Alles auf einmal

von Uwe Jean Heuser

Die Menschheit kann das Klima retten und den Wohlstand steigern – unter einer Bedingung: Sie muss radikal werden.

Jetzt brennt der Amazonas, auf jeder Titelseite, in allen Nachrichten. Davor war es der verdurstende deutsche Wald, der die Menschen in Atem hielt. Im Juli war es die unerträgliche Hitze, und bald werden es wieder die Gletscher sein. Eine Angstwelle jagt die nächste, und kein Tag, an dem nicht das Klima die Medien beherrscht und die Gedanken der Menschen. Jeder fragt sich: Ist die Erde noch zu retten?

Mockup des nominierten Textes von Uwe Jean Heuser von der Zeit-Website
Die Zeit / BDZV

An der Rettung dieses Planeten arbeiten bereits Abertausende Erfinder und Start-up-Unternehmer, Aktivisten und Lokalpolitiker, voller Leidenschaft und Hoffnung auf eine klimaneutrale Zukunft. Doch die Hoffnung bekommt immer wieder Dämpfer, wenn Konzerne und Konservative, Skeptiker und Zornige die Stimme erheben und vor überstürzten Maßnahmen, Jobverlusten, Armut warnen. Und vor den sozialen Aufständen, die unweigerlich folgten, wenn die Rettung der Umwelt zum einzigen politischen Ziel wird.

Wie soll die Menschheit es da schaffen?

Können wir das Klima noch besänftigen und trotzdem den Wohlstand erhalten? Gelingt es uns, für unsere Kinder auch morgen einen menschenfreundlichen Planeten und ein nachhaltiges Wirtschaftssystem zu schaffen, ohne dass die Gesellschaften implodieren?

Eines steht fest: Aufregung und auch der Greta-Kult allein bringen niemanden weiter. Wir brauchen Antworten, müssen den wahren Stand der Tatsachen kennen. Sollten nach der Formel suchen, mit der die Erde zu retten ist. Wer mit solchen Fragen im Gepäck loszieht, landet sicher in New York bei einem Mann, der auf fast alles eine Antwort hat.

Jeffrey Sachs sitzt zu Hause in Manhattan auf dem Sofa und tut, was er am besten kann: die Welt retten. Wenn es heute jemanden gibt, der als Weltökonom gelten darf, dann ist es dieser 64-jährige Professor von der Columbia-Universität. Der Entwicklungsexperte war beruflich schon in 125 Ländern unterwegs, berät den UN-Generalsekretär bei der Erreichung globaler Entwicklungsziele und erhielt 2015 den Blue Planet Prize, eine Art Nobelpreis für grüne Vordenker.

Das Ziel sei klar, sagt Sachs, Mitte dieses Jahrhunderts dürfe die Menschheit das Klima nicht mehr belasten: »Bei allen Treibhausgasen muss dann eine Null stehen.« Und dann nennt er fast beiläufig die Bedingungen des Unterfangens: »Das darf die Weltwirtschaft nicht kaputtmachen, es darf die fünf Sechstel der Menschheit nicht stoppen, die beim Wohlstand aufholen, und es darf dem wachsenden Wohlergehen für alle nicht im Wege stehen.« Das bedeutet: Die Schwellenländer müssen reicher werden – und auch die Industrieländer an Lebensqualität zulegen. Sonst, so die Logik, enden alle Versuche, den Planeten zu retten, in Konflikten und Krieg. Die Sache werde nicht einfacher dadurch, dass mehr Wohlstand auch mehr Energie verbrauche, fährt Sachs fort und nimmt einen Schluck Wasser – es müsse halt alles erneuerbar sein. Oder beispielsweise in China auch nuklear.

Es gibt fast schon einen Konsens darüber, wie dieser Moonshot zu bewerkstelligen ist.

Die ganze Weltbevölkerung muss mitmachen – aber wie?

Wow, möchte man sagen. Doch Sachs kommt jetzt zur guten Nachricht: »Es gibt fast schon einen Konsens darüber, wie dieser Moonshot« – ein gigantisches Projekt also, wie die Mondlandung – »zu bewerkstelligen ist.« Bahn, Autos und Gebäude mit Heizung und Kühlung müssten voll elektrifiziert werden. Für Lastwagen, Flugzeuge und Schiffe müssten rasch Lösungen ohne das Treibhausgas CO₂ entwickelt werden, ebenso für die Stahlindustrie, die Zementindustrie und Teile der Chemiebranche. Die Zahl der Aufgaben sei übersichtlich, findet der Mann auf dem Sofa: »Zusammen sind das nur zehn Punkte. Das macht es leichter.«

So ganz wäre die Erde damit trotzdem noch nicht gerettet. Methan und Lachgas heizen ihr obendrein ein, und die entstehen vor allem in der Landwirtschaft. Hier sei das Vorgehen noch nicht ganz klar, sagt Sachs. Natürlich dürften nicht so viele Flächen gerodet und müsse weniger Rindfleisch gegessen werden. Aber die Staaten bräuchten einen Plan, was bis wann zu geschehen hat: »Fragt die Ingenieure. Wir brauchen Klarheit.« Die Technik gibt den Takt vor, die Politik tanzt danach. So soll es sein.

Draußen auf der Upper West Side von Manhattan sind fast 40 Grad, drinnen analysiert Sachs mit kühlem Verstand. Man begreift, warum mehrere UN-Generalsekretäre sich von ihm beraten ließen. Aber wie ist ihm das Klima zur Lebensaufgabe geworden? Wegen seiner Frau, einer Kinderärztin, die mit ihm in Afrika das Elend bekämpft? Sachs antwortet, er sage zum Beispiel den Afrikanern ganz offen, wie unberechenbares Wetter und Klimaschwankungen die Entwicklung ihrer Nationen hemmen. 2002 wurde er Chef des New Yorker Earth Institute und hatte es auf einmal mit Hunderten Klimaforschern und Ökologen zu tun. Die brachten ihm eine Menge bei über die Gefahren des menschengemachten Klimawandels. »Eine durch und durch ernüchternde Erfahrung«, sagt Sachs. Er hat mit seiner Frau drei Kinder, die auch gern alt werden wollen. Auch deshalb lässt jene Weltkrise, die seine Generation ihren Kindern und Enkeln beschert, dem Vater und Großvater Sachs keine Ruhe.

Soll die Sache noch gut ausgehen, muss die ganze Weltbevölkerung mitmachen – bloß wie? Vor allem Öl- und Gas­na­tio­nen wie Russland, Saudi-Arabien, Kanada und die USA leben ja förmlich vom Klimafrevel. »Bei uns in Amerika ist die Ölindustrie die mächtigste Lobby«, konstatiert Sachs. »Seit den Neunzigerjahren gab es keine wahrhaft neuen bundesweiten Klimagesetze mehr.« Zuallererst aber gelte es, Europa zu gewinnen, danach die großen Öl­impor­teure China und Indien. Und danach die meisten Länder Südamerikas. »Erst eine Mehrheit schaffen, dann gewinnt man den Kampf« – sogar in den USA, auch wenn die gerade von einem Psychopathen geführt würden und sich wie ein Schurkenstaat aufführten. Trotzdem: Fast die Hälfte der Bundesstaaten bewege sich schon weg von den fossilen Brennstoffen.

Geht doch, lautet Jeffrey Sachs Botschaft – und kostet nicht viel. »Vielleicht ein Prozent des Volkseinkommens. Das ist kein großes Hindernis.« Nur müsste die Menschheit sich tatsächlich ordentlich beeilen.

Man stelle sich das mit dem Wohlstand und dem Klima vor wie eine Wanderung mit einem Sack voll Goldstaub auf dem Rücken. Irgendwann reißt ein kleines Loch ein, erst rieseln nur winzige Mengen heraus, doch mit der Zeit wird das Loch größer und größer. Je später der Wanderer, also die Menschheit, das Loch bemerkt und je weiter der Klimawandel voranschreitet, desto teurer wird es, ihn zu stoppen. Desto mehr Wohlstand rieselt heraus.

Die Menschheit ist schon eine ganze Weile unterwegs. Spätestens seit Ende der 1980er-Jahre wissen alle vom menschengemachten Klimawandel und dessen Gefahren. 1992 gelobte die Gemeinschaft der Nationen auf dem Erdgipfel von Rio erstmals, sich ihm entgegenzustemmen. Damals war schon klar: Mitte dieses Jahrhunderts muss die Menschheit damit aufhören, Klimagase in die Luft zu entlassen.

Auf den Klimagipfeln regierte die schöne Theo­rie. In der Praxis aber hat das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum allen Fortschritt aufgebraucht und noch mehr. Seit damals hat der globale Ausstoß des Klimaschädlings CO₂ nicht etwa abgenommen, sondern ist von gut 20 auf über 35 Milliarden Tonnen im Jahr gestiegen. Auch wenn viele Industrieländer etwas unternahmen gegen den Frevel – es war nie genug. Und die Uhr läuft. 1990 hatte die Menschheit noch 60 Jahre Zeit, um klimaneutral zu werden. Jetzt sind es noch 30.

Zum Glück ist zur Halbzeit aus dem Sack noch nicht viel Gold gerieselt. Die Nationen könnten den Klimawandel nach wie vor noch rechtzeitig bewältigen und auch ihren Wohlstand erhalten – ja sogar steigern. Allerdings dürfen sie sich dabei nicht mehr viele Fehler erlauben. Vor allem Europa nicht, das seit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert sämtliche Vorteile der Treibhauswirtschaft genossen und deren Kosten auf dem Planeten abgeladen hat. Die Europäer waren es, die jenes verheerende Produktions- und Konsummodell schufen, das die anderen Nationen verführte. Anders als die Ver­einig­ten Staaten fördern sie heute kaum noch Öl und Gas und haben daher auf dem Weg zu einer klimaschonenden Wirtschaft weniger zu verlieren. Egal also, ob man es moralisch oder pragmatisch betrachtet: Wenn Europa nicht bald demonstriert, dass es auch anders geht, dann wird es niemand tun. Von hier aus muss das neue Denken wie eine Welle um die Erde gehen.

Warum auch nicht? Alles noch (!) denkbar, machbar, bezahlbar – und glücklicherweise ziehen die Jugendlichen von »Fridays for Future« und die neuesten Umweltkatastrophen alle Aufmerksamkeit aufs Klima. Ein historischer Moment, keine Frage. Bloß gibt es noch ein paar Probleme.

Zum Beispiel fällt der Ökoenthusiasmus erfahrungsgemäß leicht in sich zusammen. Gerade die Deutschen kennen das. Vor 20 Jahren führte die erste rot-grüne Bundesregierung die Ökosteuer ein. Lange hatten Forscher und Politiker eine derartige Abgabe diskutiert, 1999 wurde sie dann Wirklichkeit und sollte – erst niedrig und dann jährlich ansteigend – die wahren Klimakosten von Mineralöl, Strom und Gas offenlegen. Auf die soziale Frage gab es auch eine Antwort: Die Einnahmen flossen in die Rentenkasse, um die Arbeit von Nebenkosten zu entlasten. Heute, da alle Welt CO₂ besteuern will, erscheint eine langsam wachsende Ökosteuer visionär. Doch die Vision währte nur kurz. Schon 2001 – die Wirtschaft lief schlecht, der Ölpreis stieg – beendete Bundeskanzler Gerhard Schröder das Projekt unter dem Druck von ADAC und Springer-Presse. Er entschied: Die Steuer steigt in der Zukunft nicht mehr weiter an. Deshalb geistern die Rudimente dieser Idee bis heute (in der Größenordnung von jährlich 20 Milliarden Euro) durchs deutsche Steuer- und Rentenwesen.

»Mit fünf Metern Meeresspiegel plus können Sie Manhattan vergessen«

Klima ist Politik. Das lernte James Hansen, 78, auf die harte Tour. Der in Iowa geborene Physiker und Mathematiker erforschte den Weltraum bei der Nasa, doch bald widmete er sich der Erdatmosphäre und wurde obers­ter Klimaexperte der Luft- und Raumfahrtbehörde. Als einer der Ersten überhaupt erkannte er die Dramatik des Klimawandels und sagte schon 1981 bemerkenswert klar voraus, was in den nächsten Jahrzehnten den Gletschern und Ozeanen widerfahren würde. In Washington kämpfte er während der Achtzigerjahre für einen Klimapakt – entschlossen und letztlich erfolglos.

Eigentlich hat James Hansen sich selbst Schweigen verordnet, weil er gerade sein Buch Sophie’s Planet vollendet, das von der Zukunft des Planeten handelt. Es basiert auf Briefen an seine Enkelin Sophie, die im Verein mit anderen Jugendlichen die amerikanische Regierung wegen mangelnder Zukunftsvorsorge verklagt hat. Aber dann willigt Hansen doch ein zu telefonieren. Es geht immerhin um sein Lebensthema.

Hansen glaubt, dass der Klimawandel noch immer unterschätzt wird, und hat sich deshalb sogar mit dem Weltklimarat angelegt. Am bedrohlichsten erscheint ihm der Anstieg des Meeresspiegels. Noch seien das nur ein paar Zentimeter. Doch das Tückische am Klimawandel sei, dass die Folgen erst über die Jahrzehnte spürbar würden. Zuletzt droht den Nationen der Verlust ihrer Küs­ten­städte – und damit eines großen Teils ihres Wohlstands. »Mit fünf Metern plus können Sie Manhattan vergessen«, sagt James Hansen eindringlich. Und weil gleichzeitig unerträgliche klimatische Bedingungen in den Subtropen drohten, die den Migrationsdruck vervielfachen würden, »könnte der Planet unregierbar werden«.

Mittlerweile konzentriert sich der geniale Forscher daher auf die Politik. Jahrelang hat er versucht, Jugendliche für den Kampf um ihre Zukunft zu gewinnen. Doch das war schwer. Selbst zu seinen Uni-Auftritten kamen vor allem ältere Hörer. »Die Jungen denken, sie wissen schon alles«, vermutet Hansen.

Mittlerweile hat sich der Aktivist Hansen radikalisiert, er will das Zweiparteiensystem der USA sprengen. Die Republikaner seien in der Hand der Öl- und Gaswirtschaft, sagt er. Die Demokraten frustrieren ihn noch mehr, weil sie nie ehrlich fürs Klima kämpften – nicht einmal unter Barack Obama. Sein Land brauche eine dritte Partei, die es mit beiden aufnehmen und den Wunsch großer Teile des Volkes nach Klimaschutz durchsetzen kann. Sophie’s Planet soll dabei helfen.

Doch mehrere Faktoren erleichtern es der Politik, das Thema zu verschleppen: Jederzeit könnte eine Finanzkrise oder ein drohender Krieg die Klimafrage in den Hintergrund drängen. Außerdem koste der Klimaschutz zwar insgesamt nicht viel, käme jedoch einzelne Gruppen wie die Kohlekumpel und Ölförderer, Großbauern und Schwerindustrielle durchaus teuer zu stehen. Und auch klimafreundliche Lösungen entfalten auf Dauer ihre Nebenwirkungen und provozieren Widerstände. So schneiden etwa Windräder nicht bloß ins Landschaftsbild, sie sind auch schwer zu entsorgen. Die Produktion von E-Autos braucht extrem viel Energie und ist auf die umstrittenen seltenen Erden angewiesen. Zwar alles lösbar – aber zunächst ein Grund zu zaudern. Denn: Nichts im Klimaschutz ist so leicht, wie es aussieht. Was umgekehrt heißt: Wenn die Nationen Wohlstand und Klima erhalten wollen, müssen sie mehr tun, als einzelne wohlformulierte Pläne fordern.

Zusätzlichen Ärger machen die Langzeitwirkungen des CO₂ in der Zukunft. Im Jahr 2008 veröffentlichte James Hansen eine Studie, die es in sich hatte. Seine These: Auch wenn die Weltgemeinschaft klimaneutral wird und die Erderwärmung unter den als Verheerungsgrenze definierten zwei Grad halten kann, hat sie noch nicht gewonnen. Sollen langfristig nicht doch die Küsten überschwemmt und ganze Landstriche (etwa die Golfregion) unbewohnbar werden, dürfen die CO₂-Anteile in der Atmosphäre 350 parts per million (ppm) auf Dauer nicht überschreiten.

Diese Obergrenze war aber schon 2008 überschritten. Bis heute hat die Menschheit den Wert auf über 410 ppm hochgetrieben und steigert ihn weiter. Daher, sagt Hansen, müsste sie nun »negative Emissionen« erzeugen. Sei sie klimaneutral geworden, müsse sie CO₂ in großer Menge aus der Atmosphäre herausfiltern. Dazu reicht es nicht, den Klimafrevel zu verteuern. Man braucht die Technologie.

Wem jetzt das Herz in die Hose sinkt, weil er denkt, das ist nicht zu schaffen, der findet vielleicht Trost bei jenem System, das dem Klima so lange zugesetzt hat und jetzt doch sein bester Freund werden könnte: dem Kapitalismus. Der nämlich ist gemacht für schnelle, große Veränderungen.

Radikaler Wandel wirkt immer unmöglich – bis er geschieht

Wenn es nichts Großes zu entwickeln gibt, dann weiß der Kapitalismus nicht, wohin mit seiner Kraft: Er läuft heiß und produziert Blendwerk wie etwa die Immobilienkredite in den USA, die 2008 die Weltfinanzkrise auslösten. Gibt es aber tatsächlich Dinge zu erfinden oder rasch zu verändern, dann kommt die Kredit-, Investitions- und Innovationsmaschine ins Laufen.

Radikaler Wandel wirkt immer unmöglich – bis er geschieht. Der Kapitalismus war zum Beispiel in der Lage, die ganze Erde binnen weniger Jahre mit einem Netz von Mil­liar­den Smartphones zu überziehen und damit die Kommunikation der Menschen, ihr soziales und politisches Leben neu zu definieren. Warum sollte er das mit dem Klima nicht können?

Tatsächlich arbeiten schon heute unzählige Unternehmer und Forscher an Lösungen für die große Null, die am Ende überall stehen muss. Sie entwickeln Elektro- oder Wasserstoffantriebe für Schiffe und basteln an klimaneutralen Flugzeugen. Sie lassen im Kleinen schon die Null in der Landwirtschaft oder am Bau wahr werden. Oder sie versuchen, die Erde abzukühlen, und düngen beispielsweise das Meer mit Eisen, damit das Plankton rasend wächst und mehr CO₂ aufnimmt. Andere wollen mit riesigen Staubsaugern ungeheure Mengen Luft von Treibhausgasen reinigen. Ja, auch dieser gefährliche Zauber gehört zur Klimarettung: Geoengineering nennt sich die Disziplin.

Verteilt über die Kontinente ist eine kleine Forscher-Armee dabei, die Blaupausen für die Klimarettung zu entwerfen. Was sie brauchen, ist ein fairer Wettbewerb mit den herkömmlichen und schädlichen Techniken, die vielfach – auch in Deutschland – noch subventioniert oder von starken Lobbyisten und ihren Lieblingspolitikern gehätschelt werden. Und dann brauchen sie die Null! Also die klare Vorgabe, dass ab einem bestimmten Datum kein Treibhausgas mehr Fabriken und Autos, Landflächen und Flugzeuge verlassen darf.

Dann geht viel, vielleicht alles. Es heißt immer, Innovationen ließen sich nicht bestellen. Das ist falsch. Eine spezielle Erfindung lässt sich zwar mit Geld und Gesetz nicht erzwingen, wohl aber lässt sich die wirtschaftliche Fortschrittsmaschine in die gewollte Richtung lenken. So war es bei der Einführung des Katalysators im Auto, den die Industrie vorab als eine Art Todesstoß beklagte – und dann locker bewältigte. So war es beim FCKW, als die Ozonschicht gerettet wurde. Technischer Fortschritt kann gewaltig sein: Die Sonnenenergie kostet heute ein Zehntel ihres Preises in den Neunzigerjahren.

Das Klima ist ein Jahrhundertproblem, auch technisch. Normalerweise setzen Staaten aufs Begrenzen und Verbieten – oder auf Innovation. Für dieses Entweder-oder ist es nun zu spät. Diesmal müssen ganze Gesellschaften beides verbinden. Erst dann entsteht eine Klimabewegung, die sich selbst verstärkt. So wie in Kopenhagen.

Ein Augustmorgen in der dänischen Hauptstadt am Meer. Zu Füßen des Besuchers erstreckt sich die neueste Errungenschaft der örtlichen Klimaschützer: eine Skipiste samt Liften. Sie führt über das gut 400 Meter abfallende Dach eines metallen leuchtenden Gebäudes hinab, das aus einem bestimmten Winkel an die Hamburger Elbphilharmonie erinnert. Was aussieht wie ein neues Kopenhagener Wahrzeichen, ist keine Stätte der Hochkultur, sondern ein Ort des Mülls. Der wird hier, in diesem hochmodernen Werk verbrannt und in Strom und Fernwärme für mehr als 100.000 Haushalte umgewandelt.

Ab Oktober verläuft der Skibetrieb auf dem Dach der Müllverbrennungsanlage über Kunstmatten und Gras. Ein Teil der Fassade dient außerdem als Kletterwand, während drinnen täglich 250 Lastwagenladungen Müll verheizt werden. Der Dampf wird durch riesige Turbinen geleitet und entgiftet, bevor er in hübschen Rauchringen aus dem 85 Meter hohen Schornstein steigt. Die Anlage steht auf einer Industriebrache gegenüber der Altstadt. 200 Meter entfernt ist ein riesiges Wohnhaus entstanden. Das grün angehauchte Spitzenrestaurant Noma – es galt jahrelang als das beste der Welt – ist in die Gegend gezogen. Cafés haben eröffnet, und im sauberen Hafenwasser grenzen Kordeln die Schwimmareale ab. Direkt daneben treiben die Wohncontainer für Studenten.

Die Stadt wachse immer näher heran, sagt der Kraftwerkschef Jacob Hartvig Simonsen. Die Anlage soll Menschen willkommen heißen, anstatt sie abzustoßen. Also lobte seine Firma einen Architekturwettbewerb aus, und fast zum Schluss kam der bekannteste Architekt des Landes, Bjarke Ingels, mit dieser Pis­ten­idee an und gewann. »Mit großem Abstand«, ergänzt Simonsen. Baulich wurde es dann haarig.

Normalerweise sind solche Kraftwerke so gebaut, dass bei einer Explosion das Dach wegfliegt. »Doch wir haben Skifahrer da oben!« Jetzt fliegt hier bei zu viel Druck die hintere Außenwand weg. »Wir sorgen aber dafür, dass wir den Druck unter allen Umständen kontrollieren.« Doch damit ist das Werk, es gehört den umliegenden Gemeinden, immer noch nicht fertig. Der Chef sucht derzeit nach der intelligentesten Technik, um das entstehende CO₂ aufzufangen und daraus mit Ökostrom den Flüssigkraftstoff der Zukunft zu machen.

Kopenhagen ist nur 334 Kilometer von Hamburg entfernt – und doch ein ganzes Jahrhundert. Fahrräder dominieren den Verkehr, Kreuzungen wurden zu wild verwachsenen Gärten, die bei Starkregen das Hochwasser aufnehmen. In den neuen Trendquartieren der 600.000-Einwohner-Stadt, die jeden Monat um mehr als tausend Bewohner wächst, entstehen reihenweise Passiv-Wohnhäuser. Stadtplaner und Jungunternehmer basteln ständig an Ideen. Im Hafen dürfen Besucher dank eines Start-ups kostenlos Kajak fahren – wenn sie dabei Müll aus dem Wasser fischen und im Bootsbehälter mitbringen. Jetzt soll eine neue Metrolinie eingeweiht werden – in einer Stadt, die vor zwei Jahrzehnten noch keine U-Bahn besaß.

Kopenhagen war schon vom Greta-Virus erfasst, als es Greta Thunberg noch gar nicht gab. Die hier führenden Sozialdemokraten wurden sehr früh grün und stellten schon 1971 den ersten dänischen Umweltminister. In den 1980er-Jahren, als Kopenhagen ökonomisch und ökologisch am Boden lag, begann das große Saubermachen mit dem Ziel, dass die Bürger dereinst im Hafen schwimmen könnten. Damals heizten noch viele Dänen mit Petroleumöfen, nach und nach wurden 99 Prozent der Haushalte aber ans Fernwärmenetz angeschlossen. Der geplante Bau einer Autobahn quer durch die Stadt scheiterte zum Glück am Geld. Stattdessen begann die Arbeit an einem 450-Kilometer-Netz aus breiten Fahrradwegen.

»Wir können nicht auf alle anderen warten.«

Vor hundert Jahren war das Fahrrad in Kopenhagen ein Zeichen bescheidenen Wohlstands. Zur Wirtschaftswunderzeit stiegen die meisten aufs Auto um, in den 1970er-Jahren trat kaum noch jemand in die Pedale. Die Ölpreiskrise brachte die Wende. Heute nutzen etwa die Hälfte aller Pendler das Rad. Regelmäßig fragt die Stadt ihre Bürger, wo neue Wege entstehen sollen und wo Radparkplätze fehlen. Gerade wurde die zweite futuristisch designte Fahrradbrücke über den großen Kanal eröffnet, um Räderstaus aufzulösen. Radfahren soll cool sein. Und bequem.

»Ich habe fünf Fahrräder«, sagt der Oberbürgermeister Frank Jensen. Wenn er dienstlich Auto fährt, dann möglichst elektrisch. Seit Jahren schafft die Stadt keine Benziner mehr an und tut auch sonst alles, um das 2012 verabschiedete Ziel zu erreichen: 2025 will Kopenhagen klimaneutral sein. »Mit Regulierung können Sie eine Menge erreichen«, sagt Jensen. So seien die Busunternehmen zwar privat, aber die Stadt habe sich mit ihnen geeinigt, dass sie ab 2025 alle elektrisch fahren. Ebenso die Hafenfähren. Auch technisch will die Stadt vorn sein. Die neuen Wohn- und Bürohäuser haben riesige Fens­ter, bei Sonnenschein heizen sie sich auf. Um Klimaanlagen zu vermeiden, bieten die Kopenhagener deshalb Fernkälte an, gespeist aus dem ziemlich kühlen Hafenwasser.

Der Plan für 2025 ist einfach: grünes Wachstum und neuer Wohlstand ohne zusätzliche Kosten für die Bürger. Alle Betroffenen werden früh in Entscheidungen einbezogen. Die Stadt arbeitet eng mit Firmen und Universitäten zusammen, und fast alle Inves­ti­tio­nen kommen aus dem privaten Sektor. Am Ende soll die Energie vollständig erneuerbar sein und der Verkehr unter dem Strich neutral. Außerdem versucht Kopenhagen klimaschonende Baumaschinen zu entwickeln. Weil die dänische Wirtschaft allein zu klein ist, arbeitet die Stadt viel mit den Schweden und Norwegern zusammen.

Am meisten fühlen sich die Stadtreformer von all den nationalen und europäischen Regeln gestört. So verwehrte das eigene Land ihnen eine Citymaut. »Wir können nicht auf alle anderen warten«, heißt es verärgert bei den Klimastrategen. Kopenhagen, in vielen Rankings der Klassenbeste, will vorn bleiben. Dafür soll künftig auch ehrlicher gemessen werden. Bisher berechnet die Stadt nur die Klimaeffekte, die auf ihrem eigenen Gebiet entstehen. Doch was ist mit der Landwirtschaft, die die Nahrung liefert? Und was mit all den Betonplatten für die Neubauten, die in Polen hergestellt und mit dem Frachtschiff herübergeschippert werden? In den nächsten großen Plan soll all dies einfließen.

Künftig werde es schwieriger, fürchtet Cecilia Lonning-Skovgaard, die liberale Bürgermeisterin für Arbeit und Integration. Die Stadt diskutiere einen Fleisch-Bann für Kitas oder eine Fahrerlaubnis lediglich für grüne Lastwagen. So etwas schaffe Missmut, bedrohe kleine Firmen und Lehrstellen. Bisher hätten ehrgeizige Klimaziele die Dänen zusammengeschweißt und stolz gemacht, sagt die Managerin. »Aber noch wurde die Öffentlichkeit nicht wirklich ausgetestet, und nur zehn bis fünfzehn Prozent sind echte Gläubige.«

Trotzdem ist es kaum vorstellbar, dass Kopenhagen vom grünen Weg abkommt:

Es ist die Stadt von Dan Stubbegaard, dem Gründer der international erfolgreichen Architekturfirma Cobe Architects. Er baut alte Hafenspeicher zu Wohnhäusern um und bringt seinen Kunden bei, Neubauten so flexibel zu planen, dass sie möglichst lange von Nutzen sind. Seine Erfahrung: »Menschen sind gut in Veränderung, wenn sie an der Klippe stehen.«

Es ist die Stadt des Spitzenkochs Matt Orlando, der in seinem Restaurant Amass die CO₂-Bilanz radikal verbessert, indem er neue Verfahren für die Weiterverwertung von Essensresten entwickelt, viele Zutaten im eigenen Restaurantgarten anbaut und jeden Tropfen Wasser sammelt. Amass ist ein Klimaschutz-Experiment, das Köchen überall zugutekommen soll.

Es ist die Stadt der Unternehmerin Mette Lykke, die »Too good to go« führt. Das grüne Start-up vermittelt in ganz Europa übrig gebliebenes Essen von Bäckern, Supermärkten oder Buffetküchen als Überraschungspakete zum Billigpreis. 13 Millionen registrierte Kunden können sie buchen und abholen. »Ich habe eine Berufung«, sagt sie.

Aus Kopenhagen kommt diese opti­mis­tische Botschaft: Klimaschutz wirkt ansteckend, wenn man sich ihm verschrieben hat. Große Ziele machen erfinderisch, und das, was eben noch ungemütlich wirkte, wird zum Alltag. Geschieht vieles parallel, verlieren die meisten Bürger zwar etwas an irgendeiner Stelle, gewinnen aber woanders an Wohlstand und Lebensqualität hinzu. Streitet die Politik dagegen dauernd über einzelne Maßnahmen, die bestimmte Gruppen belasten, türmt sich die Abwehr.

Alles auf einmal! Das ist der Weg in dieser Zeit, in der die Welt schon über das CO₂-Ziel hinausgeschossen ist. Soll man klimaschädlichen Konsum verteuern und verbieten – oder auf die Moral der Konsumenten setzen? Beides!

Soll man Treibhausgase einsparen oder auf Geoengineering setzen? Auch das ist keine Alternative. Rechnet man von 2050 zurück, wird klar: Es bleiben wenig Optionen. Ja, der Preis für CO₂ muss steigen, und gleichzeitig werden Deadlines notwendig. Wer heute noch ein fossiles Kraftwerk genehmigt, sollte sich nicht als Klimaschützer dicketun. Neue Gebäude müssen ohne Gas- und Ölheizungen auskommen. In zehn Jahren darf kein Benzinauto mehr gebaut werden. Mit der Flug- und der Schiffsbranche sind Verfallsdaten für klimaschädliche Antriebe zu vereinbaren. Man sieht: In den verlorenen 30 Jahren seit 1990 wurde aus dem Entweder-oder des Klimaschutzes ein Sowohl-als-auch.

Ein Minister reicht nicht. Eine Klimaregierung ist nötig

Vielleicht brauchen die Nationen dieses Fünf-nach-zwölf-Gefühl. Die Einsicht, dass alles auf einmal zu geschehen hat. Dass ein Umweltministerium nicht reicht, das mit anderen Ressorts um Aufmerksamkeit ringt – sondern eine Klimaregierung nötig ist. Eine Klimanation.

Ottmar Edenhofer ist eine deutsche Mischung aus Jeffrey Sachs und James Hansen: Ökonom und Klimakenner, aktiv als Forscher und politischer Berater. Der 58-jährige Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung hält nichts vom Denken in Alternativen, die Natur gibt das nicht mehr her. Zwischen 2030 und 2040 müssten Strom und Wärme vom CO₂ befreit sein, sagt er. Danach gelte es, weltweit Treibhausgas einzusparen. »Durch Aufforstung. Durch das Auffangen und Verpressen von CO₂. Muss alles dabei sein.«

In Deutschland haben wir eine tolle Klimarhetorik, aber eine grauenvolle Praxis.

Edenhofer denkt darüber nach, wie eine Gesellschaft das schaffen soll. Das Klima berühre die ganze Politik, sagt er, »Steuer-, Finanz-, Ausgabenpolitik und so weiter«. Wenn die E-Autos kommen, fällt die Mineralölsteuer weg. Wenn der Klimaschutz das Leben für Ärmere zu teuer macht, müssen diese ent­las­tet werden. Die öffentlichen Einnahmen müssten dann aus anderen Quellen kommen, sagt Edenhofer. Bleibt die Frage, ob die Bürger dem Staat einen solchen Umbau noch zutrauen. Und der es sich selbst.

»In Deutschland haben wir eine tolle Klimarhetorik, aber eine grauenvolle Praxis«, kommentiert der Experte. Der Staat greife überall ein und reguliere vieles weich, statt wenige harte Grenzen zu setzen. So hätten gut gemeinte Subventionen bei der Energiewende von 2011 ein Revival klimaschädlicher Kohlekraftwerke ausgelöst, die eigentlich verboten gehörten. Auch bei den Immobilien sei der Staat zu weich. 80 Prozent der Preissteigerungen in den Städten seien dem Boden geschuldet, nicht den Gebäuden: »Das Klima könnte gewinnen, wenn niedrige Bodenpreise mehr Spielraum für umweltfreundlichen Wohnungsbau ließen.« Doch eine Grundsteuerreform, die am Boden ansetzt, werde kaum diskutiert.

Dass Berlin mit der CO₂-Steuer zögert, passt ins Muster. Doch worauf warten? Wenn das CO₂-Geld an die Bürger verteilt wird, lassen sich sogar Skeptiker für den Klimaschutz gewinnen. Und ein steigender CO₂-Preis könnte verhindern, dass fossile Energie durch neue Gewinnungstechniken wie das Fracking wieder billig wird und den Weg aus der CO₂-Falle blockiert. Stattdessen wird die Steuer im klassischen Entweder-oder-Stil gegen den europäischen Emissionshandel ausgespielt. Dabei bräuchte Deutschland die Steuer zusätzlich zur EU-Lösung, um wenigstens die bisher gemachten Klimaversprechen zu erfüllen.

Alles auf einmal – der radikale Wandel ist der einfachste. Deutschland kann dabei von den Dänen lernen oder auch von den Finnen, die alle Bürger, Wissenschaftler und Unternehmer ausdrücklich einladen, am Bau eines »grünen Kapitalismus« mitzuwirken. Das würde dem Planeten helfen.

Und dem Land. Gegen das, was die Na­tio­nen in diesem Jahrhundert klimatechnisch und gesellschaftlich auf die Beine stellen müssen, war das Internet ein Kinderspiel. Arbeitnehmer werden in einer digital-ökologischen Wirtschaft umlernen, Konsumenten ihre Vorstellung von Shoppen und Lebensqualität ändern, Unternehmen sich völlig neu orientieren müssen. Die grüne Innovationswelle wird früher oder später kommen und neben enormen Verwerfungen auch gewaltigen Wohlstand bereithalten.

Klima könnte das größte Geschäft des 21. Jahrhunderts werden – gerade für die Deutschen, die vor 20 Jahren schon einmal führend waren bei der Umwelttechnik und der Umweltpolitik und die dann abkamen vom grünen Weg. Das Land der Ingenieure und Exporteure, der Mülltrenner und Waldschützer muss diesmal vorneweg laufen. Nach dem Silicon Valley darf nicht auch noch das Climate Valley weit weg am Pazifik entstehen.