Fanta Unser
von Sebastian Dalkowski
Vor 20 Jahren begegnete unser Autor dem einzigen Fußballtrainer, der von Training nicht viel hielt – und spielte die Saison seines Lebens. Doch mehr als seinen Spitznamen erfuhr er nie. Ein Wiedersehen im Zigarillorauch.
Als ich Fanta zum ersten Mal traf, hatte ich wirklich andere Probleme. Mein bester Freund hatte mich mit einer Holzlatte am Auge erwischt, Blut floss, meine Mutter entschied, mich ins Krankenhaus im Nachbarort zu fahren. Doch als wir auf die Landstraße abbogen, stand dort dieser Kerl mit Schnurrbart und rausgestrecktem Daumen.
Ganz bestimmt trug er schon damals Goldkettchen und sein Hemd offen. Mutter hielt, er stieg ein, wir fuhren weiter. Warum muss die jetzt diesen Kerl mitnehmen?, dachte ich. Es geht um mein Augenlicht. Lass mal sehen, sagte er. Warum das denn bitte? Widerwillig nahm ich den Kühlbeutel beiseite. Ich war froh, als er nach ein paar Kilometern wieder ausstieg.
Ein oder zwei Jahre später wurde der Mann, der sich mein Auge nur ansehen wollte, um sich mein Auge anzusehen, wurde Fanta mein Trainer für diese eine, diese beste Saison aller Zeiten. Die Saison, die den Rest meiner elfjährigen Karriere im unbezahlten Jugendfußball auf ewig in den Schatten stellen wird. Und jetzt sitze ich ihm gegenüber in seiner Küche, das erste Wiedersehen, zwanzig Jahre später. Auf dem Tisch liegen zwei große leere Butterbrotdosen. Fanta trägt Kapuzenpulli, der Schnurrbart ist ergraut. Er raucht Zigarillo, was die Luft auch nicht mehr schlechter macht. Fragt nicht, ob das okay ist. Ich glaube, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil er sich gar nicht vorstellen kann, dass das nicht okay ist. Und bevor er irgendwas anderes sagt, sagt er, dass er gerade neue Zähne bekommen habe und nicht wisse, ob der Kleber halte. Können dann halt mal rausrutschen. Sofort beschließe ich, dass es eine gute Idee war zu kommen. Da hat er noch nicht von seinem Herzinfarkt erzählt.
Was ich herausfinden will, ist, warum ich auch nach zwei Jahrzehnten noch an diese Saison denke. Was eigentlich heißt: Warum ich auch nach 20 Jahren an keinen Trainer mehr Erinnerungen habe als an ihn, gute Erinnerungen. Da gab es Trainer… ach, ich will gar nicht davon anfangen. Dabei weiß ich kaum etwas über ihn. Nicht mal, wie er in Wirklichkeit heißt und warum ihn alle Fanta nennen und warum er damals unser Trainer wurde.
„Mich hatten se gefragt.“ Und weil se ihn gefragt hatten – nämlich, ob er die C-Jugend des Uedemer SV trainieren wolle –, und er ohne zu überlegen zugesagt hatte, obwohl er noch nie eine Mannschaft trainiert hatte, deshalb also trug sich ein mittelgroßes Fußballwunder zu. Ein Team von 14 Spielern, 13, 14 Jahre alt, von denen die Hälfte so aussah, als würde sie täglich auf dem Schulhof verprügelt, siegte und siegte, bis es Meister war in der Staffel 3 des Fußballverbands Niederrhein, Kreis 8, Kleve-Geldern. Gegen den ärgsten Konkurrenten siegten wir dreimal, weil der nach dem zweiten Sieg wegen angeblicher Benachteiligung durch den Schiedsrichter Protest eingelegt hatte. Hat dir der Titel was bedeutet?, frage ich. „Du sitzt in der Jahreshauptversammlung und dann wird das erwähnt“, sagt er, „das war schön.“
Am meisten in Erinnerung geblieben war mir das Training, das strenggenommen kein Training war. Strenggenommen war Fanta auch kein Trainer, irgendeine Art Schein besaß er nicht. Er ließ bloß immer zwei Mannschaften wählen und gegeneinander antreten. Jeder andere Jugendtrainer hatte zumindest den Ehrgeiz, irgendwas mit Hütchen zu machen oder uns mit Kopfballtraining oder Rundenlaufen zu peinigen, bis wir uns in ein einziges Keuchen verwandelt hatten. Fanta tat das alles nicht. „Warum sollen 14-Jährige Kondition trainieren?“, fragt er. Und Hütchen? „Im Spiel sind auch keine Hütchen. Wenn ich dat schon sehe... Ihr müsst spielen, da lernt Ihr am meisten.“ Ein einziges Mal habt Ihr beim Training keinen Ball gesehen, sagt er. Da hatten wir das erste Spiel mit 1:6 verloren. Er selbst trainierte immer mit, obwohl er damals schon uralt war. 37. Die Hose zu kurz, das T-Shirt zu eng für den Ansatz eines Bierbauches. Techniker, kein Läufer. „Ich konnte einen Pass von 60, 70 Meter spielen und der kam an.“
Wahrscheinlich war das nicht mal seine Absicht, aber er ließ uns Kinder damals einfach Kinder sein, die Bock hatten, Fußball zu spielen, und sah in uns keine Rohdiamanten, die stetig geschliffen werden mussten. Die meisten von uns waren ohnehin höchstens Kiesel. „Ich habe mich nicht da hingestellt, um Siebter zu werden“, sagt er, aber das war für ihn noch lange kein Grund, irgendein Trainingsbuch zu studieren oder uns mit einer komplizierten Taktik aufs Feld zu schicken. „Normalerweise brauchte ich die Leute nur auf den Platz zu stellen und dann lief das.“ Selbst das regelmäßige Erscheinen beim Training sah er nicht so eng. „Der Torhüter ging lieber mit der Freundin zur Mühle knutschen.“
Der Junge ist wie ausgewechselt und in der Schule ist er auch besser geworden.
Dann erzählt er von Michael. Michael war klein, schmächtig, Einwechselspieler. Doch wann immer es ging, brachte er ihn. „Und dann schoss der auch noch ein Tor.“ Als er die Eltern im Vereinslokal traf, sagten die: „Der Junge ist wie ausgewechselt und in der Schule ist er auch besser geworden.“ Mehr kannst du als Jugendtrainer nicht erreichen.
Aber was soll das nun mit dem Spitznamen?
Auch Fanta spielte als Jugendlicher beim Uedemer SV, sein Vater war Trainer und gab eines Tages eine Runde. Die anderen bestellten Malzbier oder Cola, nur dieser Valentin Hülsen, der wollte eben eine... nun ja. „Bald war auf meiner Fanta aber mehr Schaum.“ Der Spitzname setzte sich überall durch, überall in Uedem zumindest, aber weil er seinen Heimatort niemals verließ, ist ihm der Name bis heute erhalten geblieben. Fanta ist sogar hier geboren, 1960 gab es noch ein Krankenhaus, er war das jüngste von fünf Kindern. Das Haus, in dem er seit 21 Jahren mit seinem Bruder wohnt, ist das Haus, in dem er aufwuchs. Es kam vor, dass er mal für eine Frau umzog. Geheiratet hat er nie.
So treu er seiner Heimat ist, so treu ist er seinem Arbeitgeber. Nach der achten Klasse beendete er wie üblich die Hauptschule und fing für 2,77 DM Stundenlohn in einer Fabrik für Sicherheitsschuhe an. Da ist er heute noch, es ist die einzige Schuhfabrik im Ort, die überlebt hat. „Bevor ich nicht arbeiten gehe, muss ich umfallen.“ Eigentlich wollte er Schreiner werden, aber so war das damals: Aus der Schule und erst mal Geld verdienen. Mit dem Fahrrad ist er in ein paar Minuten da. Was praktisch ist, weil er zwar einen Führerschein besitzt, aber nie ein Auto besessen hat. Wurde damals ja auch viel getrunken, da hätte er eh nicht so häufig fahren können, lässt er durchblicken.
Als er noch unser Trainer war, hatte er es nach Feierabend zweimal in der Woche eilig. Kurz nach Hause und dann gleich zum Sportplatz. Fast schon Stress. Einige Tage nach unserem Treffen telefonieren wir noch mal: „Mir ist eingefallen, dass ich damals auch viel Schiedsrichter gemacht habe, von der zweiten Mannschaft bis in die D-Jugend.“
Ein paar Jahre nach dem Titelgewinn bekam Fanta es mit seiner Bandscheibe zu tun, da war er gerade Anfang 40. Fußball musste er bleiben lassen. Stattdessen probierte er Billard. Kaum hat er das gesagt, holt er aus einem Zimmer einige Pokale und stellt sie auf den Küchentisch. Das mit dem Billard gab er aber auch bald auf. Weil sie immer dann spielten, wenn er Bundesliga gucken wollte. Er hat einen Sky-Anschluss in seinem Zimmer, sein Bruder hat einen Sky-Anschluss in seinem. Sie halten für unterschiedliche Vereine, Fanta für Stuttgart, sein Bruder für Schalke. An diesem Abend will er Atlético gegen Real gucken, aber nur die erste Halbzeit. Morgen um 6 beginnt die Schicht.
Nur freitags durchbricht er die Routine. Nachmittags fährt er in den Nachbarort, um alte Bekannte zu treffen. Per Anhalter, noch immer, wie auch sonst? Setzt sich ins Café am Markt und wartet. Zweimal im Jahr fährt er in den Urlaub. Jedes Jahr muss er sein Herz checken lassen, seitdem er 2010 einen Herzinfarkt hatte. Lag im Bett, die Brust tat weh, und er sagte zu seinem Bruder: „Da stimmt was nicht, ruf mal den Notarzt.“ Ein paar Monate später stand er wieder in der Fabrik.
Die C-Jugend des Uedemer SV spielte im Jahr nach dem Titelgewinn eine Liga höher. Ohne mich, weil ich zu alt war, auch ohne Fanta. Der Vater eines neuen Spielers übernahm. „Ich wollte Hans nicht im Weg stehen“, sagt Fanta. Sie stiegen gleich wieder ab. Fanta trainierte nie wieder eine Mannschaft.
Wir haben die beste Meisterschaft aller Zeiten angemessen gefeiert. Fanta hatte dem Kapitän der ersten Mannschaft 50 Euro abgeschwatzt, seinem Schuhfabrikanten ebenfalls, und Imbissbetreiber Karl ein paar Beutel Pommes. Es war der 9. Mai 1998. Das weiß ich so genau, weil Guildo Horn an diesem Tag beim Eurovision Song Contest überraschend den neunten Platz schaffte.
Dass jemand anders sein und damit durchkommen kann, habe ich damals vielleicht zum ersten Mal begriffen.