvoller, opferbereiter Einsatz für die deutsche Volksgemeinschaft." So steht es im Dienstbuch des Luftschutzbeobachters Glauninger. Ehrenvoll und opferbereit - daran verschwendet Glauninger keinen Gedanken. Er sieht, wie die Stadt, seine Stadt, im Bombenhagel versinkt und an allen Ecken und Enden brennt. Er hat Angst. Angst um seine Familie und sich. Angst um die Stadt. Der Rauch der brennenden Häuser dringt nach oben, macht ein Atmen fast unmöglich. Unten ist es die Hölle. Frauen und Kinder drängen die Treppen nach oben, um dieser Hölle zu entgehen. Große Worte hat er später nie über diesen dritten Advent 1944 verloren. Wenn er aber in ganz seltenen Momenten über diesen Luftangriff sprach, "dann mit Tränen in den Augen. Das erleben zu müssen hat ihn tief bewegt", berichtet sein Sohn Fritz, der dem Vater bei gutem Wetter immer das Essen im Henkelmann auf das Turmviereck gebracht hat. Wie sehr dem Warndienstbeobachter diese furchtbaren Minuten zugesetzt haben, lässt sich auch daran ermessen: Innerhalb eines halben Jahres hatte Friedrich Glauninger schneeweißes Haar.

"Jeder hat gebetet, jeder für sich", sagt Friedrich Holl. Gebetet, dass die Bomben das Haus verschonen. Als das Brummen der Flugzeugmotoren abebbt, hält es den damals 18-Jährigen nicht mehr im dunklen Keller. Die Nachbarschaft ist in rötliches Licht getaucht: Die Firma Ott brennt lichterloh. Die Wohnung und der Kolonialwarenladen der Eltern sind voller Glasscherben. Kein Fenster ist heil geblieben, aber wenigstens steht das Haus. Sie kehren alles zusammen, sichern den Laden notdürftig ab, als das Licht wieder angeht. Und kurz darauf die Sirene wieder heult. Luftwarnung. Minuten später: Fliegeralarm. Die Menschen rennen, auch ein Uniformierter, nicht ohne vorher Friedrich Holl zusammenzustauchen, weil die Fenster nicht abgedunkelt sind. "Und bei Ott stehen die Flammen haushoch."

 

Der Bunker als Todesfalle

 

Nach der Entwarnung macht sich der 18-Jährige auf den Weg. Er ist neugierig, will sehen, was passiert ist. Dass es im Bunker an der Heidenheimer Straße viele Tote gegeben hat, spricht sich rasend schnell herum in der Oststadt. Er läuft die paar hundert Meter - und sieht, wie die Feuerwehrmänner die Leichen heraustragen. Sie werden im Hof aufgebahrt. 123 Menschen, Alt und Jung, Männer, Frauen und Kinder. "Sie sind äußerlich unverletzt, lediglich kleine Blutrinnsale sind hier und dort am Mund zu erkennen. Alle sind oxydvergiftet. Ich gehe an der langen Reihe der Leichen entlang - und finde meine tote Frau und das tote Pflegekind", schreibt später Oberbrandmeister Gustav Krensel. Der Bunker war zwar nicht getroffen worden, aber eine Brandbombe hatte, so ist in einem Bericht des städtischen Kriegsschadenamtes vom 26. Oktober 1948 nachzulesen, Teerfässer entzündet, die an den hinteren Eingängen des Festungswerks gestapelt waren. Das tödliche Rauchgas drang durch die Schießscharten in die Kasematten, wo sich die Menschen in Sicherheit vor den Bomben gewähnt hatten.

Auch ein Kleinkind ist unter den Opfern. Wer die Eltern sind, lässt sich zunächst nicht feststellen, eine Kleiderkarte wird angelegt - nach genauer Anweisung: "Von jedem Kleidungsstück der Leiche ist eine Probe in Größe eines großen Vierecks zu entnehmen, auf der Karte zu befestigen und darüber in dem kleinen Raum anzugeben, von welchem Stück die Probe stammt." Und so werden Teile des weißen Strickhöschens und des rosa Strickhäubchens auf die Kleiderkarte getackert, die dem Meldebogen beiliegt. Und heute noch das Grauen jener Nacht greifbar macht. Das Kind wird schließlich identifiziert: Harald Bückle war erst zwei Monate alt, als er in dem Bunker erstickte. Während Karl Gross, gerade mal drei Wochen alt und an diesem 17. Dezember in der Dreifaltigkeitskirche getauft, auf wundersame Weise überlebt.

 

Im Wäschekorb überlebt

 

An die Bomben, die an diesem 17. Dezember 1944 auf Ulm niedergingen, kann sich Karl Gross nicht erinnern. Wie sollte er auch! Gross war damals ein Baby, etwas mehr als drei Wochen alt. Aber: Der kleine Karl war die Hauptperson an diesem trüben dritten Adventssonntag. Die Familie hatte sich in die Dreifaltigkeitskirche begeben, die Taufe des Nachzüglers stand an - des dritten Buben nach Rudolf (10) und Georg (8). Der Vater hatte extra Fronturlaub bekommen, die Familie feierte. Kleine Freuden in Zeiten des Krieges.

So beginnt die Geschichte des Karl Gross. Sie hätte auch an diesem 17. Dezember 1944 schon wieder zu Ende sein können. Das Schicksal meinte es anders mit ihm, "das sind die Zufälle des Lebens. Es war, wie es war." Das sagt er heute, 70 Jahre danach. Und doch: Der 17. Dezember ist für ihn jedes Jahr aufs Neue ein bedrückender Tag, ein bitterer Tag, ein Tag, der bleischwer auf ihm lastet. Es ist der Tag, als der Krieg seine Familie auslöschte: Vater Karl Appel, Mutter Martha (geb. Gross) und seine beiden Brüder Rudolf und Georg. Lediglich einer überlebte: eben der kleine Karl.

Und das kam so. Die Familie, die in der Schülinstraße 9 wohnte, raffte das Nötigste zusammen, als die Sirenen um 19.05 Uhr losheulten. Die beiden Söhne an die Hand, den Täufling in den Wäschekorb, zwischen Decken, obendrauf noch den Brautschleier zum Schutz für den Kleinen. So zogen die Appels los. Ziel: der Bunker an der Heidenheimer Straße. Eigentlich hätten die Fünf auch bei den Schwiegereltern des Vaters unterkommen können, nicht mal einen Steinwurf entfernt, im heutigen Schülinhof, war der Gross'sche Karosseriebetrieb - und ein Luftschutzkeller. Soldaten der Wehrmacht mussten aber in öffentlichen Bunkern Schutz suchen, weil sie als sicherer galten. Nicht so in diesem Fall, der Bunker an der Heidenheimer Straße geriet zur Todesfalle, in der über 120 Menschen umkommen sollten.

Stabbrandbomben, so wurde später rekonstruiert, hatten Teerfässer entzündet, die an der Mauer gelagert waren. Das hochgiftige Gas drang durch die Schießscharten ins Festungsinnere. "Getroffen wurde der Bunker nicht, die Menschen sind erstickt", sagt Karl Gross, der während des Angriffs im "Krätta" lag, wie der Schwabe zum Wäschekorb sagt. In einer Mauernische und unter dem Brautschleier, der wohl wie eine Art Filter wirkte, so vermutet er.

Jahre später meldete sich ein Feuerwehrmann bei Karl Gross, er hatte damals den Wäschekorb aus dem Bunker getragen, nicht ahnend, dass ein Baby drin lag. Erst als der Wäschekorb Töne von sich gab, bemerkten die Retter den Säugling. Für viele andere, vor allem Bewohner der Oststadt, kam jede Hilfe zu spät. Sie konnten nur noch tot aus dem Bunker getragen werden - so auch die Familie Appel. Eine Szene, die Gross' Oma mitansehen musste und an der sie fast zerbrochen ist, wie der Enkel sagt. "Für Leute, die an den lieben Gott glauben, ist das fürchterlich."

Die Großeltern adoptierten den Enkel - deshalb heißt er auch Karl Gross und nicht Karl Appel. 1953 starb dann die Oma, zwei Jahre später der Opa, der nach dem Krieg den Karosseriebetrieb wieder aufgebaut hatte. Karl Gross ist mit 10 Jahren Vollwaise, nun schon zum zweiten Mal. Tante und Onkel nehmen ihn auf. Der Bub macht sein Abitur, fängt an Maschinenbau zu studieren, wirft aber sein Studium hin, um die Firma des Großvaters zu übernehmen. "Ich habe einfach die Verantwortung gefühlt", sagt Gross, der vor sechs Jahren seine Firma verkauft hat - ausgerechnet am 17. Dezember.

 

Der Morgen danach

 

Als der Morgen graut, zeigt sich das ganze Ausmaß der Zerstörung: Die Altstadt ist ein einziges Trümmerfeld. Im Quartier zwischen Platzgasse, Hirschstraße, Wengengasse und Olgastraße steht so gut wie kein Stein mehr auf dem anderen. Das gleiche Bild südlich des Münsters. Ruinen an der Steinernen Brücke, die Blau entlang, die Bahnhofstraße hoch, im Fischerviertel. Das Hafenbad ein Schuttberg. Durch die Platzgasse führt ein Trampelpfad. Überall Bomben­trichter, Reste von Fassaden. Aus den Trümmern qualmt es heraus, oft noch tagelang. Die Hitze in den Kellern, wo die Kohlen gelagert sind, ist enorm. Über der Stadt hängt ein schneidender, beißender Brandgeruch, "ein giftiger, gelblicher Rauch", erinnert sich Fritz Glauninger. Und Walter Barnikel hängt der Geruch noch heute in der Nase, "ich werde das nie mehr vergessen". Später kommt ein süßlicher Verwesungsgeruch hinzu, weil Leichen oder Körperteile unter dem Schutt liegen und zunächst nicht entdeckt werden.

Auf den Straßen erschütternde Szenen: Helfer legen vor den zerbombten und niedergebrannten Häusern die in den jeweiligen Kellern geborgenen Leichen ab. Überall liegen Leichen. In der Neutorstraße, der Köpfingergasse, der Sattlergasse, der Zeitblomstraße, der Dreiköniggasse, In der Wanne. 10, 12, 15 und mehr Leichen vor einer immer noch vor sich hin kokelnden Ruine. Es sind die Leichen der Nachbarn, schreibt Reinhold Settele in seinen Erinnerungen an die Brandnacht. "Sie hatten wächserne Gesichter und glichen kaum mehr den Menschen, die sie zu Lebzeiten waren. Es waren jene, die erstickt waren. Von denen, die in den Kellern und Häusern verbrannt waren, gab es wohl nichts mehr aufzubahren." Louis Gräter zum Beispiel. Der 87-jährige Drechslermeister wollte seine Wohnung in der Herrenkellergasse 31 beim Fliegeralarm nicht verlassen. Vielleicht war er auch bettlägrig. Eine Bombe macht das Haus dem Erdboden gleich, "von der Leiche konnte nichts gefunden werden", heißt es auf dem Meldebogen. Karl Fischer, von Beruf Gefängniswärter, starb in der Neutorstraße 22. "Todesursache: totale Verbrennung. Leiche oder Leichenreste konnten nicht gefunden werden." Auf dem Blatt mit der Nr. 610 steht der lapidare Satz: "Die Leiche war so stark verkohlt, so daß nicht mehr festgestellt werden konnte, ob es sich um Herr oder Frau W. handelt." Im Luftschutzraum am Adolf-Hitler-Ring erstickt und verbrennt ein Mann, der eigentlich nur auf der Durchreise ist und vom Bahnhof in den nahen Keller flüchtet. Von ihm bleibt nur eine goldene Sprungdeckeluhr mit Kette (stark angebrannt), ohne Monogramm, und eine vernickelte Tabakdose erhalten.

Schwer getroffen werden auch die Weststadt und Söflingen - was einerseits damit zusammenhängt, dass dort die Rüstungsindustrie ansässig ist und die

Eisenbahnanlagen sind. Andererseits: Die Piloten der Royal Air Force tendieren dazu, ihre Bomben früh abzuwerfen, um möglichst bald aus der Gefahrenzone zu kommen. Sprich: Sie haben immer noch Respekt vor der deutschen Flak. An diesem Abend ist die Gegenwehr aber gleich null. Im Bericht des NSDAP-Kreises Ulm/Donau, der den Fliegerangriff vom 17. Dezember 1944 zusammenfasst, steht unter Punkt 8 zu lesen: "Eigene Abwehr: keine". Dennoch muss der Masterbomber, der den Einsatz koordiniert, die Piloten immer wieder ermahnen, die Bomben nicht zu früh auszuklinken, sondern in die angewiesenen Markierungen zu tragen. Insgesamt werden in dieser Nacht fast 82 Prozent der Wohngebäude mehr oder weniger stark beschädigt - 1.879 davon total zerstört. 25.000 Ulmer sind obdachlos. Wer Verwandte oder Bekannte auf der Alb oder im Oberschwäbischen hat, flüchtet mit seinem verbliebenen Hab und Gut aus der Stadt. Züge fahren allerdings nurmehr bis Herrlingen, die Gleisanlagen sind beschädigt oder zerstört. Der Hauptbahnhof: weggefegt. Allein 65 Sprengbomben gehen auf die Bahnanlagen nieder, dazu 3.800 Brandbomben; 16 Lokomotiven und 945 Waggons sind nicht mehr einsatzfähig.

Und die Industrie? Unternehmen wie Magirus (Werke II und III) und Kässbohrer sowie die Pflugfabrik Eberhardt, Steiger und Deschler oder die Eisengießerei Hopff werden schwer beschädigt, andere wie Botzenhardt und Bosch, die Ebner'sche Buchdruckerei, die Karosseriefabrik Georg Gross, die Fahrzeugfabrik Mattes & Co., die Maschinenfabrik Edmund Maier und Heinrich Sohn,

Fabrik für Heeresausrüstungen, werden zur Gänze zerstört.

 

Das Wunder von Ulm

 

Und was ist eigentlich mit dem Münster los? Eine für Ulmer wichtige Frage, sagt Friedrich Holl, der sich am nächsten Morgen aufmacht, um nach dem Ulmer Wahrzeichen zu sehen. Dort, direkt vor dem Münster, liegt noch tagelang eine 1.000-Kilo-Bombe. Ein Blindgänger. Das Münster aber ist unversehrt - angesichts der Trümmerwüste in den angrenzenden Quartieren mutet es wie ein Wunder an, dass die Kirche nicht getroffen wird. Beziehungsweise: Brandbomben fallen zwar aufs Dach des Kirchenschiffs, durchschlagen es auch. Aber Friedrich Glauninger und seine Kollegen alarmieren in diesen 27 Minuten, die der Angriff dauert, immer wieder die Münsterfeuerwehr und dirigieren die Männer zu den Brandherden. Schlimmeres kann somit verhindert werden. Dass die englischen Piloten den Befehl hatten, das Münster auszusparen, wird immer wieder gern erzählt - die Realität ist freilich eine andere, wie der ehemalige Stadtarchivleiter Hans Eugen Specker bestätigt: "Einen solchen Befehl gab es nicht."

Es gibt freilich in dieser Nacht und am darauffolgenden Morgen weitere Wunder: dass sich Menschen wiederfinden, die einander schon tot glaubten. Und dass Menschen wie der Luftschutzbeobachter Glauninger und seine beiden Kollegen den Bombenangriff auf dem Turmviereck des Münsters überleben. Erst gegen 6.30 Uhr am Montagmorgen steigt er die 300 Stufen herunter, den Weg zu Haus und Werkstatt kann er nicht direkt einschlagen. In der Platzgasse ist kein Durchkommen, weiter östlich ebenfalls nicht. Der Bürstenmachermeister muss einen Umweg nehmen, zuerst zur Donau, dann über die Oststadt, die weniger Treffer abbekommen hat, und zur Karlstraße 28.

Dort, zwischen glühenden Balken und Mauerresten spielt sich eine Szene ab, "die Hollywood nicht kitschiger verfilmen könnte", wie Fritz Glauninger im Rückblick sagt. Gerade in dem Moment, als sein Vater in der Ruine nach noch Verwertbarem sucht, kommt seine Mutter mit der kleinen Tochter Bärbel dazu. Sie hatten den Angriff im Luftschutzkeller der Weinzentrale in der Syrlinstraße überlebt. Aber was war mit dem siebenjährigen Fritz und der 16-jährigen Lotte? Der Vater hatte sie am Sonntag nach Niederstotzingen zu Verwandten geschickt, "mit dem Rucksack, um für Weihnachten Eier und Rauchfleisch zu holen". Die beiden kamen just in dem Moment vom Land zurück, als die ersten "Christbäume" fielen. Der Zug stoppte an der Böfinger Halde, sie mussten aussteigen, kletterten die kleine Anhöhe hoch. Von dort aus erlebten sie den Bombenangriff - und standen Stunden später vor der lichterloh brennenden Ruine, die einmal ihr Haus war. "Wir haben nur noch geheult, weil wir unsere Mutter zusammen mit Bärbel im Keller vermuteten." Als Fritz und Lotte nach einer schrecklichen Nacht am nächsten Morgen wieder zur Karlstraße 28 zurückkehren, fließen Tränen. Freudentränen. Der Vater ist da, Mutter und Bärbel sind unversehrt, "wir lagen uns in den Armen. Wir hatten zwar nichts mehr, aber wir hatten uns." Was brauchte es da noch Geschenke zu Weihnachten, das angesichts der in Trümmer liegenden Stadt und der in großer Not lebenden Menschen recht bescheiden ausfällt. Walter Barnikel kann sich daran erinnern, dass seine Mutter irgendwie ein paar Weihnachtsbrötle zusammengezaubert hat - aber richtige Weihnachtsstimmung wollte nicht aufkommen. Barnikels Bruder war gefallen, sein Vetter, sein Onkel ebenfalls. "Und wir haben ja auch nicht gewusst, ob wir am nächsten Tag noch am Leben sind." Als hätte es eines Beweises für diese Aussage bedurft: Selbst in der Heiligen Nacht macht der Luftkrieg keine Pause. Irgendwann nach Mitternacht heulen die Sirenen, die Menschen greifen zur ihren Koffern, rennen in die Keller und Bunker.

 

Durchhalteparolen der Partei

 

Der Ulmer Sturm, das Nazi-Blatt, erscheint erst wieder am 20. Dezember 1944 - und verbreitet die übliche Rhetorik von feindlichen Luftpiraten, die "Brand und Mord" über die Stadt gebracht haben. "Aber die Männer und Frauen der alten Reichsstadt haben die Schrecken des Bombenkriegs durchgestanden, sie sind hart geblieben und sie wussten, dass bereits viele deutsche Städte derartige schwere Angriffe schon zehnfach und noch öfters ausgehalten haben. Diese Städte sind uns Ulmern mit großem Beispiel vorangegangen." Der Artikel, der mit dem Titel "Im Bombenhagel" versehen ist, endet mit dem Appell, "sich unter gar keinen Umständen und um keinen Preis der Drohung mit Feuer und Bomben zu beugen". Die Betonung liegt auf: unter gar keinen Umständen. Dazu ist zu sagen, dass die lokalen Parteigrößen den Abend des 17. Dezember 1944 nicht in der Stadt erlebt haben. Dem Bericht des städtischen Kriegsschadenamtes zufolge, der aus dem Jahr 1948 datiert, sollen Oberbürgermeister Friedrich Foerster, Kreisleiter Wilhelm Maier und auch Polizeidirektor Wilhelm Dreher aus der Stadt geflohen sein. "… sie überließen die 69.000 Einwohner ihrem Schicksal in Bunker und Stollen, die nur bescheidene Sicherheit boten." Hätten Foerster, Maier und Dreher es sogar in der Hand gehabt, die Tragödie zu verhindern? Später wurde immer wieder behauptet, Auslandssender wie BBC London hätten die Bombardierung bereits am 15. Dezember angekündigt. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ist umstritten. Belegt aber ist ein parteiinterner Vorgang, den der ehemalige Ulmer Stadtarchivleiter Specker beschreibt: Mitte Januar 1945 erklärte Maier gegenüber der Gauleitung in Stuttgart, er habe zwei Tage vor dem 17. Dezember 1944 die Evakuierung der Innenstadt angeordnet und die notwendigen Unterlagen für Montag, 18. Dezember, eingefordert. Zu spät, wie sich zeigen sollte.

Am 30. Dezember 1944 findet die Gedenkfeier für die Toten statt, mit denselben Durchhalteparolen, vorgetragen von OB Foerster und Kreisleiter Maier, die die Schuld gebetsmühlenartig den Juden geben. Seit das Judentum den Geist des Materialismus zum Götzen erhoben habe, rase der Krieg hemmungslos über die Erde, so Foerster. Jetzt gelte es, das Vermächtnis der Toten zu erfüllen und "unerschütterlich für die deutsche Freiheit und damit auch für den Wiederaufbau unserer Stadt" zu kämpfen. Maier appelliert an die Volksgemeinschaft, an Brüder und Schwestern, an Ehre und Treue und fordert ein "unerbittliches Dagegenschlagen mit aller Kraft, damit wir einst in Ehren vor diese Grabhügel treten und melden können, daß wir den Sieg erfochten haben … Vor uns steht, noch verhüllt in all seine Geheimnisse, das neue Jahr. Wir schreiten hinein, im felsenfesten Glauben, daß es das Jahr der Deutschen sein wird."

Weitere Bombenangriffe der Engländer und Amerikaner auf Ulm folgen - unter anderem am 1. März 1945. Zwischen 13.15 Uhr und 14 Uhr werfen die Flugzeuge 103.000 Bomben ab, 532 Menschen kommen dabei ums Leben. Beim letzten Bombenangriff am 19. April 1945 - er ist gegen den Güterbahnhof, den Ulmer Hauptbahnhof und die Stadt Neu-Ulm gerichtet - sterben 91 Menschen.

Am 24. April 1945 fahren gegen 16 Uhr die ersten US-Panzer in die Stadt ein.

 

Der Text basiert auf Erinnerungen von Fritz Glauninger, Friedrich Holl, Walter Barnikel und Reinhold Settele sowie auf Recherchen des ehemaligen Stadtarchivleiters Hans Eugen Specker. Sein Buch "Ulm im Zweiten Weltkrieg. Forschungen und Geschichte der Stadt Ulm, Bd 6" bildet die Grundlage für diesen Artikel. Verwendung fand auch das Sonderheft Nr. 1 "Ulm im Zweiten Weltkrieg", bearbeitet von Kurt Füller, sowie Tagebucheintragungen von René-Paul Zander.

Die Fotos stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus den Beständen des Stadtarchivs Ulm. Die Videos der Straßenbahnfahrt sowie die Slideshow mit

Fotos der zerstörten Stadt Ulm wurden bearbeitet und zur Verfügung gestellt von protel Film & Medien GmbH.

 

Südwest Presse Online

17. Dezember 2014