Verdammt
von Katja Füchsel
Irgendwann steht er vor dem Spiegel, brüllt: „Du bist ein elender Kinderficker!“ Torsten Sieberts Taten sind unverzeihlich. Er gilt als rückfallgefährdet, doch er lebt in Freiheit. Kann das gut gehen?
Sie wissen ganz genau, was sie mit einem wie ihm anstellen würden. Torsten Siebert sagt, dass er erst am Tag zuvor wieder neben zwei Männern in der S-Bahn gesessen habe, die sich mit ihren Ideen lautstark überboten. Wegsperren, fauchte der eine, für immer. Schwanz ab, der andere, oder am besten gleich die Rübe! Torsten Siebert wusste, dass er gemeint ist, und tat, als hörte er nichts.
Seit zweieinhalb Jahren ist Siebert draußen, was nicht heißt, dass er frei ist. Er ist einer von 239 entlassenen Sexualstraftätern, die in Berlin unter besonderer Beobachtung leben, weil Gericht und Polizei befürchten, dass sie rückfällig werden könnten. Es sind Vergewaltiger und Pädophile, darunter etliche Wiederholungstäter, die sich nach vielen Jahren Gefangenschaft jetzt frei in der Anonymität der Großstadt bewegen. Männer wie Siebert, die ihr Leben lang am Rand der Gesellschaft gelebt haben und nun Teil von ihr werden sollen. Einer Gesellschaft, die sie fürchtet und ächtet, weil sie sich an ihren Schwächsten vergangen haben. Kann das gut gehen?
Die Berliner Polizei hat jeden der Risikokandidaten im Blick, gibt aber keine Zahlen oder Details zur Überwachung preis. Auch der Stadtplan, auf dem Ermittler im Landeskriminalamt die Wohnorte der rückfallgefährdeten Sexualstraftäter mit bunten Plastikpikern markiert haben, bleibt geheim: um bei der Bevölkerung eine Panik zu vermeiden und die Entlassenen vor Übergriffen zu schützen. Auch wir haben alle Namen und Orte, die Rückschlüsse auf den echten Torsten Siebert geben könnten, verfremdet.
Ich weiß ja, was ich getan habe.
Zum Reden will Torsten Siebert raus, wo niemand lauschen und ihn dafür hassen kann, wo er beim Denken laufen, rauchen kann. Dieser schmale Mann mit den freundlichen braunen Augen, der sich immer etwas kleiner zu machen scheint, als er mit seinen 1 Meter 72 ist, hat nichts mehr zu beschönigen, mit 54 Jahren, nach drei Haftstrafen und Sicherungsverwahrung. „Ich weiß ja, was ich getan habe“, sagt Torsten Siebert, als er sich im Berliner Zoo auf eine Bank setzt. Ein Wasserbüffel schaut in seinem Gehege auf, kaut auf einem Bündel Heu herum.
Siebert zieht ein Päckchen Red-Bull-Tabak, einen Drehapparat und Blättchen aus seiner schwarzen Schultertasche. „Wasserbüffel“, sagt Siebert, „haben die ooch in China uff den Reisfeldern.“ Er spricht das harte, unverstellte Berlinerisch, dass man meist nur noch in Brandenburg hört. Beim Drehen seiner Zigarette tanzen die Fingerknöchel unter verblassten Narben. Bevor Torsten Siebert entlassen wurde, hat er sich die Tätowierungen, ein Kreuz, eine Spinne und einen Ring, von seinen Händen schleifen lassen. Die übrigen Knast-Tattoos („Hundeköppe, Frauenköppe, Monsterköppe, Spinnenköppe “), die sich über Arme, Rücken und Beine verteilen, wäre er auch am liebsten los.
Dass Siebert jetzt hier im Zoo auf die Tiere in ihren Käfigen schauen kann, liegt nicht an seiner Reue. Es liegt auch nicht an seiner guten Führung, dass er den Rauch in den blauen Herbsthimmel pusten kann, obwohl er seine eigene Schwester, die Nichte seiner Frau und seine Stieftöchter vergewaltigt hat und gerade mal 18 Monate in Sicherungsverwahrung saß, nachdem er seine letzte Haftstrafe abgesessen hatte. Vor dreieinhalb Jahren entscheidet sich Siebert im Knast für die Spritze, unterdrückt seine Triebe mithilfe von starken Medikamenten.
Anfang September, es ist einer dieser Berliner Spätsommertage, die sich nach Hochsommer anfühlen, als Siebert morgens um 9 Uhr eine Treppe zum zweiten Stock hochsteigt. Er hat die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, an seiner Halskette hängt ein silbernes Kreuz. Weil er's mag, nicht weil er glaubt. „Forensisch-Therapeutische Ambulanz“ steht auf dem Klingelschild. Die Tür ist mit Gegensprechanlage und Kamera gesichert. In der FTA, untergebracht in der ehemaligen Wäscherei der Justizvollzugsanstalt Tegel, neben dem Haupttor an der Seidelstraße, kümmern sich Ärzte und Therapeuten um die harten Fälle: 100 Gewalttäter, Pädophile, auch Mörder und Totschläger, viele mit schwieriger Prognose.
Es ist Zeit für Sieberts Drei-Monats-Depot: Im Labor, einem Ärztezimmer mit Liege, Körperwaage, Kühlschrank, setzt sich Siebert auf den Patientenstuhl und bekommt 11,25 Milligramm Salvacyl in den rechten Arm injiziert. Salvacyl, einst entwickelt für die Krebstherapie, gilt heutzutage als das wirksamste Mittel für die antiandrogene Behandlung.
Der Wirkstoff hat Nebenwirkungen, er verändert die Knochendichte, führt zu Schmerzen und Hitzewallungen. Trotzdem will Siebert nie wieder ohne. „Ich lebe ja auch viel ruhiger“, sagt er. Früher habe nur das Eine sein Leben bestimmt, ihn jeden Tag aus dem Haus getrieben, selbst auf seinen Freigängen habe er nach jungen Frauen und Mädchen Ausschau gehalten, um sich mit „neuem Stoff für Fantasien“ zu versorgen. Was er wohl in seiner Zelle getan habe, als man ihn nach seiner ersten Vergewaltigung geschnappt hatte, fragt Siebert und gibt die Antwort gleich selbst. „Ick hab an die Tat jedacht und mir einen von der Palme jewedelt.“
Zurzeit regt sich bei Siebert nichts mehr. „Viele fühlen sich befreit, wenn das Kopfkino aufhört und der Stress nachlässt“, sagt Tatjana Voß, die Leiterin der Ambulanz. 2016 verabreicht ihm ein Gefängnisarzt das erste Mal Salvacyl, nachdem er beim Gefangenen einen hohen Testosteronwert gemessen hatte. Während bis zu 25,7 Nanomol pro Liter als normal gelten, lag Sieberts Wert bei 36,3.
Die antiandrogene Behandlung wirkt im hormonregulierenden Zentrum des Gehirns, der Hypophyse, wo Fortpflanzung und Sexualität des Menschen gesteuert werden. Als die Testosteronwerte in Sieberts Körper sinken, lassen auch die Fantasien nach.
Von ihrem Schreibtisch blickt Tatjana Voß auf die stacheldrahtgesicherten Mauern von Deutschlands größtem Gefängnis. „Das Allerwichtigste ist der Schutz der Kinder“, sagt die Psychiaterin. Immer nur über Wegsperren zu sprechen und die Täter auf Lebenszeit auszugrenzen, erhöhe die Gefahr zusätzlich. Nicht nur in Deutschland, auch in Neuseeland und den USA habe sich gezeigt, dass die Therapie „am wirksamsten ist, wenn man mit Sexualstraftätern respektvoll und human umgeht“. In aktuellen Studien gehe man derzeit von einem einschlägigen Rückfallrisiko für Sexualdelikte von knapp zehn Prozent aus. Die FTA liege mit 7,5 Prozent trotz ihrer besonders schwierigen Klientel darunter.
Ärzte, Therapeuten, Suchthelfer, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Richter, Polizei – es ist ein Netzwerk, das von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in Berlin zu verhindern versucht, dass es trotz schlechter Sozialprognose zu Rückfällen kommt. Alle Stellen stehen miteinander in Kontakt und informieren im Idealfall einander umgehend, wenn der Kandidat zu schlingern beginnt.
Im LKA 13 kümmert sich die Zentralstelle Spree (Sexualstraftäter Prävention bei Rückfallgefahr durch Eingriffsmaßnahmen und Ermittlungen) seit zehn Jahren um „Vollverbüßer aus dem Hochrisikobereich“. Nach seiner Freilassung hat Siebert von den zivilen Beamten öfter Besuch bekommen. Als der Verdacht aufkommt, dass er wieder trinkt, obwohl ihm das für die Zeit der Führungsaufsicht verboten ist, observieren sie ihn. Es entsteht ein Schnappschuss, als Siebert bei Penny sechs Flaschen Bier aufs Band legt. Als er mit einem Freund nach Dresden fährt, bittet „Spree“ die sächsischen Kollegen, im Hotel vorbeizuschauen. Der positive Alkoholtest kostet Siebert im Januar 2018 eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu jeweils 20 Euro.
Im Berliner Zoo dreht Siebert, die Hände in den Taschen seiner schwarzen Thermojacke vergraben, jetzt seine Runden. Er schaut kaum auf, will nichts essen, nichts trinken, nur reden: über sein Leben, seine Schuld, seine Hoffnung. Ginge es nach ihm, also dem Siebert, der heute auf jeden Sex verzichtet, wäre die Spritze für alle Sexualstraftäter Pflicht – Grundrechte hin, Grundrechte her. „Und zwar schon für die, die Bilder von den Kindern angucken. Das ist doch nur der Anfang, die wollen später doch mehr.“ Ihm mache keiner was vor, er wisse das aus eigener Erfahrung.
Geboren ist Siebert im Jahr 1965, das siebte von 13 Kindern, auf einem Bauernhof in der brandenburgischen Provinz. Der Vater und die älteren Brüder arbeiten bei der LPG, die jüngeren Geschwister müssen nach der Schule auf dem Hof helfen. Die Mutter ist eine unnachgiebige Frau, die die Kinder zur Strafe an die Heizung kettet oder auf den Pflaumenbaum schickt. „Unten band sie den bissigen Schäferhund fest“, sagt Siebert.
Er ist elf, als die Mutter stirbt, Darmverschluss. Die fünf Jüngsten kommen ins Heim, wo sich Torsten zum Problemkind entwickelt und am Abschluss der 8. Klasse scheitert. Ein dicker Junge, der schüchtern ist bis zur Sprachlosigkeit. Er ist 14, als der Vater erneut heiratet und die Kinder zurück nach Hause holt. Die Stiefmutter schlägt ihn, „bis mir der Knoten geplatzt ist“. Er reißt ihr den Gürtel aus der Hand und ihn ihr quer übers Gesicht.
Torsten kommt wieder ins Heim, schwänzt die Schule, reißt aus, muss nun in den Jugendwerkhof, schwänzt weiter. „Ich wusste, dass mich zu Hause keiner will – aber ich wollte immer wieder zurück.“ Er fährt per Anhalter nach Leipzig, wo ihn zwei Männer ansprechen, die ihn mitnehmen, in einen Keller stoßen, vergewaltigen, verprügeln. Nach Stunden gelingt ihm die Flucht, nackt rennt er durch die Hinterhöfe, reißt von einer Wäscheleine eine Uniformhose und fällt darin der Volkspolizei am Bahnhof auf. Die schickt ihn zurück ins Heim – das war's. Für alles andere gilt: Was es nicht geben darf im Sozialismus, gibt es nicht. Siebert beginnt zu saufen.
Mit 16 wird der Junge für drei Monate in den berüchtigten Jugendwerkhof Torgau geschickt. Ein Spezialkinderheim mit hohen Mauern und Gittern vor den Fenstern, wo Drill und Misshandlungen zum Alltag zählen. „Da ging's richtig zur Sache“, sagt Siebert. Die ersten drei Tage verbrachte er im Bunker, eine rundum geflieste Zelle, an jeder Wand eine Öffnung in zehn Zentimetern Höhe. „Da haben sie morgens das Wasser reingelassen, damit man sich tagsüber nicht hinlegen kann.“
Ich bin oben und ihr da unten. Ich kann machen, was ich will, ich kann euch bestrafen, und ihr habt mir zu gehorchen!
Zurück auf dem ersten Jugendwerkhof beendet er 1983 eine Lehre zum Betonwerkerhelfer, wird es aber sein ganzes Leben nie länger als einige Monate bei einem Arbeitgeber aushalten. Bei der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik, verdient er sich seine ersten roten Streifen auf der Uniform. Die GST, eine Massenorganisation der DDR, ist auch für die vormilitärische Ausbildung zuständig. Siebert bekommt seine eigene Kompanie und fühlt ein großes Glück, wenn er sie durch den Schlamm kriechen lässt: „Ich bin oben und ihr da unten. Ich kann machen, was ich will, ich kann euch bestrafen, und ihr habt mir zu gehorchen!“
Es klingt wie ein Erweckungserlebnis. Siebert hat da längst eine „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ entwickelt, kann keine Schuld und kein Mitleid fühlen, kennt keine Rücksicht, kein Verantwortungsgefühl, denkt nie an morgen und immer nur an sich. „Wenn ich Druck hatte, war's völlig egal, ob das Opfer elf, 23 oder 30 war, völlig wurscht.“
1986 lernt er seine erste Freundin kennen. Aus der sechswöchigen Beziehung geht eine Tochter hervor, er zieht weiter, zahlt nie Unterhalt. Mit 24 kommt er mit Anke zusammen, sie heiraten und bekommen drei Kinder. „Auch zu diesen Kindern hielt der Angeklagte keinen Kontakt“, steht im Urteil des Landgerichts Potsdam von 2007. Als das erste Kind zur Welt kommt, ist Siebert mit seinen Fantasien schon längst nicht mehr bei Anke.
Je mehr Siebert trinkt, umso gefährlicher wird er. Im August 1992 vergewaltigt Siebert, er ist 27, die Freundin eines Kumpels in seinem Wartburg. Im Februar 1993 fällt er über seine sturzbetrunkene 26-jährige Schwester her, er nennt es „'ne spontane Aktion“. Für beide Taten verurteilt ihn das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) zu viereinhalb Jahren Haft. 1998 vergewaltigt er die 13 Jahre alte Nichte seiner Frau – und geht für weitere fünf Jahre ins Gefängnis. Als er entlassen wird, steht er unter Führungsaufsicht. Er trinkt weiter, 20 Flaschen Bier am Tag, manchmal Wein. Sein Bewährungshelfer schreitet nicht ein, als Siebert die Termine schwänzt und mit seiner neuen Freundin und ihren Töchtern zusammenzieht – obwohl es ihm verboten ist, sich Kindern zu nähern. Was dann geschieht, hat der Chefarzt der städtischen Kinderklinik im späteren Prozess als den schlimmsten Fall seiner Laufbahn beschrieben. Siebert sagt: „Irgendwann war ich auf Katrin und Hanna mehr fokussiert als auf die Mutter.“
Mehrfach missbraucht Siebert die Mädchen, fesselt, schlägt und würgt sie. Die elfjährige Tochter vergewaltigt er drei Mal hintereinander. Das Landgericht Frankfurt (Oder) verurteilt ihn 2007 zu acht Jahren – mit anschließender Sicherungsverwahrung, weil er eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ ist.
Die Wunden, die Torsten Siebert den Frauen und Kindern zugefügt hat, werden niemals verheilen. Mehr als die Hälfte der Deutschen fordert, Sexualstraftäter für immer wegzusperren. Das wohl Furchtbarste an dem Wunsch nach ewiger Verdammnis ist, dass er so verständlich ist. Und zugleich so irrational: Torsten, dem missbrauchten Kind, hätte all ihr Mitgefühl gehört. Siebert, der Erwachsene, erntet nur ihren Hass.
Im Jahr 2012 geschieht, was keiner mehr für möglich gehalten hatte: Siebert beginnt im sozialtherapeutischen Wohngruppenvollzug der JVA seine Taten aufzuarbeiten. Er sagt, dass er durch die Therapie zum ersten Mal Schuld fühlte, ihm bewusst geworden sei, was er den Frauen und Mädchen angetan, wie er ihr Vertrauen ausgenutzt habe. Er entwickelt einen „barbarischen Hass“ auf sich selbst, stellt sich vor den Spiegel und brüllt: „Du bist ein elender Kinderficker!“ Siebert fällt in Depressionen, ein Selbstmordversuch misslingt.
Er entwickelt sich zum Musterhäftling. Im Jahr 2016 hat er seine Haftstrafe bereits verbüßt, sitzt in Sicherungsverwahrung und wird auf die Entlassung vorbereitet. Bei einem Ausgang steht auf der Bahnhofstreppe plötzlich sein Opfer vor ihm: Katrin, jetzt 19 Jahre alt, starrt ihn mit großen Augen an. Er habe sie erst gar nicht erkannt, sei dann die Treppe runtergerannt, um sich auf der Toilette zu verstecken. Als er sich wieder hinaustraut, sitzt Katrin auf einer Bank und winkt ihn heran. Sie habe ganz ruhig gefragt: „Ich will nur eines wissen: Warum?“ Und er habe gesagt: „Ach, Mädchen, ihr wart das schwächste Glied. Eure Mutter hätte zurückgeschlagen.“
Als er auf der Bank saß, wusste Siebert schon, dass es den Mädchen nicht gut ergangen war. „Man denkt, man schafft es, aber es holt einen immer wieder ein“, hatte Katrin während seiner Haft der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ gesagt. Siebert habe ihr das Leben versaut, nach seiner Festnahme sei alles aus dem Ruder gelaufen. Die Kinderpsychiater erreichen die Jugendliche nicht, sie kommt ins Heim, nimmt Drogen, durchlebt Phasen der Magersucht. Mit 15 hat sie ihre erste Fehlgeburt, wenig später bringt sie einen Jungen zur Welt, den sie in eine Pflegefamilie gibt. Katrin sagt der „MAZ“, was sie dann auch Siebert auf der Bank erzählt: dass sie ihn gern hassen würde, aber noch immer „irgendwie lieb“ habe. Über die Taten ihres Stiefvaters will sie heute nicht mehr reden: Anfragen des Tagesspiegels über ihren Anwalt und Social Media bleiben unbeantwortet.
Siebert kann nicht mehr zählen, wie oft er in den vergangenen Jahren über seine Verbrechen und Süchte gesprochen hat. Eines aber habe ihm bis heute niemand erklären können: Warum er? So viele Geschwister – aber er sei der Einzige, der sich zum Sexualstraftäter entwickelte.
Man könnte also sagen: Pech gehabt, Herr Siebert.
Hinter einer Paraphilie, also einem abweichenden Sexualverhalten, steckt laut Experten ein unglückliches Zusammenspiel von genetischen Faktoren mit einem nachteiligen Umfeld.
Voll schuldfähig, lautete das Urteil des Landgerichts Potsdam. Selbst wenn Siebert sich seine pädophilen und sadistischen Neigungen nicht ausgesucht hat, ist er für sein Verhalten selbst verantwortlich. Doch die Gesellschaft, die für Kinderschänder die volle Härte ohne Gnade fordert, will nicht akzeptieren, dass auch sie Verantwortung trägt.
Sieberts Familie hat den Tod der Mutter nie verwunden. Im Gefängnis überbrachten ihm die Wärter eine Todesnachricht nach der nächsten. „Der Vater hat nur noch gesoffen, ich kannte den nur noch blau.“ Als sie ihm im Jahr 1995 ein Raucherbein abnehmen, überlebt er die OP nicht. Der jüngste Bruder stirbt, als er vor der Polizei über eine Bahnschranke flüchtet. Und die anderen? „Haben sich fast alle das Gehirn weggesoffen.“ 2017 stirbt die letzte Schwester, Lungenkrebs.
Nur ein paar Wochen später, am 7. August, wird Siebert in eine Freiheit entlassen, die für ihn vor allem Einsamkeit bedeutet. Für die Therapeuten, Sozialarbeiter und Ärzte heißen die wahren Gegner Isolation, Armut, Hoffnungslosigkeit.
Bis August 2022 gilt für Siebert die Führungsaufsicht: Er darf, wenn er nicht wieder ins Gefängnis will, sich seinen Opfern nicht nähern und musste deshalb nach Berlin ziehen. Er darf zu „Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren keinen Kontakt aufnehmen, darf sie nicht ausbilden, beschäftigen oder beherbergen“, es ist ihm verboten, an Spielplätzen oder Schulen zu wohnen. Alkohol ist tabu, er muss regelmäßig zur Urinkontrolle, seine Medikamente nehmen, seine Termine bei den Helfern des Netzwerkes einhalten. Jeder Verstoß gegen eine der Weisungen gilt als Verbrechen.
Jeden Morgen um 8 Uhr zieht Siebert im Auftrag des Grünflächenamts los, fegt Laub, sammelt Müll auf und befreit Wege vom Unkraut, um mit den 220 Euro sein Hartz-IV-Geld aufzubessern. 644 Euro hat er im Monat, die 397 Euro Kaltmiete übernimmt das Jobcenter.
Heute Nachmittag hat sich Sandra Schauen, seine Therapeutin von der FTA, zu ihrem ersten Hausbesuch angekündigt. Siebert mag Schauen, auch oder vielleicht gerade, weil sie seine kleinen Lügen und Ausflüchte durchschaut. Die Therapeutin, 44 Jahre alt, groß, schlank, mit langen braunen Haaren, arbeitet seit 2011 für die Ambulanz. Über Siebert macht sie sich keine Illusionen. „Er ist ein Wackelkandidat“, sagt Schauen. Im Netzwerk der Helfer und Kontrolleure halte Siebert so ziemlich jeden in Atem. „Wir mussten seit seiner Entlassung einen Brandherd nach dem nächsten löschen.“ Weil Siebert erst gegen das Alkoholverbot verstößt, sich dann bei der Suchthilfe nicht einbringt, wegen seiner Schulden fast die Wohnung verliert, eine Alkoholkontrolle verweigert, gegen das Kontaktverbot verstößt
Die Therapeutin zieht sich im Flur die Sneaker aus, läuft auf Socken durch die Ein-Zimmer-Wohnung und steuert direkt auf den mannshohen Käfig mit den Sittichen zu.
„Wie heißt da wer?“
„Nicki, Charly und Moritz“, sagt Siebert. Die Wellensittiche seien schon durch seine Zelle in der JVA geflogen, der Schönsittich kam später dazu. Vor dem Kleiderschrank steht sein Rad, daneben liegen die Hanteln, die er jeden Abend stemmt. Mal zwölf, mal 15 Kilo.
Sandra Schauen bewegt sich wie ein Gast, wenn auch kein sonderlich diskreter, durch die Wohnung. „Darf ich mir Ihre Küche ansehen?“ Sie geht auf den Balkon, schaut leicht missbilligend auf den laut laufenden Fernseher, guckt kurz ins Bad, bevor sie sich in den Sessel fallen lässt. Schauen hat Kuchen aus der Gefängnisbäckerei mitgebracht, Schoko und Kirschplunder. Dazu reicht Siebert Cola und Wasser aus bunten Plastikbechern.
Sieberts Finger fährt durch die Luft, als er die Fotos erklärt, die sich im Wohnzimmer auf Regalen und Wänden verteilen. „Das ist meine Wohngruppe aus der Sotha“, sagt er. Über der Couch sieht man Siebert neben einer jungen Frau stehen: seine Tochter Lina. Er hatte ihr aus dem Gefängnis einen Brief geschrieben und sie – selbst Mutter eines heute elf Jahre alten Sohnes und einer vier Jahre alten Tochter – war bereit, ihn bei einem bewachten Ausgang zum Einkaufen im Ringcenter zu treffen. Die Anhänglichkeit der Tochter wächst, als die 27-Jährige merkt, dass der Vater mit den 10 000 Euro aus dem Heimkinderfonds äußerst großzügig umgeht. Er habe die Einschulung des Enkels bezahlt, ein Fest, Mietschulden, Strom – bis er pleite war und die Tochter wieder auf Abstand ging.
Neben dem Vogelkäfig hängt ein Foto von Sieberts Sohn Kevin. Der Junge sei jetzt 24, alkoholabhängig und lebe nach einer Therapie im betreuten Einzelwohnen. Ein stiller, zurückhaltender Kerl, der Einzige aus der Familie, der ein Foto von ihm aufgehoben habe und ihn auch mal umarme. „Wir haben viel mehr gemeinsam“, sagt Siebert. Nächste Woche will er Kevin das erste Mal zu seiner Selbsthilfegruppe mitnehmen.
Bleibt noch Kühlmann, Sieberts bester Freund. Er hat ihn vor 25 Jahren im Knast kennengelernt, der saß wegen Mordes, weil er seine Freundin erschlagen hatte. Kühlmann hat seine Bewährungszeit hinter sich, lebt trocken und engagiert sich in der Suchthilfe. „Ich will so werden wie er“, sagt Siebert. Kühlmann sei immer für ihn da, wenn der Saufdruck steigt, wenn es nicht mehr hilft, sich zur Ablenkung das Gummiband gegen den Arm zu schnipsen oder mit der Faust auf den Oberschenkel zu hämmern.
Sandra Schauen pflegt mit ihren Klienten ein Ritual: Ist das erste Jahr in Freiheit geschafft, geht sie mit ihnen feiern – auf eine Cola in die Tegeler Pommesbude. Mit Siebert steht sie im Sommer 2018 da, und beide sind ein bisschen stolz, dass sie hier ihre Löffel in der Erbsensuppe versenken können. „Wir haben uns in Gedanken gegenseitig auf die Schulter geklopft.“
Sie haben sich zu früh gefreut.
Am 17. September 2019 steht Siebert vor dem Amtsgericht Tiergarten. Es wird, im Namen des Volkes, ein Anschiss, der sich gewaschen hat. Torsten Siebert sitzt in seiner schwarzen Thermojacke vor der Richterbank und zieht den Kopf ein. Die Richterin, eine kleine Frau mit großem Temperament, schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass ihre Locken tanzen: „Sie haben Mist gebaut – wieder mal! Sie saufen, Sie haben Kontakt mit Kindern. Wollen Sie mit Gewalt wieder in den Knast? Sie haben mit Kindern nix am Hut zu haben. Ist nicht, null, aus! Nein! Lassen Sie es sein! Nein und nochmal nein! Wenn ein Kind zu Besuch kommt: Gehen Sie! Sofort! Aufstehen, Jacke nehmen, raus!“
Die Anklägerin wirft Siebert vor, drei Mal gegen seine Auflagen verstoßen zu haben: Am 5. September 2018 weigert er sich, sich einem Alkoholtest zu unterziehen, am 7. November ergibt eine um 12.40 Uhr durchgeführte Atemalkoholkontrolle 0,16 Promille. Und am 29. September 2018 habe er sich einem dreijährigen Mädchen „genähert“. Er sitzt bei seiner Tochter Lina im Wohnzimmer, als diese Besuch von einer Bekannten mit ihrem dreijährigen Mädchen bekommt. Alle sagen „Hallo“, dann verschwindet das Kind bei Sieberts Enkeln, die vom Umgangsverbot ausgenommen sind, im Nebenzimmer. Weil er die Wohnung nicht sofort verlässt, verstößt er zum dritten Mal gegen seine Weisungen.
Siebert hatte einem Betreuer von dem Übernachtungsbesuch erzählt und sich in Widersprüche verwickelt. Da fasste „Spree“ nach: Die Beamten befragten die Tochter, leiteten das Verfahren ein.
Es geht im Saal 456 an diesem Tag um viel, Siebert weiß das: „Kann 'ne Geldstrafe werden, kann Bewährung werden, aber auch 'ne Haftstrafe.“ Am Morgen sitzt er eine knappe Stunde zu früh vor dem Saal, rutscht auf dem Stuhl hin und her, reibt sich die Handflächen, fährt sich mit der Hand über den stoppeligen Schädel. „Sehen Sie“, sagt Siebert und streckt seine flatternden Hände aus.
Zwei leere Metallstühle weiter, eine junge Frau: Seine Tochter Lina ist gekommen, um dem Gericht mitzuteilen, dass Pete, ihr neunjähriger Sohn, nichts sagen will zu dem Tag, an dem der Opa sie in der neuen Wohnung in Oranienburg besucht hat. Enge Hose, graue Trainingsjacke, weißes Top. Schwarz gefärbte Haare, drei silberne Stecker im linken Ohr. Die beiden wechseln kaum ein Wort. Beim LKA hat Lina bestritten, dass sie ihren Vater seit Jahren anschnorrt. „Wat is'n dis für einer? Der Aufpasser?“, fragt sie, als ein Justizbediensteter im Saal verschwindet. Das Urteil wäre längst gesprochen, wenn die 22-Jährige nicht die letzten zwei Gerichtstermine verpasst hätte.
Sechs Minuten lang ergießt sich über den Angeklagten die Tirade der Richterin. Hart klingt ihr Urteil, mild fällt die Strafe aus: 200 Tagessätze à 25 Euro. Dass er erneut um eine Haftstrafe herumkommt, hat Siebert auch dem Umstand zu verdanken, dass die Richterin sich von der Kontrolle des Netzwerks – vor allem durch LKA und Bewährungshilfe – überzeugt hat. „Für Ihren Bewährungshelfer sollten Sie drei Kreuze machen, der kümmert sich.“
Drei Wochen später, ein Freitag in Wedding, Schönstedtstraße 5. Im Amtszimmer 268 wartet Gerichts- und Bewährungshelfer Thomas Fetting auf seinen Klienten. Hätte jemand mit ihm gewettet, Fetting hätte verloren. „Ich war sicher, dass Siebert dieses Mal nicht mit einer Geldstrafe davonkommt.“ Vor dem 33-Jährigen liegt die Akte Siebert, ein mächtiger Packen Papier, der mit jedem Weisungsverstoß ein Stückchen gewachsen ist. Zwei Mal hat die Staatsanwaltschaft Potsdam beantragt, Siebert zurück in die Sicherungsverwahrung zu stecken. Bislang hat die Richterin am Landgericht immer abgelehnt.
Vorm Amtsgericht Tiergarten hatte Fetting als Zeuge ausgesagt und empfohlen, Siebert „aus pädagogischen Gründen“ per Weisung zu einer dreimonatigen Alkoholtherapie zu bringen – vergeblich. Schade, sagt Fetting. „Das hätte mir die Arbeit erleichtert.“ Er hält nicht viel von der Wirksamkeit der Geldstrafen, wenn es doch eigentlich um eine Suchtproblematik geht.
Fetting gehört zur „Sima“, die vor drei Jahren in Berlin gegründet wurde und eng mit Sandra Schauen von der FTA, den freien Trägern und der Strafvollstreckungskammer zusammenarbeitet. Die „Sicherheitsmanagement“-Truppe besteht aus zehn Bewährungshelfern, die sich in Wedding um alle Sexualstraftäter der Stadt kümmern: Hilfe und Kontrolle, lautet das Motto. „Ich verstehe mich als Spezialcoach, der sich mit Straftaten auskennt“, sagt Fetting. Die Bewährungshelfer betreuen in Berlin rund 400 Sexualstraftäter – darunter eine Handvoll Frauen –, nicht alles schwere Fälle wie Siebert, etwa ein Drittel sind Ersttäter mit einer Bewährungsstrafe.
15 Uhr, Siebert klopft, pünktlich wie immer. Er setzt sich an den runden Besuchertisch und packt das jüngste Urteil aus, fünf eng beschriebene Seiten.
„So“, sagt Fetting, während er seine Beine unter die Tischplatte zwingt. Ein bärtiger Hüne, der gerne lacht.
Typ: echter Kumpel – aber verarsch mich nicht.
Fetting ist wie Siebert in Brandenburg aufgewachsen, Amtssprache ist heute Berlinerisch. Der Bewährungshelfer lehnt sich zurück und verkündet: Zeit für eine Bilanz, „die Hälfte haben wir rum“.
Siebert legt den Kopf schräg und lächelt unsicher, als wappne er sich für eine Standpauke.
„Wat haben Sie denn erreicht in den letzten zweieinhalb Jahren?“, fragt Fetting.
„Hmmm, wat hab ick erreicht “
„Muss Ihnen doch wat einfalln!“
„Da war ja so viel Negatives in letzter Zeit “
Siebert schaut an die Decke, hat eine Idee: „Dass ich keine Sexualstraftaten begangen habe. Das war ja früher nich so.“
„Fällt Ihnen noch wat ein?“
„Hm, da fällt mir nix ein.“
„Wat trinken Sie denn zurzeit?“
Siebert lacht auf, wirkt ehrlich überrascht. „Na, nischt – bin seit dem siebten Ölften trocken!“ Seit einem Jahr.
„Seh'n Sie“, sagt Fetting. „Das hat aus Ihrer Familie bislang niemand geschafft.“