Katja Füchsel
Kurzbiographie der Preisträgerin in der Kategorie Reportage lokal 2020
Jahrgang 1966, ist in Berlin geboren und in Westteil der Stadt aufgewachsen. Sie hat an der Freien Universität Linguistik, Publizistik und Rechtswissenschaften studiert und als Magistra abgeschlossen. Für den Tagesspiegel arbeitet sie seit 1995, zunächst als freie Autorin, dann als Redakteurin. 2005 wurde sie stellvertretende Ressortleiterin der Lokalredaktion. 2013 wechselte sie zur Dritten Seite, übernahm 2014 deren Leitung und verantwortete später auch die Beilage Mehr Berlin. Im September 2019 ist Füchsel nach 14 Jahren „Innendienst“ wieder auf die Autorenseite gewechselt: Als Redakteurin für besondere Aufgaben kümmert sie sich um Großrecherchen und Reportagen zu den Themen Justiz und Kriminalität.
Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
Wenn Sexualstraftäter rückfällig werden, reagiert die Öffentlichkeit jedes Mal mit besonderer Empörung, über die einzelnen Fälle erfahren wir aber ziemlich wenig. Wir wissen nicht, wie viele als gefährlich geltende Sexualstraftäter in der Hauptstadt leben, wie hoch das Risiko eines Rückfalls eingeschätzt und was getan wird, um dieses Risiko zu minimieren.
Den Kontakt zu meinem Protagonisten hatte seine Therapeutin vermittelt. Das erste von insgesamt fünf Treffen fand Anfang September 2019 in der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz statt, wo rückfallgefährdete Straftäter auf dem Weg in die Freiheit begleitet werden. Der 54-Jährige erklärte sich bereit, Einblick in alle seine Urteile und Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer zu gewähren, und befreite die Therapeuten und seinen Bewährungshelfer von der Schweigepflicht. Ich habe ihn über mehrere Wochen begleitet, ins Gericht und zu seinem Bewährungshelfer und habe ihn mit seiner Therapeutin auch einmal zu Hause besucht.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie dabei?
Während der Recherche habe ich gemerkt, dass viele Menschen dicht machen, wenn es um Sexualstraftäter geht, vor allem, wenn sie Kinder missbraucht haben. Wenn ich von meinem Protagonisten erzählte, sah ich die Gesichtszüge bei meinen Kollegen und Freunden regelrecht vereisen. Ich kann diesen Reflex gut verstehen, halte es aber für gefährlich, Sexualstraftäter auszugrenzen und zu verdammen. Die Einsamkeit dieser Männer ist vermutlich der größte Treiber für Rückfälle. Als Herausforderung habe ich es deshalb empfunden, die Leser für diese Lebensgeschichte zu interessieren, ohne etwas zu beschönigen. Ich will ja, dass der Text bis zum Ende gelesen wird - obwohl er ziemlich lang und eine einzige Zumutung ist.
Von wem wurden Sie dabei unterstützt?
Das Mehr-Berlin-Team unter Sidney Gennies hat mal wieder das Rundum-sorglos-Paket geboten. Unterstützt wurde die Recherche von der forensisch-therapeutischen Ambulanz, der Bewährungshilfe und dem Berliner Landeskriminalamt. Sehr dankbar bin ich meinem Protagonisten, der so offen und schonungslos über sein Leben berichtet hat, obwohl er bis zum Erscheinungstag nicht wissen konnte, ob ich dieses Vertrauen missbrauchen werde.