Vanessa Vu
Kurzbiographie der Preisträgerin in der Kategorie Thema des Jahres 2018: „Heimat und die Fremden“
Geboren 1991 in Niederbayern, bastelte als Kind Magazine für ihre kleine Schwester, später folgten Praktika bei der Passauer Neuen Presse, bei jetzt.de, dpa und ZEIT ONLINE. Nach dem Studium der Ethnologie und Rechtswissenschaften in München, Paris und London absolvierte sie die 54. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule. Für eine Reportage zu Hightech-Grenzüberwachung in Europa erhielt sie den 1. Helmut-Schmidt-Nachwuchspreis. Seit Mai 2017 arbeitet sie als Redakteurin für Politik und Gesellschaft bei ZEIT ONLINE.
Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
In meiner täglichen redaktionellen Arbeit hat es mich schockiert, wie wir Abschiebungen inzwischen einfach hinnehmen – als wären sie ein bürokratischer Akt und nicht eine Ansammlung menschlicher Tragödien. Das verwundert aber auch nicht: Die Betroffenen kommen kaum zu Wort, sie leben am Rande unserer Gesellschaft und werden dann eines nachts still und leise von dort entfernt. Ich gehörte zu ihnen, meine Familie ist der Abschiebung aber durch viele Zufälle entkommen. Wir haben uns vom Rand in die Mitte bewegt. Diese Position wollte ich nutzen, um Empathie für all die anderen zu schaffen. Also begann ich, meine eigene Geschichte aufzuarbeiten: mit alten Akten aus der Ausländerbehörde, Fotos, einem Besuch meines früheren Asylbewerberheims und vielen langen Gesprächen mit Familie und Freunden.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie dabei?
Die größte Herausforderung war womöglich, die Geschichte überhaupt zu schreiben und zu veröffentlichen. Wir Journalisten recherchieren oft die Geschichten anderer und verbergen unsere eigene. Ich hielt das aus Selbstschutz auch so. Wer seine innersten Ängste und Gefühle der Öffentlichkeit preisgibt, macht sich schließlich angreifbar, wird vielleicht darauf reduziert. Gerade als junge Journalistin mit Migrationshintergrund hatte ich mich gefragt, ob ich wirklich in dieser Ecke landen wollte – und ob ich noch dazu meine Familie da mit reinziehen will, indem unsere private Geschichte plötzlich zur öffentlichen Debatte steht. Letztlich glaube ich aber: Wir Menschen können einander nur verstehen, wenn wir auch mal unsere Fassaden einreißen und uns verletzlich machen.
Ansonsten war auch die Recherche an sich herausfordernd. Meine Gesichte spielt ja in meiner frühen Kindheit, viele Erinnerungen daran sind verzerrt und unvollständig: Wie sahen unsere Zimmer aus, was waren das für Reisetaschen, wie war das nochmal mit dem Suizid im Heim oder der Abschiebung unseres Bekannten? Ich musste die einzelnen Punkte klassisch-journalistisch verifizieren. Das war ein mühsamer, aufwühlender, aber lohnenswerter Prozess, denn ich erfuhr dabei auch viele neue Dinge.
Von wem und/oder wie wurden Sie dabei unterstützt?
So eine Geschichte erfordert Vertrauen und das habe ich in meine Kolleginnen und Kollegen. Ich fühle mich auch mit meinen eher abseitigen Themen willkommen und gefördert. Meine Redaktion ging zum Beispiel von Anfang an sehr behutsam mit meiner persönlichen Geschichte um und drängte mich nicht, möglichst schnell und plakativ zu liefern – was ja ein Klischee vom Onlinejournalismus ist. Ich bekam für meine Recherche die Zeit, die ich brauchte. Dafür will ich insbesondere meinen Ressortleitern Michael Schlieben und Marcus Gatzke danken. Dass die Geschichte am Ende auch den Umfang, die Detailtiefe und die Poesie bekam, habe ich den Textbesprechungen und der Redigatur von David Hugendick zu verdanken. Er ermutigte mich, mich von Denkmustern aus der Journalistenschule zu lösen und freier an den Text heranzugehen. Und schließlich geben mir gerade andere asiatische Deutsche und Autoren, Filmemacher und Künstler mit Migrationshintergrund enorm viele Impulse und Ideen, neue, eigene Erzählweisen zu entwickeln. Seit ich ihn Berlin wohne, tausche ich mich viel mit Leuten aus den Communities aus, die ebenfalls Themen wie Identität und Diaspora verhandeln. Wir besprechen unsere Arbeit und geben uns Feedback.
Was macht für Sie persönlich guten Journalismus aus?
Ich formuliere es mal als Wunsch, weil wir noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns haben: Guter Journalismus ist für alle da. Ich glaube, dass alle Menschen die Welt um sie herum verstehen wollen. Die großen Qualitätsmedien entstammen aber häufig bestimmten gesellschaftlichen Milieus und zielen auf bestimmte gesellschaftliche Milieus. Viele Geschichten und Perspektiven gehen dabei unter, zum Beispiel die der Frauen, Migranten oder Armen (oder armen eingewanderten Frauen). Wenn sie dann mal vorkommen, wirken sie wie aus einem Kuriositätenkabinett oder fügen sich in Erzählungen, die die Betroffenen persönlich gar nicht unbedingt teilen, zum Beispiel der unterdrückten Muslima. Guter Journalismus dagegen wird auch von diesen Menschen gemacht und erzählt auch ihre Geschichten und Perspektiven auf Augenhöhe und in präziser, verständlicher Sprache.
Was braucht ein herausragender Artikel?
Ein herausragender Artikel klingt noch lange und intensiv in mir nach, er beschäftigt mich, ich denke weiter darüber nach, suche vielleicht sogar das Gespräch mit anderen darüber. Was genau das Gefühl auslöst, kann ich nicht abstrakt zusammenfassen. Manchmal ist es die Sprache, die mich sogar in Themen reinzieht, die mich gar nicht besonders interessiert hatten. Manchmal ist es eine Perspektive, über die ich noch nie nachgedacht habe. Immer kann ich mit den Protagonisten mitfühlen, weil sie mir sehr nahe gebracht wurden.
Was erwarten Sie von der Preisverleihung am 20. Juni in Berlin?
Ich habe meine Eltern eingeladen, die auch in meiner nominierten Geschichte vorkommen. Bislang haben sie keine Vorstellung davon, was ich eigentlich arbeite. Mein Alltag könnte nicht weiter von ihrem entfernt sein. Dass sie nun sogar an einem so schönen Aspekt meines Berufes teilhaben können, macht mich glücklich und auch ein bisschen nervös. Aber sie sind auch nervös. Am Ende wird es aber gut, glaube ich, egal, ob das mit dem Preis was wird oder nicht.