Der Volksvertreter
von Tina Kaiser
Wolfgang Bosbach war 23 Jahre lang einfacher Bundestagsabgeordneter – und doch bekannt wie sonst nur Kanzler und Minister. Fast täglich gab der rheinische CDU-Mann Interviews, trat im Fernsehen oder bei Feuerwehrfesten auf. Seit einem Jahr versucht er sich nun an seiner vielleicht härtesten Aufgabe, dem Ruhestand. Wie ist es ihm dabei ergangen?
19. Oktober 2017 Bosbachs Bundestagsbüro, Berlin
An dem Tag, an dem Wolfgang Bosbach seine Kisten packt und sich auf das Abenteuer seines Lebens vorbereitet, macht sich seine Sekretärin große Sorgen. Kirsten Sittig, eine Frau mit strengem Blick, aber grenzenloser Geduld, sitzt im Vorzimmer seines Bundestagsbüros. Sie ist am Vortag gestürzt, sie kann sich nur unter Schmerzen bewegen, aber sie will den Chef nicht allein lassen am letzten Tag seines Berufslebens. Nur beim Packen helfen kann sie ihm nicht. Da könne der Chef gleich mal üben, wie er ohne sie klarkomme, sagt sie. Sie hat so ihre Zweifel, dass er das schafft. Wolfgang Bosbach, 65, Bundestagsabgeordneter im Ruhestand, hat bislang kaum einen Schritt ohne sie geplant. Sie hat sein ganzes Leben gemanagt, pro Jahr mehr als 10.000 Zuschriften und 6000 Terminanfragen beantwortet, mehr als 200 Hotelübernachtungen gebucht, Tausende von Terminen überall in der Republik organisiert, Sitzungen, Bierzeltauftritte, Kirmeseröffnungen, Bürgersprechstunden, Interviews, Talkshows. Wenn Bosbach im Zug nach Berlin saß, schickte ihm Frau Sittig rechtzeitig eine SMS, damit er nicht vergaß, in Hannover umzusteigen.
Sittig sagt: "Der wird sich noch wundern."
Im Nebenzimmer steht Bosbach zwischen Stapeln von Büchern und Aktenordnern. Sein Sakko hat er über seinen Chefsessel geworfen, das Hemd hängt ihm hinten aus der Hose. In einer Zimmerecke drängen sich zwei Fernsehteams, die mit Kameras und Richtmikrofonen den Tag dokumentieren wollen.
Ja, ja, sagt Bosbach, stimme schon. Seine Frau Sittig sei ein Sechser im Lotto für ihn gewesen. Aber nun müsse sie loslassen lernen. "Die hat wohl Angst, dass ich ohne sie verwahrlose und unter der Brücke lande." Bosbach lacht seine typische Bosbach-Lache, Kopf in den Nacken geworfen, Augen halb geschlossen, Mund weit auf, ein lang gezogenes, lautes "Haaa! Haaa! Haaa!", das das ganze Büro ausfüllt.
Als die Lache verhallt ist, fängt Bosbach an, Bücher in Kisten zu stopfen. Er sagt, er werde sich emanzipieren, er habe sich in der CDU-Kreisgeschäftsstelle in Bergisch Gladbach ein kleines Büro angemietet. Ab heute sei er seine eigene Sekretärin. Vor einigen Monaten habe er gelernt, wie man E-Mails schreibe. Er habe sein "Rentnertelefon" gegen ein Smartphone ausgetauscht, und seit ein paar Tagen besitze er den ersten eigenen Laptop seines Lebens, den könne er sogar schon ein- und ausschalten. Während er brummt: "Ich kann jetzt machen, was ich will", wickelt er ein gerahmtes Bild seiner Töchter zusammen mit einer einzelnen Hotelbadeschlappe in eine alte Tennisjacke. Wäre Bosbachs Leben ein Loriot-Film, träte er in der nächsten Szene zu Hause zur Tür herein und erklärte seiner Frau, dass er ab sofort auch hier wohne.
Wolfgang Bosbach ist der große Illusionskünstler der deutschen Politik. Er war 23 Jahre lang ein einfacher Bundestagsabgeordneter, erst in Bonn, später, nach dem Regierungsumzug, in Berlin. Die wichtigste Position, die er innehatte, war die Leitung des Innenausschusses – ein Fachgremium, das Bundesgesetze vorbereitet. Trotzdem ist Bosbach bekannt und beliebt wie sonst Kanzler oder Minister, trotzdem gibt es kaum einen anderen deutschen Politiker, der so oft um Interviews gebeten und in Fernsehtalkshows eingeladen wurde, "Anne Will", "Maybrit Illner", "Hart aber fair" oder wer sonst noch alles anrief. Eine Untersuchung hat mal ergeben, dass bei Talkshows durchschnittlich 200.000 Zuschauer mehr einschalten, wenn Bosbach zu Gast ist. Es hat damit zu tun, dass Bosbach als Exemplar einer selten gewordenen Spezies gilt. Er geht auf in der Rolle des Aufrechten, der sagt, was er denkt, auch wenn es seiner eigenen Partei und seiner Bundeskanzlerin vielleicht nicht passt. Und es liegt daran, dass Bosbach der Politik fast zweieinhalb Jahrzehnte lang alles untergeordnet hat.
Seine Frau und seine drei mittlerweile erwachsenen Töchter Caroline, Natalie und Viktoria sahen ihn häufiger im Fernsehen als am Frühstückstisch. Bosbach raste rastlos durch die Republik, 30.000 Kilometer im Jahr auf deutschen Autobahnen. Er war nie auf einem Elternabend oder einem Martinszug, er verpasste die meisten Geburtstage seiner Kinder. Stattdessen hielt er Reden bei irgendeinem CDU-Ortsverband, schüttelte Hände auf Schützenfesten oder gab auf Karnevalssitzungen den Ehrenpräsidenten. Das sei seine Pflicht, sagt er bis heute. Die Leute hätten ihn direkt gewählt, sechs Mal hintereinander, zuletzt mit 58,5 Prozent. "Ich darf sie nicht enttäuschen." Im vergangenen Jahrzehnt verging kaum ein Tag, an dem er kein Interview gab. Selbst als er wegen eines Defekts seines implantierten Defibrillators auf einem Parteitag 2013 in Ohnmacht fiel, schickte er aus dem Krankenwagen ein Statement an Journalisten. Bosbach ist seit Jahren schwer herz- und krebskrank. Sein Handy stellte er nur aus, wenn er mal wieder auf einem OP-Tisch lag – oder in einem Fernsehstudio saß.
Doch ab diesem Tag im Oktober 2017 ist alles anders. Bosbach ist kein Politiker mehr, zumindest nicht offiziell. Das Mandat ist weg, das Abgeordnetenbüro bald auch. Die Frage ist, was von einem wie Bosbach dann bleibt. Eine Karriere zu beenden ist für die meisten Menschen eine der schwierigsten Aufgaben ihres Lebens. Und Bosbach wäre nicht der erste Spitzenpolitiker, der daran scheitert. Das Gefühl, nicht mehr gefragt zu sein. Das Telefon, das plötzlich kaum noch klingelt. Die Talkshows, in die jetzt andere eingeladen werden.
Wird er damit klarkommen?
Bosbach ist sich selbst nicht sicher. Zugeben wird er das allerdings erst Monate später. In den letzten Stunden in seinem Berliner Büro tastet er sich langsam an die Wahrheit heran. Er sagt: "Ich mache mir keine Illusionen. In ein, zwei Jahren bist du vergessen. In fünf Jahren bist du dann ,Wer war das noch mal?'"
Er hat Vorkehrungen getroffen. Frau Sittig hat ihn für die nächsten sechs Monate noch durchgebucht. Bosbach, so sagt er, will langsam abtrainieren, wie ein Spitzensportler. "Ab Ostern wird es ruhiger." Er hat lange mit sich gerungen, ob er wirklich aufhören soll. Im Herbst 2016 hat er seinem Kreisverband in Bergisch Gladbach dann mitgeteilt, dass er bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr kandidieren werde. Seine Partei war ihm zunehmend fremd geworden.
Bosbach sagt, er sei es nicht, der sich verändert habe.
Er war Anfang der 1970er-Jahre in die CDU eingetreten, weil er verhindern wollte, dass das Abtreibungsverbot aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Seitdem hatte er sich in der Partei immer heimisch gefühlt. Er, der Jurist, der Katholik, der sich nichts mehr verpflichtet fühlt als dem Grundgesetz und der Bibel.
Doch seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, so sieht es Bosbach, ist die CDU immer weiter nach links gerückt. Bosbach hat diesen Umzug nicht mitgemacht. Er wohnt noch in der CDU, aber nicht in Merkels, sondern in der, in die er einmal eingetreten ist. Die vielen Milliarden, mit denen die Bundesregierung und die EU Länder wie Griechenland vor der Staatspleite retten wollten, verstand er nicht. Wenig später hat ihn dann die Flüchtlingspolitik der Union noch weiter von seiner Partei entfernt. Die "Willkommenskultur", die offenen Grenzen, die deutschen Alleingänge in der EU, all das findet Bosbach falsch.
Seine Positionen sind konservativ, aber er trägt sie ohne Häme oder Hetze vor. Er ist einer der wenigen, der schnellere Abschiebungen und mehr Polizeigewalt fordern kann, ohne dabei fremdenfeindlich oder unmenschlich zu wirken. Bosbach steht für Law and Order und für Anstand.
Ich wollte nicht auf Dauer die Kuh sein, die quer im Stall steht.
An der Basis bekommt er für seine Kritik viel Applaus. Für viele dort ist er einer der letzten aufrechten Christdemokraten. Er spricht aus, was sie denken, aber nicht sagen – mit Rücksicht auf die Partei, die Kanzlerin und ihre Regierung. Die Parteioberen dagegen behandeln ihn zuweilen wie einen renitenten Onkel, den man nur deswegen noch auf Familienfeiern einlädt, weil man an sein Erbe will.
Bosbach sagt: "Ich wollte nicht auf Dauer die Kuh sein, die quer im Stall steht."
Das ist der eine Grund für seinen Rückzug, seine Gesundheit der andere. Bosbach weiß seit 2010, dass er unheilbar an Prostatakrebs erkrankt ist, der Krebs hat gestreut. 2016 wurde ihm ein Teil der Lunge entfernt. Mit einer Hormonentzugstherapie hält er die Krankheit in Schach, der Entzug von Testosteron verlangsamt das Wachstum der Tumorzellen. Doch die Tabletten machen ihn sehr müde, gerade abends. Das viele Reisen, die langen Rückfahrten nachts auf der Autobahn, er steckt es nicht mehr gut weg. Dass er dieses Leben so lange durchgehalten hat, ist eigentlich ein Wunder. 2011 hatte ihm sein Onkologe prognostiziert, die Therapie würde vielleicht drei bis vier Jahr wirken, jetzt ist er immer noch da.
Für den Ruhestand hat er sich vier Dinge vorgenommen: Erstens, nicht mehr alles zusagen, nur noch Termine annehmen, die ihm Spaß machen und bei denen er nicht weit reisen muss. Zweitens, er will sich nicht mehr so viel aufregen. Drittens, er will die Welt sehen. Als Abgeordneter hat er sich nie mehr als eine Woche Urlaub am Stück gegönnt und eigentlich auch dann ständig gearbeitet. Das soll jetzt anders werden. Viertens, er will endlich richtig Golf spielen lernen.
Die kommenden zwölf Monate werden zeigen, dass Bosbach nicht sehr gut darin ist, Vorsätze einzuhalten.
Vorerst allerdings versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel in den folgenden Wochen vergeblich, in Berlin eine Koalition mit den Grünen und der FDP zu bilden, während Bosbach versucht, in Bergisch Gladbach einen Drucker einzurichten. Seine Tage sind voll, im Durchschnitt hält er täglich zwei bis drei Reden, er läuft als Model bei einer Charity-Modenschau mit und wählt als Jurymitglied die "Miss 50plus Germany". Als Sekretärin hat Bosbach deutlich weniger Talent als Frau Sittig.
5. Dezember 2017 Auf der Autobahn, Rheinland
SMS an Bosbach: "Herr Bosbach, wollen wir unseren nächsten Termin planen?"
Wenige Minuten später ruft Bosbach an: "Ich bin gerade auf der Autobahn. Was gibt's?"
"Können wir uns in den kommenden Tagen treffen?"
"Ich bin auf der Au-to-bahn! Ich kann doch jetzt nicht in meinen Terminplan gucken. Sie rufen immer an, wenn ich im Auto bin."
"Sie haben mich angerufen."
"Ich hab' was? Oh, stimmt. Ha-haaa. Also nächste Woche bin ich mit meiner Frau und meiner Tochter in Berlin. Da geh' ich zu einem Abendessen bei BMW und zum Friseur."
"Sie fliegen nach Berlin, um zum Friseur zu gehen?"
"Ich gehe seit 23 Jahren in Berlin zum Friseur."
"Toll, darf ich mitgehen?"
"Nein. Das ist privat."
Bei seinen Haaren verstehe der "WoBo" keinen Spaß, sagt sein bester Freund Horst Becker, ein braun gebrannter Unternehmer aus Bergisch Gladbach, der nie darum verlegen ist, seinen Kumpel "WoBo" zu ärgern. "Nichts regt den mehr auf, als wenn jemand sagt, das auf dem Kopf sei ein Toupet." In jedem Sakko habe Bosbach einen Kamm, jeden Morgen sprühe er sich "Tonnen von Haarspray opp den Kopp". Da sei der WoBo sehr eitel. "Im Urlaub muss man das Wasserballspielen im Pool seinen Haarwaschtagen anpassen."
13. Dezember 2017 Hotel "Steigenberger", Berlin
Bosbach schlägt zum "schnellen Mittagessen" das "Steigenberger Hotel" am Kanzleramt vor. Er hatte nie eine Abgeordnetenwohnung in Berlin, er gehört einer Generation von Männern an, die Hausarbeit lieber anderen überlassen. In den Sitzungswochen wohnte er viele Jahre in diesem Hotel, Zimmer 562. Er sagt: "Da hat das Bett schon meine Form angenommen." Bosbach mag keine Veränderungen, nicht in der CDU und auch sonst nicht. In der Bahn bucht er immer einen allein stehenden Sitz in der ersten Klasse, im Flieger einen Gangplatz in der Businessclass. Urlaub macht er am liebsten auf Mallorca und Gran Canaria, immer in denselben Hotels.
Zimmer 562 im Berliner "Steigenberger" ist ideal für ihn, weit weg vom Aufzug, Blick zum Innenhof. Er kann nicht schlafen, wenn es zu laut oder zu hell ist. Sobald er in ein Hotelzimmer kommt, stöpselt er den Kühlschrank aus, das Surren nervt ihn. Es gab schon Nächte, in denen er jedes verfügbare Kissen vor Türen und Fenster gestopft hat. Einmal, im Urlaub in Havanna, hat er die Matratze ins Bad geschleppt und auf dem Boden geschlafen, weil ihn der Straßenlärm kirre gemacht hat.
Im "Steigenberger" räumt der Kellner den kleineren der beiden Gasträume, als Bosbach das Restaurant betritt. Ein Gast wird gebeten, sich umzusetzen. Bosbach scheint das selbstverständlich zu finden, er lässt sich auf eine Bank fallen und bestellt beim Kellner eine "Yom-Tom-Bum-Bum-Suppe oder wie die heißt." Der Gast lacht, als er den Raum verlässt.
So ist es oft. Bosbach kann ziemlich unverschämt sein, aber die Leute nehmen es ihm nicht übel. Egal, ob er sein Auto bei einer Veranstaltung vor den Eingang ins Halteverbot stellt oder sich an der Buffetschlange vorbeidrängelt und sich den Teller volllädt. Als gäbe es ein ungeschriebenes Gesetz: Lassen Sie mich durch, ich bin Bosbach.
Bosbach sagt, er habe nicht viel Zeit, gleich müsse er bei RTL die gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlungen kommentieren, danach zum Dinner bei BMW. Also schnell: Es laufe bisher alles bestens. Er rege sich jetzt nicht mehr so schnell auf, seine Veranstaltungen seien bumsvoll, er werde von Anfragen überhäuft, nur begännen die jetzt immer mit "Jetzt, wo Sie Zeit haben." Haaa, haaa, haaa! Den Bürokram habe er im Griff, er mache alles allein, Post und Buchungen. Die Bahntickets kaufe er am Schalter im Bahnhof, für die Flugtickets fahre er zum Flughafen Köln-Bonn, da kenne er einen, der arbeite dort im Reisebüro.
Ist das nicht viel teurer als im Internet?
"Das ist jetzt so 'ne Frage, da reg' ich mich jetzt wirklich drüber auf! Woher soll ich das denn wissen?"
In der Hotellobby trifft Bosbach seine Frau Sabine und die zweitälteste Tochter, Natalie, 25, die als Stewardess bei Eurowings arbeitet. Bosbach hat seine Frau 1984 bei einer Karnevalsparty kennengelernt. Sie haben geheiratet, sie haben drei Kinder bekommen, sich ansonsten aber wenig gesehen. Sabine Bosbach interessiert sich nicht für Politik und hasst es, interviewt oder fotografiert zu werden. Auf Veranstaltungen begleitet sie ihn so gut wie nie. Die Leute wollen ja eh nur mit ihrem Mann reden.
"Frau Bosbach, ist Ihr Mann jetzt öfter zu Hause?"
"Nein, eher weniger als vorher. Früher gab es Sitzungswochen und sitzungsfreie Wochen. Dann war er zu Hause. Jetzt ist er nur noch weg."
"Haben Sie sich das anders vorgestellt?"
"Nein, alles gut so. Für ihn."
Wolfgang Bosbach fummelt an seinem Handy herum, er hört nicht zu. Seine Frau und seine Tochter verabschieden sich. Sie wollen am Alexanderplatz einkaufen gehen. Als sie längst weg sind, schaut Bosbach von seinem Handy auf. "Huch, wo sinn die Frauen denn jetz' hin?"
15. Januar 2018 Café an der Domplatte, Köln
aroline Bosbach sitzt in einem schwarzen Seidenanzug in einem Café am Kölner Dom, eine bildschöne Frau, das Gesicht dezent geschminkt, die langen, braunen Haare frisch geföhnt. Sie ist 28 Jahre alt, seine älteste Tochter. Wie ihr Vater liebt sie die Bühne, sie arbeitet als PR-Beraterin, eigentlich will sie in die Politik. Sie gibt gern Interviews über ihren Vater, und ebenso wie ihr Vater sagt sie gern, was sie denkt. Nicht alles davon ist schmeichelhaft für ihn.
"Wie kommt Ihr Vater ohne Sekretärin klar?"
"Das ab-so-lute Chaos", sagt Caroline Bosbach. Ihre Eltern waren gerade im Urlaub im Oman, da hat sie das Büro des Vaters gemanagt. Sie hat ihm das Internet eingerichtet, die Kisten ausgepackt, die sich immer noch unangetastet in den Ecken stapelten, sie hat die Terminanfragen in Mappen sortiert und seine Rechnungen organisiert. "Ich bin fast vom Stuhl gefallen, was der gebucht hat." Für Flüge von Köln nach Berlin habe er hohe dreistellige Beträge gezahlt. Caroline Bosbach erzählt das alles wie eine Mutter, die über ihren Lausebengel spricht. Keine Häme, viel Liebe. Dann sagt sie: "Er wird alles vehement abstreiten und behaupten, dass alles hervorragend funktioniert."
Am nächsten Tag streitet Bosbach alles ab.
Bosbach, der Jurist, der auch als Politiker penibel darauf geachtet hat, jeden noch so nebensächlichen Fakt korrekt wiederzugeben und sich nie angreifbar für den politischen Gegner zu machen, hat in seinem Privatleben offenbar einen flexiblen Wahrheitsanspruch. Über seine Familie erzählte er früher in Interviews immer das gleiche: Sobald er zu Hause sei, habe er nichts mehr zu sagen. Er wolle im Fernsehen Fußball sehen, stattdessen werde er zu "Germany's Next Topmodel" gezwungen. Wenn er nach einer langen Sitzungswoche nach Hause gekommen sei, habe ihm seine Frau einen Einkaufszettel in die Hand gedrückt und gesagt: "Morgen passt du mal auf die Kinder auf."
Caroline Bosbach sagt, das sei völliger Quatsch: "Wenn er nach Hause kam, war er immer extrem angespannt, fertig, genervt, müde, da musste die Telefonleitung frei bleiben, da durfte der einzige Fernseher nicht benutzt werden. Fröhlich und entspannt war er bei uns sehr selten." Sie könne sich an keine einzige Situation erinnern, in der ihre Mutter ihn mit einem Einkaufszettel losgeschickt oder er auf die Töchter aufgepasst habe.
"Wieso sagt er dann so was?"
"Was soll er denn sagen: Ich hab noch nie auf meine Kinder aufgepasst?"
Andere Familien zerbrechen daran, wenn die Kollegen in der Firma oder wildfremde Menschen im Bierzelt mehr Aufmerksamkeit bekommen als die eigenen Kinder. Bei den Bosbachs dagegen herrscht eine fast unheimliche rheinische Toleranz. Die Tochter sagt, das sei auch vor der Krankheit ihres Vaters schon so gewesen. Gerade weil seine Frauen ihn so lieben, lassen sie ihn immer wieder ziehen. "Er schöpft Kraft aus seinen Wahnsinnstagen", sagt Caroline Bosbach. Das Rampenlicht, die Fans, die für ihn klatschen und ihm schreiben, die ständige Bestätigung, sie hielten ihn am Leben. So sei er eben, der Papa.
Sie begleitet ihn oft auf Veranstaltungen, sieht, wie er Menschen zum Lachen bringt, wie sie sich um ihn scharen, ihm seine Sorgen erzählen, ein Foto mit ihm wollen. Dann ist sie stolz, seine Tochter zu sein. Es gibt allerdings auch Tage, da tut er ihr leid. Wie kurz vor Weihnachten, als er sich mit ihr in Köln getroffen hatte, um ihr das erste Mal in 28 Jahren selbst ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Er hatte seinen Terminplan durcheinandergebracht und stellte fest, dass sein Anschlusstermin, ein Interview beim WDR, erst um 20 Uhr und nicht schon um 19 Uhr stattfinden sollte. "Was machen wir denn jetzt", habe er entsetzt gefragt. "Das hat man ihm angesehen, es war für ihn das Schlimmste, Leerlauf zu haben."
16. Januar 2018 Zu Hause bei Bosbachs, Bergisch Gladbach
Die Bosbachs leben in einem kleinen Einfamilienhaus am Waldrand, von der Straße aus ist weder eine Hausnummer noch ein Name zu sehen. Die Hecke ist gestutzt, der Rasen gepflegt, im Blumenbeet wünscht ein Holzrentier im Weihnachtsmann-Kostüm "Frohes Fest." Es ist neun Uhr morgens, Bosbach öffnet die Türe, läuft voran in den Keller, vorbei an mehreren Dutzend Karnevalsorden, durch einen kleinen Fitnessraum mit Trampolin und Stepper in eine winzige Abstellkammer. In den Regalen liegen zwischen alten Koffern und Kisten mit Weihnachtsschmuck 34 Aktenordner – Bosbachs Leben.
Seit er Politiker ist, sammelt er jeden Zeitungsartikel über sich. Die Arbeit, das Ausschneiden, Aufkleben und in Klarsichtfolien-Abheften, überließ er seinen Eltern. Der Vater ist inzwischen tot, seine Mutter Else, 89, klebt noch immer jede Woche stundenlang Zeitungsausschnitte auf, die er ihr bringt. Sie sagt, sie mache das gern. So wisse sie immer, was der Jung' so treibe. Er lasse sich ja selten blicken. Als Ersatz hat sie einen lebensgroßen Bosbach-Pappkameraden in der Wohnzimmerecke stehen, den ihr RTL mal geschenkt hat.
Wolfgang Bosbach blättert gern in den alten Ordnern. Die meisten Artikel machen ihn stolz, ganz wenige traurig. Er schlägt eine Seite aus dem Jahr 1994 auf, sein erster Bundestagswahlkampf, Bosbach trug damals noch einen dicken Schnäuzer im Gesicht, er sitzt auf einem Fahrrad. "Bosbach strampelt sich ab", es war damals sein Wahlslogan. Mehrere Monate lang war Bosbach jeden noch so kleinen Ort in seinem Wahlkreis abgefahren, Unterbilstein, Krampenhöhe, Niedergrützenbach, insgesamt 1500 Kilometer, bei jedem Wetter. Er fing sich eine schwere Grippe ein, die er ignorierte, bis sich sein Herzmuskel entzündete. Seit 2004 braucht er deshalb einen Herzschrittmacher.
Ist es nicht verantwortungslos, als Vater von drei Kindern so seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen? Bosbach sagt: "Ja, das stimmt." Auch dass er jahrelang nicht zur Prostatakrebsvorsorge ging, obwohl seine Frau ihn immer gedrängt hatte. "Das werfe ich mir massiv vor." Geändert hat er seinen Lebenswandel nach der Krebsdiagnose trotzdem nicht. Bosbach behauptet, er könne halt nicht anders. Sein Leben, das war immer die Arbeit. Würde man ihm die Arbeit wegnehmen, er würde vermutlich zusammenfallen wie ein Kartenhaus.
Bosbach sucht sich Aufgaben, er arbeitet jetzt wieder mehr als Rechtsanwalt. Sein Spezialgebiet sind Schadenersatzklagen für Urlauber, deren Flug gestrichen wurde. Am Wochenende hat er eine Klageschrift gegen die Lufthansa verfasst. Jeden Tag verbringt er mehrere Stunden damit, Bürgerbriefe zu beantworten.
An diesem Morgen hat er sich um kurz nach sieben an den Schreibtisch gesetzt. Jeden Tag nimmt er neue Einladungen an, fast egal, für was es ist. Gestern Abend war er beim Roten Kreuz und hat sich die Sorgen des Vereins angehört, dem die Mitglieder weglaufen. Die Infomappe, die ihm mitgegeben wurde, steckt im Papierkorb. Seinen Urlaub in Oman vergangene Woche brach er vorzeitig ab, weil er einen Termin in der Heimat vergessen hatte, die "Landtechnischen Unternehmertage" in Würzburg. Auf eigene Kosten flog er einen Tag früher zurück, um dort die versprochene Rede zu halten.
Viel hat sich nicht geändert, seit Bosbach nicht mehr im Bundestag ist. Er ist nun, was er im Grunde schon lange war: erster Vorsitzender der Bosbach-Partei, eine One-Man-Show auf ewiger Deutschlandtournee.
Große Politiker haben ein Vermächtnis, eine Politik, mit der sie in die Geschichtsbücher eingehen. Adenauer hatte die Westbindung, Helmut Kohl die deutsche Einheit und Gerhard Schröder die Agenda 2010. Bosbach war kein Kanzler, in den Geschichtsbüchern wird er vielleicht bloß eine Fußnote sein. Aber auch er will etwas hinterlassen. Er will, dass sich die Leute an einen Politiker erinnern, der ist wie sie. Der sie nicht enttäuscht, ihnen nie absagt. Der zuhört und ihre Sorgen ernst nimmt. Einer, der ihnen keinen Mist erzählt, nur weil es die Parteiräson verlangt. Er will der Beweis sein, dass Politiker aufrichtig sein können.
Seine Häutung vom treuen Parteisoldaten Wolfgang Bosbach zur politischen Ich-AG begann im Jahr 2005. Damals dachten alle, dachte vor allem Bosbach selbst, dass Angela Merkel ihn zu ihrem Innenminister machen würde. Er galt als Ausnahmetalent, das Nacht für Nacht jeden Fachbericht zum Thema innere Sicherheit las und wie kein anderer in der Lage war, komplizierte Sachverhalte so auf den Punkt zu bringen, dass die Menschen das Problem verstanden. Trotzdem entschied sich Merkel im letzten Moment gegen ihn.
Die Kanzlerin, so glaubt Bosbach bis heute, sei sich wohl nicht ganz sicher gewesen, ob sie seine uneingeschränkte Loyalität bekommen hätte. "Wenn das ihre Meinung war, hatte sie auch noch recht", sagt er. Seit dieser Zeit fühle er sich nur noch seinem Gewissen und den Wählern verpflichtet.
Bei Merkels Euro-Rettungspaketen stimmte Bosbach gegen seine Fraktion ab. Nach der Kölner Silvesternacht sprach er von Kontrollverlust, nach dem Anschlag eines Islamisten auf einen Berliner Weihnachtsmarkt forderte er, keine Flüchtlinge ohne Pass ins Land zu lassen. Er will Transitzentren an den Grenzen, er will schärfere Grenzkontrollen, er will die Zuwanderung begrenzen. Merkel will das nicht. Bosbach sagt in mehreren Gesprächen, dass es ihm immer um die Sache gegangen sei, nie darum, die Kanzlerin zu kritisieren. Er schätze sie.
Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.
In der CDU nehmen ihm trotzdem viele seine Alleingänge übel. Einige sagten ihm das ins Gesicht, wie Ronald Pofalla, der ihn vor Jahren anschrie: "Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen." Andere lästern nur über ihn, wenn er nicht im Raum ist. Der Bosbach, sagen sie, würde seine Mutter für eine gute Schlagzeile verkaufen. So laut, wie der mit seiner Krankheit hausieren gehe, müsse man sich ja fast fragen, ob er tatsächlich Krebs habe.
In Gesprächen mit Politikern aus der CDU fällt der Name eines anderen Mannes: Peter Hintze, einst Helmut Kohls Generalsekretär, später Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Merkel, zuletzt Vizepräsident des Bundestages. Hintze war 2013 an Lungenkrebs erkrankt. Er weihte nur ein paar enge Vertraute ein und ging weiter zur Arbeit. Erst durch seinen Tod im November 2016 erfuhr die Öffentlichkeit von seiner Krankheit. Viele in der CDU finden: Hintzes Abgang hatte Stil. Wieso muss der Bosbach so einen Lärm veranstalten, fragen sie.
Bosbach sagt, er hätte den Krebs nicht verheimlichen können. Sieben Monate nach seiner Prostata-OP habe er eine Strahlentherapie machen müssen, in Bergisch Gladbach kennt Bosbach jeden und jeder kennt ihn. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Bosbach schon drei Wochen nach seiner OP bei Markus Lanz in der Sendung die Republik über seine Krankheit informierte. Da wusste er noch gar nicht, dass eine Strahlentherapie nötig sein würde.
Bosbach hätte danach darum bitten können, dass der Krebs Privatsache bleibt. Er hält es genau andersherum: Im Privatleben hat der Krebs nichts zu suchen, er wird für ihn beherrschbar, indem er ihn politisch instrumentalisiert. Mit seiner Familie spricht er über die Krankheit gar nicht, mit Journalisten redet er seit Jahren regelmäßig über seine Beschwerden, seine Lebenserwartungen, seine Wünsche für die Beerdigung. Warum? Er sagt: "Weil ich damit vielen Krebskranken Hoffnung gebe." Sie schrieben ihm Dankesbriefe, nähmen ihn in der Fußgängerzone in den Arm.
Seine Frau hat ihn angefleht: "Lass das, das geht doch nicht, dass die ,Bild' besser Bescheid weiß als deine Familie." Geändert hat es nichts. Bosbach muss alle drei Monate zum Arzt, sein Blut wird auf Krebsmarker untersucht. Erst gestern war er wieder dort. Jetzt muss er auf das Ergebnis warten. Journalisten erzählt er das, seiner Tochter Caroline nicht.
Bosbach klappt in seinem Keller einen Fotoordner zu. "So, los jetzt", sagt er. Er habe einen "unverrückbaren Termin", Mittagessen mit seiner jüngsten Tochter Viktoria, 22. Sie arbeitet bei der örtlichen Sparkasse. "Ich weiß ja, dass ich als Papa viel nachzuholen habe."
Bosbach schlurft voraus zu seinem BMW in der Garage, der typische Bosbach-Gang, nach vorn gebeugt, als wolle er sich in den Wind legen. Kopf voraus, Kopf durch die Wand.
Ein bisschen Zeit ist noch, deswegen hält er auf dem Weg an einer kleinen Kapelle im Ortsteil Herrenstrunden. Hier hat er geheiratet, hier kommt er hin, wenn er Zeit für sich braucht. Bosbach steht im schummrigen Licht der Kirche, er wirkt zum ersten Mal nicht zappelig, sondern andächtig. Wäre er jetzt allein, sagt er, würde er sich auf die Kirchenbank setzen und Zwiesprache mit Gott halten. Er hat Gott oft gefragt: "Warum ich, warum zweimal so ein Schlag ins Kontor, erst das Herz, dann der Krebs?" Bis er gemerkt hat, dass die Frage falsch gestellt ist. Er hat doch im Leben vor allem viel Glück gehabt.
Bosbach kämpft gegen den Krebs, er hat alles versucht, von der Schulmedizin bis zu obskuren fernöstlichen Wunderheilern. Den besten Tipp, findet er, hat ihm ein chinesischer Arzt gegeben. Der habe gefragt: "Herr Bosbach, was machen Sie am liebsten?" – "Politik." – "Dann machen Sie weiter Politik."
16. Januar 2018 Schloss Morsbroich, Leverkusen
Wolfgang Bosbach sagt über sich, er sei wie ein Zirkuspferd. Sobald die Musik erklingt, fängt er an zu tanzen. Jeder Auftritt ist eine kleine Blitzheilung für ihn. Es gibt nicht viele Politiker, die so über sich sprechen.
Als er am Abend um kurz nach sieben in Schloss Morsbroich in Leverkusen aus dem Auto steigt, schlurft er noch windschiefer als sonst in den Spiegelsaal und lässt sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe fallen. Jahreshauptversammlung einer Bürgerinitiative, vor ihm auf der Bühne werden Festreden gehalten und Ehrennadeln verteilt. Bosbach hört nicht zu, er klatscht nicht, als alle anderen klatschen. Stattdessen daddelt er gähnend auf seinem Handy herum.
Ich habe jetzt die Ernährung umgestellt – von links nach rechts.
Als er wenig später die Bühne betritt, scheint jede Müdigkeit von ihm gewichen. Je länger er redet und je mehr das Publikum lacht, desto fitter wird er. Es geht um deutsche Ingenieurskunst, um den Frieden in Europa, die Chancen der Digitalisierung. Es ist die gleiche Rede, die er mit kleinen Änderungen jeden Tag hält: eine Mischung aus politischem Kabarett, Büttenrede und Bergpredigt, gespickt mit vielen Statistiken; Zahlen beeindrucken die Leute immer, und noch mehr Witzchen: "Ich habe jetzt die Ernährung umgestellt – von links nach rechts." Ein Bosbach-Auftritt funktioniert wie eine gute Gruppentherapiesitzung: Am Ende sind alle ein bisschen glücklicher.
Nach seiner Rede posiert Bosbach noch für ein paar Selfies mit goldbehangenen Damen jenseits der 60, dann geht er aus dem Schloss. "Och", sagt er. "Das war doch wieder ein schöner Tag."
4. März 2018 ICE 109 von Bonn nach Frankfurt
Je näher man ihrem Vater komme, hat Caroline Bosbach gesagt, desto mehr verschwinde das Zirkuspferd und gebe den erschöpften, gereizten Bosbach preis. Wenn das stimmt, dann ist Bosbach auf dem Weg zu einem Talk-Abend in Frankfurt ganz bei sich. Eigentlich war ein Interview auf der Bahnfahrt verabredet, aber Bosbach ist in den falschen Zugteil gestiegen. 40 Minuten später hält der Zug am Frankfurter Flughafen.
Anruf bei Bosbach: "Wo sind Sie? Ich warte auf dem Bahnsteig auf Sie."
"Ich fahre noch bis Frankfurt Hauptbahnhof."
"Ja, aber der Zug nicht. Der fährt nach Mainz."
Man hört nur noch Rascheln, 20 Sekunden später hastet Bosbach aus dem Zug. Kein Hallo, kein Danke.
Es ist ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmt. Der Körper wirkt kleiner, die Augen sind glasig. Monate später wird er erzählen, warum. Das Ergebnis seiner Tumormarker-Untersuchung im Januar war schlecht, zum zweiten Mal in Folge. Er hat Angst davor, dass es bald zu Ende gehen könnte.
Am zugigen Bahnsteig am Frankfurter Flughafen sagt er nichts dergleichen. Er redet über den Koalitionsvertrag. Vor drei Wochen hatte die Bundeskanzlerin endlich eine Regierung gebildet, allerdings nicht zu Bosbachs Zufriedenheit. In einem Dutzend Interviews hatte er kritisiert, es sei "ein Zugeständnis zu viel", der SPD das Bundesfinanzministerium zu überlassen. War das eine Kritik an der Bundeskanzlerin?
"Es steht mir bis HIER", er hält seine Hand über die Stirn, "nach Frau Merkel gefragt zu werden. Bis HIER! Es ist egal, was ich sage. Es geht nur noch um die Frage, ist der jetzt für Frau Merkel oder gegen Frau Merkel? Dass es Leute gibt, denen es nur um die Sache geht, will keiner hören. Jeeeeder wartet jetzt darauf, dass ich ein Wort sage, was als Kritik angesehen werden könnte."
Er stiert eine Weile stumm auf sein Handy. Dann sagt er, es sei wohl heute nicht sein Tag. Zwei Stunden später betritt er die Bühne mit den Worten: "Was für ein schöner Tag."
26. Juni 2018 Sicherheitskonferenz, Berlin
Während im Bundestag die Koalition am Asyl-Streit zwischen Merkel und Seehofer zu platzen droht, eröffnet Bosbach wenige Gehminuten vom Reichstag entfernt eine Sicherheitskonferenz. Die Unionsfraktion tagt, es geht um Bosbachs Thema, um offene oder geschlossene Grenzen, und er ist nicht dabei. Auf der Bühne sagt Bosbach, er müsse mal etwas zugeben. In den vergangenen Tagen habe er oft zu Hause vor dem Fernseher gesessen und gedacht: "Kaum biste weg, geht es in Berlin drunter und drüber." Das Publikum lacht, Bosbach freut sich.
Später in der Mittagspause sagt er, in Wahrheit sei er froh, dass er nicht mit am Fraktionstisch sitzt. Es würde ja doch wieder nur einen riesigen Ärger geben. Die Parteikollegen würden ihn beharken, weil er die Dinge inhaltlich sieht wie Seehofer. "Halt die Klappe, du schadest der Merkel", würden sie sagen. Und der Seehofer sei wahrscheinlich auch sauer, weil Bosbach es falsch findet, wie er mit der Kanzlerin umspringt. Bosbach sagt: "Ich will diesen ganzen Kappes nicht mehr."
Vielleicht hat er keine Kraft mehr für solche Kämpfe. Bei einem Vortrag am Nachmittag sitzt er in der ersten Reihe, der Kopf rutscht langsam auf die Brust, die Augen fallen ihm zu. Seinen Abendtermin sagt er ab und legt sich um sieben Uhr ins Bett. Er kann ja jetzt gehen, wenn er keine Lust mehr hat.
10. August 2018 Golfplatz, Bergisch Gladbach
Bosbach sieht aus, als hätte er sich als Tannenbaum verkleidet. Sein Körper ist fast vollständig von Zweigen bedeckt, nur sein Kopf und seine Unterarme mit dem Golfschläger ragen hervor. Er hat seinen Golfball ins Unterholz gedroschen. Jetzt hängt Bosbach in einer Tanne und versucht raschelnd eine Position zu finden, um den Ball wieder auf die Bahn schlagen zu können. Offenbar ist ihm bewusst, wie absurd das aussehen muss. Denn er lacht und sagt: "Was für ein Driss!"
Wir spielen über Bande, rechts und links in die Bäume. Geradeaus kann ja jeder.
Einige Meter weiter steht sein Freund Horst Becker, der sich so gern über "WoBos" Frisur lustig macht. "Komm' WoBo, das schaffst du!" Becker und Bosbach haben vor drei Jahren mit dem Golfen angefangen, sie sind eine Schicksalsgemeinschaft. Becker witzelt, sie hätten "Billard-Golf" erfunden: "Wir spielen über Bande, rechts und links in die Bäume. Geradeaus kann ja jeder." Bosbach ruft aus der Tanne: "Das Spiel macht definitiv demütig."
Eigentlich hatten die beiden damals nur einen Golf-Crashkurs gemacht, damit Bosbach Schirmherr bei einem Charity-Golfverein werden durfte. Becker sagt: "Aber dann hat der WoBo Feuer gefangen." Die beiden haben sich Ende der 1970er-Jahre beim Fußball kennengelernt und auch später zusammen gekickt, bis Bosbachs Gesundheit nicht mehr mitmachte. Golf kann man dagegen auch mit einem kaputten Herzen und einer halben Lunge spielen.
"Och näää", flucht Bosbach aus der Tanne, sein Ball hoppelt mehr als dass er fliegt.
Es ist jetzt fast ein Jahr her, dass Bosbach im Bundestag sein Büro geräumt hat. Wie hat sich sein Leben verändert? "Ein guter Golfspieler bin ich jedenfalls noch nicht geworden", sagt er, als er sich aus der Tanne befreit hat. Er habe einfach zu wenig Zeit zu üben, er trete immer noch jeden Tag auf.
"Aber dir geht es besser", sagt Becker. Bosbach nickt. "Ich hab jetzt zweimal in Folge die besten Untersuchungswerte gehabt seit der Lungen-OP vor zwei Jahren." Als sei mit dem Stress auch der Krebs von ihm abgefallen. Er hätte das damals niemals zugegeben. Aber: "Ich hatte schon Angst, dass mir der Abschied schwerfallen könnte, dass die Melancholie mich übermannt." Stattdessen fühle er sich befreit.
Lange hat er gedacht, ohne den Berliner Politikbetrieb nicht leben zu können. Jetzt erst hat er gemerkt, dass die Spielregeln dort schon lange nicht mehr seine waren. Er sagt, der Ton sei ihm zu rau geworden, jeder verfolge nur seine eigenen Interessen. "Politiker verbringen heutzutage so viel Energie damit, sich zu verstellen, zu taktieren, ihr Visier geschlossen zu halten." Bosbach sagt: "Ich hab das nie gekonnt."
Er steht, braun gebrannt und gut gelaunt, auf einem Golfplatz. Ein Mann, der sein kann, wer er ist, mit all seinen Unzulänglichkeiten. Die Politik interessiert ihn noch. Aber er findet, er schuldet ihr nichts mehr.
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