Das Ende der Institutionen

von Andreas Rosenfelder

Sie waren die Orte und Namen, die der Gesellschaft zur Orientierung dienten. Ihre Autorität war nicht unangefochten, aber offensichtlich: Ob Kirchen und Universitäten, Politiker und Intellektuelle, Würdenträger oder Leitmedien. Das ist vorbei. Ein Abgesang in sieben Kapiteln von Andreas Rosenfelder

Mockup des nominierten Textes von Andreas Rosenfelder von der Welt-Website
Die Welt / BDZV

1. Ein Eklat

Das Jahr 2008 ist lange, aber noch nicht allzu lange her. Es fühlt sich fast noch wie ein Teil jener breiten, ins Unscharfe ausfransenden Zeitmasse an, in der wir leben: die Gegenwart. Doch wenn man eine Zeitreise unternimmt, entdeckt man dort, vor etwa einem Jahrzehnt, die unheimliche Abbruchkante, hinter der sich alles in Geschichte und Gewesenes verwandelt: eine schon halb verschüttete Welt, die fremd und gespenstisch ins Heute hineinragt.

Der Mitschnitt der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises am 11. Oktober 2008 in Köln ist wie alles Vergangene, das nicht vergehen will, in der babylonischen Videothek von YouTube archiviert. Schaut man ihn an, spürt man einen kleinen Schock, so historisch wirkt die Zeremonie, gerade dann, wenn man sich noch nebelhaft an das ursprüngliche Ereignis zu erinnern glaubt.

Da steht der noch jugendliche, geradezu frische Thomas Gottschalk im Frack auf der Bühne und hält die Lobrede auf den steinalten Marcel Reich-Ranicki, der das Geschehen aus der ersten Reihe verfolgt, durch seine fernseherförmigen Brillengläser blinzelnd – ist es Müdigkeit, Irritation, Ekel? Gottschalk eröffnet seine Ansprache kunstvoll mit einer Anekdote: Bei der Feier zu Reich-Ranickis 85. Geburtstag, 2005 in der Frankfurter Paulskirche, habe er als Entertainer zum ersten Mal Angst verspürt, weil er „zwischen dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dem Herausgeber der ‚FAZ‚, Frank Schirrmacher,“ eingeplant war.

Weizsäcker, Schirrmacher, Reich-Ranicki: Sie alle sind tot, doch schon bei der Nennung der Namen ersteht ein Geisterreich wieder auf. Es erstreckt sich von Weizsäckers 1985 im Bundestag gehaltener Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes (aus welcher der Satz „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ blieb) über die Paulskirchenrede, die Reich-Ranickis Intimfeind Martin Walser 1998 hielt (daraus stammt die „Instrumentalisierung unserer Schande“) bis zum Suhrkamp-Roman „Tod eines Kritikers“, der Schirrmacher dazu brachte, Walser 2002 im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ des Antisemitismus zu beschuldigen. Dies war die intellektuelle Landkarte von Deutschland, und um sie flüchtig zu skizzieren, brauchte man nur die Namen einer Handvoll mächtiger Männer in wichtigen Ämtern.

Heute sind die Namen verblasst. Aber auch die Ämter selbst, also jene geistigen Kraftfelder, an denen sich kommunikative Autorität auf eine fast mystische Art und Weise verdichtete, haben ihren Zauber verloren. Dass jemand oder etwas „eine Institution“ ist, an der man nicht vorbeikommt, weil man sich – sei es positiv oder negativ – darauf beziehen muss, kommt nicht mehr wirklich vor. Die Frankfurter Paulskirche, das Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der Suhrkamp-Verlag, das „Literarische Quartett“, sogar die berühmte Couch im ZDF-Unterhaltungsformat „Wetten dass..?“ – das waren Schauplätze, an denen sich das Schicksal von Büchern, Ideen, Menschen bis hinab zu A-, B- und C-Prominenten fast schon amtlich entschied. Dieser Kreislauf von Einfluss, Bedeutung und kulturellem Kapital erlebte 2008 ausgerechnet beim Deutschen Fernsehpreis eine Sternstunde, die zugleich so etwas wie ein finaler Kurzschluss werden sollte.

Sie können nicht mit jeder Frau der Welt schlafen. Das ist aber noch kein Grund, es nicht wenigstens zu versuchen!

„Im ‚Literarischen Quartett‚ haben Sie mit Ihren Kollegen in 77 Sendungen 385 Bücher besprochen“, so fährt Thomas Gottschalk in dem Video an die Adresse Reich-Ranickis fort. Für einen kurzen, etwas schmerzhaften Moment fragt man sich, warum es einem heute so gleichgültig ist, wer das wiederbelebte „Quartett“ jetzt, wo auch Reich-Ranickis Nach- oder Nachnachfolger Volker Weidermann aufgehört hat, weiter leiten soll, warum es überhaupt so egal geworden ist, wer irgendetwas leitet, welcher Name also welche Stelle im System besetzt, aber dazu später. „Sie haben Großes gesagt“, so Gottschalk in der Pose des gelehrigen Schülers, „und ich habe Ihnen gut zugehört. Zum Beispiel“, und nun verfällt er in die zischende und zuckende Reich-Ranicki-Imitation, die man damals bei deutschen Intellektuellen zu jeder Tages- und Nachtzeit abprüfen konnte: „Sie können nicht mit jeder Frau der Welt schlafen. Das ist aber noch kein Grund, es nicht wenigstens zu versuchen!“

Dieses Zitat, aus dem Kontext gelöst, würde die Preisverleihung heute innerhalb von Minuten zum Social-Media-Skandalereignis machen, und spätestens am nächsten Tag sähe sich der Intendant des ZDF gezwungen, sich sowohl von Gottschalk als auch von Reich-Ranicki zu distanzieren. Damals wurde der Gag belacht, sogar der junge Frank Plasberg grinst im Publikum etwas verkniffen. Dann läuft der Einspieler zur Verleihung des Ehrenpreises an Reich-Ranicki ab. Die Redaktion greift aus dem Fernsehschaffen des Laureaten unbekümmert Sätze heraus, die heute für eine MeToo-Anklage gegen den „Kritikerpapst“ reichen würden, es wirkt fast, als sollte der alte Mann gestürzt und nicht geehrt werden: „Egozentrisch und eitel müssen vor allem Kritiker sein“, dekretiert Reich-Ranicki, und dann, man spult ungläubig wieder zurück, aber er sagt es tatsächlich: „Frauen schreiben herrliche Romane und Erzählungen. Aber Theaterstücke können, jedenfalls in deutscher Sprache, Frauen ums Verrecken nicht schreiben!“

Das ist, aus dem Jahr 2019 betrachtet, der Moment der Selbstdemontage, auf den eine hypernervöse, in den sozialen Netzwerken permanent zugeschaltete Sekundäröffentlichkeit nur so lauert, die entscheidende Aussage, die im Zweifel gegen den Angeklagten verwendet werden kann, der Tod eines Kritikers. Doch 2008 geschieht das exakte Gegenteil: Marcel Reich-Ranicki macht sich unsterblich, indem er in seiner kurzen Dankrede den Deutschen Fernsehpreis vernichtet, oder, wie man seit dem berüchtigten CDU-Video des YouTubers Rezo sagt, „zerstört“. Der Geehrte weigert sich, die Show durch die Entgegennahme eines gläsernen Obelisken zu adeln und als Institution anzuerkennen: „Ich kann nur diesen Gegenstand, der hier verschiedenen Leuten überreicht wurde, von mir werfen oder ihn jemandem vor die Füße werfen, ich kann das nicht annehmen, und ich finde es auch schlimm, dass ich hier vier Stunden das erleben musste.“

Es ist ein letzter Triumph des Alten über das Neue, ein Aufflackern der Rhetorik, das an Peter Handkes Literaturbeschimpfung bei der Princeton-Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1966 erinnert. Um die Situation zu retten, überredet Gottschalk den Preisträger, sich wenigstens zu einer Fernsehdiskussion mit den führenden Intendanten bereit zu erklären. Reich-Ranicki stimmt müde zu, leitet dann aber gleich zu einer Anekdote über den „großen sowjetischen Cellisten Rrrostrrropowitsch“ über, der in Salzburg, „da gab es noch die Sowjetunion“, mit den Wiener Philharmonikern den „Don Quixote“ von Richard Strauss gespielt habe, und das so gut, dass Herbert von „Karrrajan“ ihm sofort das Du anbot.

Die Realität der Massenmedien“ beschrieben hatte: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.

Reich-Ranicki ist schon wieder in der Geisterwelt unterwegs, der Sphäre unsterblicher Größe, die von Namen bewohnt wird, die wiederum Platzhalter sind für die Existenz einer höheren, ewigen Ordnung. Nach der Rede fährt die Kamera noch lange durchs Publikum und über die amüsierten, aber auch ziemlich irritierten Gesichter, Ranga Yogeshwar, Anne Will und Hugo Egon Balder sitzen dort, alle elf Jahre jünger als heute. Das Fernsehen, das Marcel Reich-Ranicki gerade vor laufenden Kameras in Grund und Boden kritisiert hatte, hielt sich damals noch für das Leitmedium und reklamierte für sich jenen Status, den der Soziologe Niklas Luhmann 1996 in „Die Realität der Massenmedien“ beschrieben hatte: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.“

Doch 2008 war auch das Jahr, in dem Facebook, Twitter und sogar YouTube, wo das Video vom Fernsehpreis heute vergraben ist, einen Durchbruch erlebten und zu Massenmedien wurden. In einer Chronik der Medien markiert es den Beginn eines Erdrutsches. Er hat nicht nur unser Wissen von der Welt, in der wir leben, erschüttert, sondern auch die Institutionen, die es aufbewahren.

2. Permanente Revolution

Die Kritik der Institutionen gehörte zum Kernprogramm von 1968. Rudi Dutschke hat sie, in Anlehnung an Mao Tse-tung, in eine fast schon paramilitärische Strategie verwandelt: „Heute würden Permanenzrevolutionäre, nicht Wortschwätzer, die in den Fabriken, in den landwirtschaftlichen Großbetrieben, in der Bundeswehr, in der staatlichen Bürokratie systematisch den Laden durcheinanderbringen, von allen Lohnabhängigen vollkommen akzeptiert werden“, schrieb der Mann, der als „Wortführer“ der Studentenbewegung selbst den Charakter einer Institution besaß: „Die Permanenzrevolutionäre können immer wieder hinausgeworfen werden, immer wieder in neue Institutionen eindringen: Das ist der lange Marsch durch die Institutionen.“

Diese permanente Revolution, die „den Laden“ kontinuierlich durcheinanderbringt, scheint heute in all den von Dutschke aufgezählten Institutionen im Gange und sogar, wie Dutschke es vorhersagte, „vollkommen akzeptiert“ zu sein: in den Großbetrieben wie Daimler und der Deutschen Bank, die nur noch im Krisenmodus existieren, in der Bundeswehr mit ihrer permanenten Mängelverwaltung und den ständig neuen Personalskandalen, erst recht in der staatlichen Bürokratie. Dutschkes schwarze Liste ließe sich beliebig verlängern: Volksparteien, Kirchen, Universitäten, Schulen, Museen, Verlage und – ja, auch das gehört zur Wahrheit – Medien befinden sich im Jahr 2019 in einem auf Dauer gestellten Krisenmodus, der von ihnen selbst auch fortwährend thematisiert wird, was den Autoritätsverlust noch beschleunigt.

Diese Destabilisierung ist aber nicht der Erfolg von eingeschleusten „Permanenzrevolutionären“ aus den Jahren 1968ff. Die letzten Achtundsechziger sind bereits – meistens nach im klassischen Sinne sehr erfolgreichen Karrieren – in Rente gegangen, und für die Sabotage der eben aufgeführten Einrichtungen sind keine eingeschleusten Agenten nötig. Es ist eher so, dass die Machart der Welt, in der wir heute leben, dass unser soziales Betriebssystem das Konzept der Institution nicht mehr unterstützt. Der Literaturnobelpreis für Peter Handke, die neue SPD-Doppelspitze, ein neuer „Spiegel“-Chefredakteur: Jede Setzung ist im Augenblick des Vollzugs schon Gegenstand der Revision, der Timer für den insgeheim erhofften Sturz ist immer schon gesetzt.

Dass sich ein Name allmählich mit Bedeutung, eine Entscheidung nachträglich mit Sinn aufladen kann, setzt das Einwirken der Zeit voraus. In einem beschleunigten Echtzeituniversum greift dieser Mechanismus nicht mehr. Das Medium der Permanenzrevolution, die sich ihre Objekte fast beliebig sucht, sind die sozialen Netzwerke: Hier hat sich genau jenes „Säurebad eines erbarmungslosen öffentlichen Diskurses“ verwirklicht, das Jürgen Habermas 1999 beschrieb. Damals formulierte er ein aufklärerisches, zutiefst demokratisches Ideal, aber inzwischen scheint sich auch der Diskurs selbst im eigenen Säurebad aufzulösen.

Habermas, in den Sechzigerjahren Assistent von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer am Frankfurter Institut für Sozialforschung, hat selbst längst Institutionscharakter. Wie Hans Magnus Enzensberger oder Karl Heinz Bohrer gehört der Neunzigjährige zu einer Riege von altvorderen Denkern, in denen noch die Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts aufgehoben ist. Obwohl sie einst für völlig unvereinbare, ja entschieden gegnerische Positionen standen, erscheinen sie uns heute als eine fossilienhafte Spezies für sich. Was sie verband, war der Anspruch, das Selbstgespräch, das die Gesellschaft mit sich führt, durch programmatische Texte zu prägen. Habermas etwa stellte 1981 in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“, die einen „herrschaftsfreien“ Raum eröffnen sollte, seine berühmten Diskursregeln auf: Wahrhaftigkeit, Intersubjektivität, Richtigkeit, ein ganzer Katalog, der abgehakt sein muss, damit eine Aussage Geltung beanspruchen darf.

Inzwischen hat ein neuer „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ diesen utopischen Raum endgültig zum Einsturz gebracht hat. Auf den digitalen Plattformen stellt sich Diskursmacht nicht durch den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas) her, sondern durch affirmatives „Retweeten“ der eigenen Seite oder die „Meldung“ feindlicher Positionen an Kontrollgremien, und das immer nur so lange, bis sich eine erfolgreiche Gegenoffensive organisiert: Wo bei Habermas das Idealbild des bürgerlichen Salons durch alle Kommunikation hindurchschimmerte, ist es nun die Dystopie eines medialen Bürgerkriegs, der nie entschieden werden kann, weil alle Parteien sich als Partisanen betrachten: ein endloses Nullsummenspiel.

3. Ordnung im Chaos

Institutionen sind, wie der konservative Anthropologe Arnold Gehlen schon tief im zwanzigsten Jahrhundert festgestellt hat, Entscheidungshilfen im Chaos der Welt: „kulturelle Immobilien“. Durch sie gleicht der Mensch, das ewige „Mängelwesen“, seine fehlenden Instinkte aus. Wäre die Gesellschaft ein Computer, müsste man die Institutionen als den Festwertspeicher bezeichnen: Das ist der Bereich, der zwar ausgelesen, aber nicht einfach überschrieben werden kann.

Wenn die Disziplin der gelernten Arbeiter und der beruflichen Körperschaften zerfällt, der Juristen, Gelehrten, Beamten, der Regierungen und Kirchen, wenn das Ideologische und Humanitäre sich verselbständigt und diese Formen von außen her aufweicht, dann ist die Kultur am Ende.

Dass die kulturellen „Immobilien“ selbst permanent von Wandel und Verfall bedroht sind, ist nur scheinbar ein Paradox. Im Gegenteil können sich Institutionen nur unter den Bedingungen der Bedrohung beweisen, gerade dann dienen sie als Felsen in der Brandung: Staat, Kirche und Familie als älteste Einrichtungen, aber ferner auch Versicherungsunternehmen, Krankenhäuser, Nachrichtensendungen, Lieblingsmusiker, Zeitungskioske. In seiner Schrift „Urmensch und Spätkultur“ schreibt Gehlen 1956, also mitten in der Wirtschaftswunderzeit, die uns heute als Paradies an saturierter Stabilität erscheint: „Wenn die Disziplin der gelernten Arbeiter und der beruflichen Körperschaften zerfällt, der Juristen, Gelehrten, Beamten, der Regierungen und Kirchen, wenn das Ideologische und Humanitäre sich verselbständigt und diese Formen von außen her aufweicht, dann ist die Kultur am Ende.“

Skeptische Denker wie Arnold Gehlen und Niklas Luhmann haben in ihren Analysen offengelegt, dass Institutionen eben nicht aus Stein sind, sondern dass es sich dabei um komplizierte, voraussetzungsreiche und extrem unwahrscheinliche Kollektivgebilde handelt, die durch soziale Praktiken permanent neu erzeugt werden müssen. Diese Praktiken haben eine magische Dimension. Es sind Rituale mit dem Zweck, die Tatsache unsichtbar zu machen, dass es sich bei jeder Institution um eine Setzung handelt, die ihren zwingenden Charakter verliert, sobald sie nicht akzeptiert wird. Dann nämlich löst sich das Fantasiegebilde in Rauch auf.

Besonders schön ist das in der österreichischen Literatur der Zwanzigerjahre zu betrachten, von Joseph Roths „Radetzkymarsch“ bis zu Alexander Lernet-Holenias „Die Standarte“: Das Habsburgerreich war vor allem ein schillerndes Konglomerat aus Titeln, Feldzeichen, Schwüren und heute bizarr anmutenden Ehrbezeugungen. Mit dem Untergang der Doppelmonarchie im November 1918 verloren all diese Symbole auf einen Schlag ihre Bedeutung, zurück blieb Plunder: Die Fahnen und Standarten, unter denen Millionen von Soldaten fielen, werden bei Lernet-Holenia von den letzten Wachen im schon vom Kaiser verlassenen Schloss Schönbrunn im Kamin verfeuert. Das Buch ist eines von vielen Belegen dafür, dass aus dem Zerfall von Institutionen oft die beste Literatur entsteht: Der Kern jeder großen Einrichtung ist eben, so nüchtern und staatstragend sie auch auftreten mag, immer ein poetischer.

4. Die Insignien der Würde

Jede Institution muss sich in der körperlichen Welt manifestieren, aber ihr Wesen ist mystisch, nicht von dieser Welt. Diese Doppelnatur wurde schon im Mittelalter erkannt. Der Normannische Anonymus, ein Pamphletist des 12.Jahrhunderts, ging zum Beispiel der damals hochpolitischen Frage nach, worin die Oberhoheit des Erzbistums von Canterbury über jenes von York denn nun eigentlich bestünde, und kam zu dem ironischen Schluss, dass es nicht die „Ziegel“ der Kirche von Canterbury sein könnten, die denen der Kirche von York überlegen seien. In kulturellen Immobilien verkörpert sich immer etwas Unsichtbares, Ewiges.

Das Beispiel stammt aus der Studie „Die zwei Körper des Königs“ von Ernst Kantorowicz, 1957 in Princeton gedruckt – dass man sie heute nur noch gebraucht und zu horrenden Preisen beziehen kann, sagt viel über das Schicksal von klassischen Texten. Der Historiker Kantorowicz, der 1895 in Polen geboren wurde, in Deutschland lebte und als Jude nach Amerika auswandern musste, untersuchte in dem Buch das Wesen der Königswürde. Er studierte die englischen Kronjuristen der Tudor-Zeit und stieß auf die Ansicht, dass der König einen „Superkörper“ besitze, der anders als sein physischer Körper unzerstörbar und unsterblich sei. Dieser „Doppelkörper“ konnte niemals irren oder fehlen, er konnte auch nicht unmündig oder dement sein.

Die Fiktion einer Ein-Mann-Körperschaft erlaubte es der britischen Krone, die Königswürde auch durch die aufgewühlten Jahrhunderte am Übergang zur Moderne, als das Parlament den amtierenden König jederzeit zur Rechenschaft ziehen konnte, zu retten, ja sogar vor dem kleinsten Kratzer zu bewahren. Praktischerweise konnte man den König jetzt sogar köpfen, ohne seine Würde zu verletzen und sich des Hochverrats schuldig zu machen. Sichtbar wurde der unzerstörbare Königskörper nur in den Insignien, insbesondere in der Krone, die das Haupt des Herrschers wie ein Heiligenschein umschließt.

Kantorowicz hatte im Ersten Weltkrieg in den Gräben von Verdun gekämpft und sich später als Student einem nationalistischen Freikorps angeschlossen, um dann als Jünger Stefan Georges eine flammende Biografie des Stauferkaisers Friedrich II. zu schreiben, angeblich vermachte sie Himmler Mussolini mit Widmung. Schließlich geriet Kantoworicz als Emigrant in Amerika in Konflikt mit dem Antikommunismus der McCarthy-Zeit. Wahrscheinlich hat er die geheimnisvolle Theorie vom Doppelkönigtum auch im Hinblick auf seine ziemlich abenteuerliche Gelehrtenexistenz rekonstruiert: Ohne einen intellektuellen Superkörper, ohne den Glauben an eine höhere Würde wäre es ihm unmöglich gewesen, sich durch die nacheinander einstürzenden Systemwelten des 20. Jahrhunderts hindurch zu bewegen, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren.

Noch heute gehorcht jede Institution, selbst die marode Berliner Stadtverwaltung, der von Kantorowicz beschriebenen Logik: In einem materiellen Träger, der letztlich beliebig bleibt, materialisiert sich eine höhere Autorität, eben jene Würde. Die Universität Bielefeld zum Beispiel, ein in den Siebzigerjahren entstandenes Monstrum aus in sich verschachtelten Sichtbetonriegeln, wurde aus der Logik von 1968 heraus entworfen, ein steinernes Statement gegen den Repräsentationsanspruch von Gebäuden – sie hatte die Institutionskritik schon eingebaut. Trotzdem, vielleicht sogar gerade deshalb repräsentierte sie einen starken Genius loci, einen an den Ort gebundenen Geist. Er lässt sich durchaus mit jenem vergleichen, der im 13. Jahrhundert in Paris geherrscht haben muss, an der ersten aller Universitäten. In Bielefeld lehrten in der Nachkriegszeit die berühmten Soziologen Helmut Schelsky und Niklas Luhmann, die Historiker Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler, so wie in Paris einst Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Boethius unterrichteten, die besten Köpfe ihrer Zeit. Diesen großen Scholastikern verdanken wir, auch das zeigt Kantorowicz, die Vorstellung von einer „unstabilen“ Zeit, in der „Verderben und Zeugung ewig aufeinanderfolgten ohne Anfang und Ende“.

Mit dem Gedanken einer zyklischen, von ewiger Wiederkehr geprägten Geschichte wurde auch die Theorie möglich, dass der Geist weiterzieht und durch die Weltgeschichte vagabundiert, von Inkarnation zu Inkarnation, von Ort zu Ort. In der Blütezeit des byzantinischen Reichs galt das alte Rom plötzlich nur noch als Ansammlung toter Steine, Konstantinopel war jetzt das „Rom des Ostens“. Die Idee der ewigen Stadt hatte sich von ihrem physischen Träger abgelöst, selbst aber keinen Schaden genommen: Der Mittelpunkt der Welt hatte sich einfach verlagert.

5. Der König ist tot, es lebe der König

Es gehört zum Gang der Dinge, dass Institutionen, die von der Illusion der Ewigkeit umspielt wurden, plötzlich ihre Würde, ihren Strahlenkranz, eben jenen Nimbus verlieren, auch wenn das meistens nicht über Nacht geschieht, sondern in der langen Dauer der Geschichte. Man bemerkt den Verlust erst, wenn er sich bereits vollzogen hat. Das Herausgebergremium der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zum Beispiel galt über Jahrzehnte als der Ort, an dem die geistigen Leitlinien der Republik festgelegt wurden: Die Posten, auf Lebenszeit vergeben, erfüllten ihre Träger mit einer fast kaiserlichen Amtswürde. Man war kein ambitionierter Journalist, wenn man ihre fünf Namen nicht aufsagen konnte, und jede Personalie an der Spitze der „Zeitung für Deutschland“ war ein Politikum. Im September 2019 wurde ein Gruppenfoto veröffentlicht, das die amtierenden Herausgeber der „FAZ“ – es sind nach einigen Querelen nur noch vier – mit der amtierenden Bundeskanzlerin zeigt. In wenigen Stunden wurde das Bild auf Twitter von einer piranhahaften Schwarmintelligenz zerfressen, bis fast nichts übrig blieb: Abzüglich der Amtswürde, stellte das Foto nur noch eine Reihe von älteren, weißen Männern in unvorteilhaft sitzenden Anzügen dar. Die Aura der Macht, die auch aus dem Respekt und der Furcht im Auge des Betrachters resultiert, funktioniert nicht mehr.

Diese radikale Form der Bildkritik setzt inzwischen automatisch ein, wenn irgendein Ministerium, eine Krankenversicherung oder eine Zeitungsredaktion ein Gruppenfoto ins Netz stellt, das die Einrichtung auf unzeitgemäße Weise repräsentiert. Es geht dabei nicht nur um die Durchsetzung einer modernen Unternehmenskultur, um die Tatsache, dass sich eine Firma im Jahr 2019 nicht mehr von Direktorenrunden führen lassen kann, die an einen Heinz Erhardt oder Ludwig Erhard erinnern. Die Gruppenbildproblematik zeigt eine Krise der Repräsentation an, den fundamentalen Zweifel daran, dass ein Bild, eine Geste, ein Zeichen über sich selbst hinausweisen, etwas Höheres verkörpern können.

Ernst Jünger, François Mitterrand und Helmut Kohl, die sich am 20. Juli 1993 in Wilflingen treffen – das sind, schonungslos betrachtet, auch nur drei alte Männer mit gemusterten Krawatten und schütterem, leicht zerzaustem Haar, mindestens einer davon unter Faschismusverdacht. Und doch beschrieb Frank Schirrmacher, der die Szene damals als Chronist begleitete, die Zusammenkunft in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ so: „Wer auf der Straße steht, zwischen Stauffenbergschem Schloss und alter Försterei an diesem 20. Juli 1993, der spürt, dass die Zeit über die Ufer tritt. Er kann ihr Rauschen vernehmen. Und er wundert sich sehr.“

Der König ist tot, es lebe der König: Das ist die Losung der dynastischen Erfolge, aber auch das Überlebensmotto aller kulturellen Institutionen. Der Geist sucht sich, wenn eine seiner physischen Hüllen das Zeitliche segnet, einen neuen Wirtskörper, die Funktion überdauert und überstrahlt ihre Träger. Konstantinopel ist das neue Rom, Serien sind die neuen Romane, Weiß ist das neue Schwarz – im Universum der Bedeutungen geht nach dem Energieerhaltungssatz nichts verloren.

Was aber, wenn diese Form der Seelenwanderung nicht mehr funktioniert? Zurzeit sieht alles danach aus, als würde nicht einfach nur eine Institution nach der anderen verblassen, der man dann Nostalgisches oder Hämisches nachrufen kann (in der Zeitung drucken wir ja inzwischen auch mehr Nachrufe auf Dinge als auf Personen: Nachruf auf den Wald, das Kino, die Videothek, den Flirt, die Festrede, das Auto etc.). Nein, das Prinzip der Amtlichkeit selbst löst sich auf, die Institution der Institution verflüchtigt sich. Wegfallende Stellen werden nicht mehr besetzt, sie können auch gar nicht mehr besetzt werden.

6. Im Strudel der Zeit

Wer ist der neue Niklas Luhmann, wer könnte die Konturen unserer Welt aus dem „Krähennest“ beobachten, so wie der Bielefelder Geist mit dem berühmten Zettelkasten es tat? Wenn das Feuilleton überhaupt noch die zuständige Stelle ist, an der Meisterdenker ernannt werden, muss man Armin Nassehi diesen Titel zusprechen: Der Professor für Soziologie und Herausgeber des traditionsreichen „Kursbuchs“ wird als gültiger Interpret der digitalen Gesellschaft gehandelt. Man traut ihm sogar die Funktion eines philosophischen Stichwortgebers für die Macht zu, die alte Rolle des Philosophenkönigs, die schon Platon beanspruchte: So wie Luhmann manchen als Einflüsterer der CDU galt und Habermas sich als geistiger Berater der SPD inszenierte, verschaffe Nassehi den Grünen einen theoretischen Überbau, jener Partei, die ja insgeheim davon träumt, die neue CDU zu sein.

In seinem Großwerk „Muster“ beschreibt Nassehi im Anschluss an Luhmann überzeugend, wenn auch nicht vergleichbar elektrisierend, die Eigengesetzlichkeit des Digitalen. Im Internet erkennt er zutreffend das „Archiv aller möglichen Sätze“, also einen Apparat, der selbst die noch unbekannten Wahrheiten der Zukunft bereits in sich enthält. Das Problem ist, dass auch Nassehi seine Sätze in dieses unterschiedslose Archiv hineinschreibt. Auf Twitter postet er im Tagesrhythmus jede Rezension seines Werkes, bei Verrissen gerne mit bösen Kommentaren versehen, er retweetet Lob von Kollegen oder Witze über den Berliner Flughafen. Das macht den Denker menschlich und absolut modern, auf Twitter verhält man sich so und nicht anders. Es taugt aber nicht als Verfahren zur Herstellung von intellektueller Autorität. Unvorstellbar, dass Luhmann in einem geistigen Kleinkrieg Zeitungskritiken seiner Werke kritisiert oder Komplimente für seine Arbeit weiterverbreitet hätte.

Das Beispiel von Nassehi, sicher einer der klugen Analytiker der Gegenwart, zeigt ein grundsätzliches Paradox an: Niemand kann heute der neue Luhmann sein, sogar Luhmann selbst könnte diese Rolle nicht ausfüllen. Die Techniken, die man beherrschen muss, um in einer digital geprägten Öffentlichkeit zur Institution zu werden, widersprechen dem Wesen der Institution. Man kann auf Twitter nicht „ex cathedra“ sprechen – und dieses amtliche, letztlich autoritäre Sprechen haben selbst die Großmeister des antiautoritären Denkens beherrscht, von Adorno über Foucault bis hin zu Agamben. Im sozialen Netzwerk gibt es aber keine erhöhte Sprecherposition, kein Katheder, weder Lehr- noch Bischofsstühle – und folglich auch keine mystische Würde, wie sie Ernst Kantorowicz nicht nur beschrieben, sondern als Gelehrter auch selbst noch ausgestrahlt hat.

Dieses Schicksal ist ein universelles, es gilt für alle Sparten. Man kann nicht der neue Siegfried Unseld sein, wenn man als Verleger auf Facebook lustige Briefwechsel mit seinem Internetanbieter postet, und der YouTuber Rezo ist auch nicht der neue Enzensberger, obwohl er mit seinem Video über die CDU wahrscheinlich mehr Wirkung hatte als jener einst mit seinen politischen Essays. Margarete Stokowski ist nicht der neue Kurt Tucholsky, Roland Tichy nicht der neue Sebastian Haffner, Richard David Precht nicht der neue Heidegger. Die Instrumente, mit denen man sich den Status einer intellektuellen Institution verschafft, arbeiten heute gegen die Institution. Selbst die Denkmalstürzer werden gestürzt, bevor sie selber zu Denkmälern werden können: Rezo zum Beispiel wurde nur ein halbes Jahr, nachdem er die CDU zerlegt hat und dafür selbst von traditionellen Medien zum politischen Publizisten seiner Generation geadelt wurde, von seinen Followern auf Twitter zerfetzt, weil er auf YouTube ein frauenverachtendes Video gepostet hatte. Die mediale Beschleunigung macht aus dem Diskurs einen Strudel, der irgendwann jeden nach unten reißt.

7. Abgesang

Was bleibt also, der große Abgesang? Selbst das geht nicht mehr, auch das Amt des Kulturkritikers ist vakant, die Pose lässt sich nur noch um den Preis der Lächerlichkeit imitieren. Der kulturkritische Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß brachte den „SPD-Vordenker“ (gibt es so etwas noch?) Peter Glotz damals dazu, mit allerhöchstem Pathos eine Zäsur auszurufen: „Notiert euch den Tag, Freunde, es war die ‚Spiegel‚-Ausgabe vom 8. Februar 1993. Es wird ernst!“ Selbst Feuilletonschlachten wurden damals behandelt wie Daten der preußischen Militärgeschichte und sogleich für die Historiker der Zukunft festgehalten. Niemand käme heute auf die Idee, eine säuberlich datierte Chronik der Shitstorms des Jahres 2019 anzufertigen.

„Wenn man bedenkt, wie schnell der Feuerball der Narreteien wächst und sich dem kleinen Planeten des Geistes nähert“, heißt es in herrlich verschrobener Metaphorik bei Strauß. „Vielleicht morgen schon hat er uns alle ausgebrannt, und nur das Mundwerk läuft weiter munter vor sich hin, wir merken’s nicht einmal mehr, jeder bereits ein Unterhaltungsschreck, ein Gespenst des Infotainments. Vielleicht rast er aber auch an uns vorbei.“

Und, ist der Planet des Geistes wirklich ausgebrannt? Interessanterweise erscheint die intellektuelle Welt des Jahres 1993, als Botho Strauß seine vernichtende Kritik der „10 Millionen RTL-Zuschauer“ formulierte, die „nie zu Heideggerianern werden“, im Rückblick selbst schon wie eine Gelehrtenrepublik. Umgekehrt waren auch die Achtzigerjahre, als die Institutionen der alten, der Bonner Bundesrepublik noch intakt erschienen, eine Blütezeit der Kulturkritik: Mit den damals erschienenen Aufsätzen zur Zerstörung der Gesellschaft durch das „Nullmedium“ Fernsehen (Enzensberger) könnte man Sammelbände füllen.

Man kann also auf der Suche nach einem Zustand, als die Einrichtungen der Welt noch nicht vom Virus der Krise befallen waren, immer weiter zurückgehen. Begann der Zusammenbruch der Ordnung mit dem Internet, mit 1968, mit dem Ersten Weltkrieg, mit der Französischen Revolution, vielleicht schon mit dem Universalienstreit des Hochmittelalters oder dem Investiturstreit um die Einsetzung des Bischöfe? Selbst das Heilige Römische Reich kämpfte seit seinen Anfängen mit internen Krisen und Widersprüchen, war von den Rändern her immer schon dem Verfall ausgesetzt – fast wie das Universum selbst, zu dessen größtem Star im letzten Jahr nicht zufällig ein schwarzes Loch aufstieg, in all seiner düsteren Pracht fotografiert.

Die Kritik hat die Zukunft in einen Sog verwandelt, der dem Kritiker das Heute unter den Füßen wegzieht.

Das Strudelhafte der Zeit, das gerade die Wahrnehmung bestimmt, hat seinen Ursprung wahrscheinlich im Prinzip der Kritik selbst. Institutionen sind nicht umsonst ein Fetisch der Konservativen. Der Historiker Reinhart Koselleck hat in seinem 1959 erschienenen Klassiker „Kritik und Krise“ die These aufgestellt, dass in jeder Aufklärung ein destruktives Element steckt, das sich irgendwann gegen die Aufklärung selbst wendet: „Die Kritik“, schrieb Koselleck über das moralisch aufgewühlte Zeitalter der Französischen Revolution, „hat die Zukunft in einen Sog verwandelt, der dem Kritiker das Heute unter den Füßen wegzieht.“

Es wäre absurd, sich nostalgisch in eine Welt zurückzuwünschen, in der die geistigen Institutionen gegen jede Form der Kritik imprägniert sind und unantastbar aus dem Meer der Zeit herausragen, ganz abgesehen davon, dass eine solche Welt niemals wirklich existiert hat. Aber die Totalisierung der Kritik, wie sie sich in der digitalen Öffentlichkeit verwirklicht, eine Institutionenkritik, die als geistiger Algorithmus fast im Leerlauf arbeitet, ist eine Gefahr – nicht nur für die Konservativen. Wem die Aufklärung wirklich am Herzen liegt, der darf den magischen Glauben an die Institutionen nicht ganz aufgeben.