Unterm Kreuz
von Nina Schick
Als die Autorin eine alte Postkarten entdeckt, sieht sie den Suizid ihres Vaters plötzlich mit anderen Augen – wurde er als Kind von einem Priester missbraucht? Bei ihren Recherchen stößt sie auf etliche Widerstände.
Die Postkarten, die mein Leben auf den Kopf stellen, muss ich vor vielen Jahren selbst an ihren Platz gebracht haben. Fast fünfzehn Jahre lagen sie in einer Schublade in meinem Elternhaus, jederzeit zugänglich für mich. Vielleicht gibt es im Leben für alle wichtigen Dinge einen Kairos, den richtigen Zeitpunkt? Wenn das so ist, dann war der richtige Zeitpunkt, das leere Notizbuch mit den packpapierartigen Seiten aufzuschlagen, am Vorabend von Allerheiligen 2017. Von den sieben Postkarten, die zwischen Buchdeckel und erster Seite stecken, stechen mir zwei sofort ins Auge. Sie sind in hellblauer Tinte und einer mir unbekannten Handschrift geschrieben. Der Text ist nicht ganz leicht zu entziffern.
»Liebe Frau Baumann. Recht frohe Grüsse von unserer ersten Station. Bis jetzt hat sich Ihr Michael ganz gut bewährt. Er hätte Ihnen sehr gerne geschrieben, aber ich habe es ihm für die nächsten 5 Wochen verboten. Werde Ihnen wöchentlich Bescheid zukommen lassen. Jetzige Adresse bitte wenn nötig nur an mich: Leon Montabaur Westerwald über Limburg. Postlagernd«
Die Postkarte ist an meine Großmutter adressiert und am 3. August 1954 in Montabaur abgestempelt worden. Die zweite Karte wurde am 23. August 1954 in Rangendingen abgestempelt, das liegt in Schwaben. Auf ihr heißt es ohne Anrede:
»Es geht uns allen sehr gut. Auch Michael ist wohl auf, wie üblich bin ich mit ihm sehr zufrieden, hoffe, dass sich die Fahrt wieder positiv auf ihn auswirkt. Froh. Gruss [unleserliche Unterschrift ] Post: Leon z. Z. Heiligen-Zimmern bei Heigerloch bis 30. des Monats. Kath. Pfarrst.«
Michael, das ist mein Vater. Frau Baumann ist seine Mutter, meine Großmutter. Leon: Das ist ein Unbekannter.
Mein Vater wurde am 20. August 1954 vierzehn Jahre alt. Warum hat ein gewisser Leon im Namen der katholischen Kirche meinen dreizehn, vierzehn Jahre alten Vater mehr als fünf Wochen lang an verschiedenen Stationen in seiner Obhut? Warum erteilt er ihm über die gesamte Dauer, auch über seinen Geburtstag hinweg, Kontaktverbot zur Mutter, und dies offenbar mit deren Billigung? Warum ist er »wie üblich« mit ihm »sehr zufrieden«? Und wie soll sich die Fahrt »wieder positiv« auf ihn auswirken?
Als sich mein Vater im Sommer 1994 erhängte, war ich achtzehn. Ich fand ihn in meinem ehemaligen Kinderzimmer. Der Anblick seiner schlaffen Gestalt mit dem zur Seite gekippten Kopf blieb mir erspart: Mein Vater hatte sorgsam die Tür verschlossen, den Schlüssel im Schloss quergestellt und die Rollläden heruntergelassen. Beim Versuch, die Tür von außen mit einem anderen Schlüssel zu öffnen, sah ich durch die frei gebliebene Hälfte des Schlüssellochs seine Hand – viel zu weit oben im Raum, ohne jede Muskelspannung. Bei diesem Anblick traf mich die Gewissheit, dass mein Vater tot war, mit einem Schlag im ganzen Körper. Sein Tod kam nicht überraschend. Im konkreten Moment natürlich schon, aber ich lebte lange mit seinen Suiziddrohungen, wusste um seine Verzweiflung, seine Angst, seine jahrelangen Depressionen.
Ich habe keinen gesunden Vater gekannt. Die Krankheit kam nicht in unser Leben und veränderte es, sie war immer da. Mein Vater war eins mit der Depression. Als ich klein war, hieß die Krankheit »Kopfschmerzen«, und meine Mutter versuchte, mit mir heile Welt zu spielen. Doch die Ehe überstand die Depression nicht. Meine Eltern trennten sich, als ich acht Jahre alt war. Mein Vater blieb allein in unserem großen Einfamilienhaus wohnen, ich verbrachte jedes zweite Wochenende bei ihm. Dort beschäftigte ich mich oft stundenlang allein, weil mein Vater sich ins dunkle Schlafzimmer verkrochen hatte.
Je älter ich wurde, desto stärker bezog mich mein Vater in seine Depression ein. Er sprach von seiner Schlaflosigkeit, seiner Angst, seiner Einsamkeit. Er erzählte, wie er nachts um vier durch das Haus tigerte, wie ihn die Schmerzen von zwei Bandscheibenvorfällen peinigten, wie ihn die Angst quälte. »Angst wovor?«, fragte ich einmal. Er erklärte mir, dass seine Angst kein »Wovor« brauchte. Dass sie ein Zustand war, der Körper und Geist vollständig im Griff hatte. Ihm den Mund austrocknete, den Schweiß auf die Stirn trieb, seine Hände zittern ließ. Ich wollte verstehen, seine Vertraute sein und ihm helfen. Zugleich war ich überfordert und litt immer mehr unter der Last seiner Verzweiflung und Bitterkeit. Ich hatte das Gefühl, ich wüsste alles über ihn: mehr, als ich wissen wollte, und mehr, als ich tragen konnte.
Heute weiß ich: Ich wusste viel zu wenig. Zwei Postkarten, ein Rätsel.
Die Selbstherrlichkeit des Schreibers, das Einverständnis der Mutter und die Ohnmacht des Jungen machen mich fassungslos. Ich arbeite noch daran, das aufsteigende Bild zu deuten, da spricht meine Mutter aus, was sie seit Jahren mit sich herumträgt: »Weißt du«, sagt sie nachdenklich, »ich habe dir ja nie davon erzählt. Aber schon damals, als zum ersten Mal die ganzen Missbrauchsgeschichten aufkamen, habe ich mir gedacht: Ich könnte mir vorstellen, dass dem Papi auch so etwas passiert ist.«
Es ist, als ob alle Erinnerungen an meinen Vater in einem großen Sack stecken, den jemand wild durchschüttelt und vor meinen Füßen auskippt. Ich sehe lauter Puzzleteile, die ich schon immer kannte und die nun Teile eines neuen Bildes werden.
Da ist der Hass meines Vaters auf die katholische Kirche. Einmal fragte ich ihn nach dem Grund. Er erzählte mir von der Angst, die ihm die Geistlichen in seiner Kindheit vor Hölle und Fegefeuer gemacht hätten. Bis ins Innerste habe sie ihn er schüttert und gequält. Ich verstand und verstand doch nicht. Ich konnte nachvollziehen, wie ihn die Furcht vor schlimmsten Strafen und ewiger Verdammnis gepeinigt hatte und dass ihn das als Erwachsenen wütend machte. Aber sein Hass ging über das hinaus, was ich mir erklären konnte.
Auch andere Puzzleteile fügen sich plötzlich ins Bild. Die unergründliche, unheilbare Verzweiflung, das verkrampfte Verhältnis zu Sexualität, von dem mir meine Mutter erzählt, seine hübsche Erscheinung und seine Verletzlichkeit. Mein Vater war schlank, blond, blauäugig, hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit einer geraden Nase. Er war groß gewachsen und sportlich, hatte aber auch etwas Zartes an sich. Wenn jemand auf hübsche Jungen stand, musste ihm mein Vater gefallen. Er wuchs ohne Vater und mit einer kaltherzigen Mutter auf, prädestiniert für Menschenfänger: sensibel, verwundbar, bedürftig nach Zuwendung und ohne einen Vertrauten, dem er von schlimmen Erlebnissen hätte erzählen können. Bis mir das letzte Puzzlestück ins Bewusstsein kommt, braucht es ein paar Tage und wieder den Anstoß meiner Mutter. Als sie mich darauf anspricht, stockt mir der Atem. Wieder einmal lag längst alles offen vor mir, diesmal nicht unbemerkt, sondern unerkannt. Ich habe alles gesehen und war blind.
In seinen letzten beiden Jahren – 1993,’94, vor dem Computerzeitalter – fertigte mein Vater Bilder, indem er mit Fotokopieren, Folien und speziellen Papieren Fotos und andere Bilder verfremdete und montierte. Er nannte es »Copy Art«. Meistens ging es um ein einzelnes Motiv, viele Bilder zeigten ihn oder mich. Ein Bild aber war größer als alle anderen und setzte sich aus vielen Elementen zusammen. Als er daran arbeitete, sagte er sinngemäß zu mir, dies sei sein Opus magnum, da stecke sein ganzes Leben drin. Es war für mich ein finsteres, rätselhaftes Dokument seiner mir nicht mehr zugänglichen Geisteswelt und Todessehnsucht.
Im Zentrum der Collage steht ein Porträtfoto von ihm aus den Sechzigerjahren. Darüber strebt das Bild ins Jenseits: Himmel und Hölle, Gott und Tod sind die bestimmenden Motive. Sein im Krieg gefallener Vater besetzt wie geköpft, geblendet und unerreichbar die oberen Ecken. Unterhalb des Porträts scheint es um seine Vergangenheit zu gehen. Ganz unten, die Basis von allem: der gekreuzigte Jesus des Isenheimer Altars, flankiert von zwei Kreuzen, die aus erigierten Penissen gebildet sind. Links und rechts in den Ecken, wie eine aufmerksame Beobachterin von beiden Seiten, ein Porträt meiner Großmutter.
In der gigantischen Unordnung im Haus meines Vaters stieß ich irgendwann auf ein zerschnittenes Polaroid. Ich erkannte Haut und Füße. Dann begriff ich: Mein Vater hatte ein Bild von seinem erigierten Penis gemacht und diesen ausgeschnitten. Mir wurde klar, wie weit er für seine Collage gegangen war. Diese Intimität sollte bei mir gut aufgehoben sein. Ich ließ das Polaroid verschwinden und beschloss, niemals irgendjemandem davon zu erzählen. Nicht einmal mit meiner Mutter sprach ich darüber. Daran hielt ich mich 24 Jahre lang.
Doch nach beinahe einem Vierteljahrhundert fügt sich die Collage mit den Postkarten, dem Verdacht und dem Leid meines Vaters zu einem neuen Bild. Ich möchte mit den Fäusten gegen die Wand trommeln und »Ihr Schweine!« schreien. Dann zwinge ich mich wieder zur Vernunft: Ich habe keine Beweise. Nur zwei Postkarten. Leon. Who the fuck is Leon?
Im November 2017, wenige Wochen nach dem Fund der Postkarten, beschließe ich zu Hause in München, mich auf die Suche zu machen. Mein Vater wäre Ende siebzig, Altersgenossen können noch leben. Leon schätze ich aufgrund der Handschrift und des Tonfalls als deutlich älter ein. Ich rechne nicht damit, ihn lebend zu finden. Ich hoffe darauf, überhaupt zu erfahren, wer Leon war, und Personen zu finden, die mir etwas über ihn erzählen können.
Zunächst stochere ich nur herum. Mit ein bisschen Googeln stoße ich darauf, dass gerade in Mannheim, Heidelberg und Gießen an einer Studie gearbeitet wird, die das Ausmaß des Missbrauchs in der katholischen Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg klären soll. Ich wähle die in Mannheim angegebene Nummer und habe Professor Harald Dreßing am Telefon. Er ist der Leiter der Studie und erklärt mir, dass es in der Untersuchung nicht um Einzelfälle gehen werde. Wenn mein Anliegen einen konkreten Fall betreffe, solle ich mich an den Missbrauchsbeauftragten der entsprechenden Diözese wenden. Ergebnisse seiner Studie lägen voraussichtlich im Herbst 2018 vor. An Missbrauchsbeauftragte will ich mich nicht wenden. Denn ich bin misstrauisch. Außerdem: Was habe ich schon in der Hand? Ich bin keine unmittelbar Betroffene, mein Vater ist tot. Ich habe zwei Postkarten von einem Unbekannten und einen Verdacht. Ich will zunächst versuchen, meinem Vater und seinem damaligen Umfeld in Karlsruhe näherzukommen.
Drei Ansatzpunkte fallen mir ein. Da ist zunächst mein Onkel, der Halbbruder meines Vaters, vier Jahre älter als dieser. Die beiden hatten immer ein seltsam entfremdetes Verhältnis. Aber mein Onkel ist der einzige Weggefährte meines Vaters aus jener Zeit, den ich kenne. Das Problem: Ich hatte schon immer wenig bis nichts mit ihm zu tun, vor einigen Jahren hat er den Kontakt zu mir vollständig abgebrochen. Der zweite Ansatz ist meine Mutter, die sich noch an zwei Namen von Schulfreunden meines Vaters erinnert. Als Drittes will ich versuchen, bei Karlsruher Pfarreien etwas über deren Zeltlager in den Fünfzigerjahren zu erfahren.
An meinen Onkel traue ich mich nicht direkt heran. Ich mache meinen Cousin ausfindig. Der reagiert aufgeschlossen, meldet sich dann aber nicht mehr. Die Schulfreunde meines Vaters google ich und suche ihre Namen in Telefonbüchern. Doch der eine Name ist zu beliebig, beim anderen finde ich nichts (weil ich den Namen falsch schreibe, wie sich später herausstellt). Ich telefoniere mit den Sekretariaten von diversen Pfarreien in Karlsruhe. Zeltlager in den Fünfzigerjahren? Nein, dazu gebe es kein Archivmaterial.
Ein Vierteljahr später stehe ich frustriert vor dem Nichts. Ich frage mich, ob die ganze Unternehmung nicht hoffnungslos ist. Zwei Postkarten eines Unbekannten, fast 64 Jahre alt, kein Zeitzeuge greifbar. Bin ich eigentlich noch bei Sinnen? Mit einem Job, drei kleinen Kindern und Haushalt ist meine Zeit auch ohne dieses Projekt gut gefüllt. Ich rufe einen Freund und Mentor zu Hilfe. Er macht mir Mut und aus meinem Schlamassel einen Drei-Punkte-Plan. Erstens Onkel: Einfach mal hingehen – jemanden, der vor der Tür steht, muss man erst mal wegschicken. Zweitens Schulfreund mit auffälligem Nachnamen und hochrangigem Arzt als Vater: Wird sich über die Kliniken ausfindig machen lassen. Drittens Pfarreien: Nicht mehr mit Sekretariaten telefonieren, Termin beim Pfarrer geben lassen.
Nun hat die Sache Struktur. Einige Wochen später telefoniere ich mit einem Schulfreund, mit dem mein Vater über die gesamte Gymnasialzeit hinweg in eine Klasse ging und einmal eine mehrtägige Radtour unternahm. Ohne Warnung rufe ich an und habe einen hellwachen, aufmerksamen und aufgeschlossenen älteren Herrn am anderen Ende der Leitung. Beim Namen Michael Baumann ist er sofort bei der Sache. Er habe sich oft gefragt, was aus meinem Vater geworden ist, und versucht, ihn für Klassentreffen ausfindig zu machen. Ich erzähle ihm vom Tod meines Vaters. Er ist betroffen. Zugleich freut er sich über meinen Anruf. Er erinnert sich an die gemeinsame verregnete Radtour 1958. Später schickt er mir Bilder von meinem Vater aus der Schulzeit. Die Recherche in Sachen Leon bringt der Kontakt nicht voran. Der Freund weiß nichts über Zeltlager, weder aus Erzählungen meines Vaters noch aus eigener Erfahrung. Er stammt selbst aus einem evangelischen Umfeld. Weitere Freunde kann er mir nicht nennen. Über meinen Vater sagt er: »Man kam eigentlich nicht so richtig an ihn heran. Er war immer sehr verschlossen, ein bisschen ein Einzelgänger.«
Ich bin trotzdem euphorisch. Ein gerade noch wildfremder Mensch hat mir neue Erinnerungen an meinen Vater geschenkt. Indem wir gemeinsam an ihn zurückdachten, war mein Vater in unserem Gespräch lebendig. Für solche Begegnungen lohnt sich die Recherche, egal wie wenig ich dabei über Leon und die Postkarten herausfinde.
Ähnliches passiert mir bei meinem Onkel. Auf einem Heimatbesuch kurze Zeit später, im April 2018, wage ich mich zu ihm. Mit Herzklopfen fahre ich unangemeldet hin und klingle. Er und seine Frau bitten mich freundlich herein. Das Schweigen ist gebrochen, wir sind alle erleichtert. Wie wir so beieinandersitzen, wird mir bewusst, was uns verbindet: Sohn, Schwiegertochter, Enkelin – alle drei sind wir, genau wie mein Vater, Opfer meiner Großmutter.
Meine Großmutter war eine grauenvolle Person, das war auch ohne den Postkarten-Fund klar. Sie war gefühlskalt, herrisch, egozentrisch, manipulativ. Ihre beiden Söhne schlug sie wohl regelmäßig. Schon als Kind fühlte ich mich in ihrer Gegenwart unwohl. Als Erwachsene ertrug ich sie höchstens zwei Stunden lang. Mein Vater hatte sein ganzes Leben unter ihr gelitten und über sie geklagt, aber in Phasen der Schwäche auch immer wieder ihre Nähe gesucht. Am Ende hatte er den Kontakt abgebrochen und ihretwegen die Schlösser austauschen lassen. Seit Jahrzehnten habe er nach einer Bezeichnung für sie gesucht, sagte er mir kurze Zeit vor seinem Tod. Nun habe er endlich die treffende gefunden: Sie sei eine trivenefica, eine dreimal verfluchte giftmischende Hexe. Auch mein Onkel wurde von der alten Giftmischerin fürs Leben gezeichnet. Für ihn war mein Vater immer der Lieblingssohn, er wurde von der Mutter abgelehnt und geschlagen. Jetzt, nach Jahrzehnten, erkenne ich das System. Mir wird klar, wie die gehässige Frau Missgunst und Misstrauen säte und verhinderte, dass sich ihre Opfer verbündeten. Beide Söhne litten unter der Mutter und blieben einander fremd. Beide Schwiegertöchter litten unter ihrer Schwiegermutter und hatten fast keinen Kontakt zueinander.
Mein Onkel kann mir nicht weiterhelfen mit Wissen über Zeltlager, über Erzählungen meines Vaters oder darüber, ob mein Vater sich in dieser Zeit veränderte. Der Name Leon sagt ihm nichts. Stattdessen berichtet er von der körperlichen Gewalt, der er selbst vier Jahre lang bei den Regensburger Domspatzen ausgesetzt gewesen sei. Zweimal sei ihm nach Schlägen das Trommelfell gerissen. Kontaktverbote seien ihm aus dieser Zeit auch vertraut: »Damit die misshandelten Kinder nicht berichten konnten, was ihnen angetan wurde.«
Als meine Großmutter in den Fünfzigerjahren eine Wohnung fand, sodass sie bei ihrer Mutter ausziehen konnte, blieb mein Onkel lieber dort wohnen. Mein Vater lebte ab dann – und auch zur Zeit der Leon-Postkarten – allein mit seiner Mutter. Die Brüder hatten nur spärlich Kontakt. »Ich dachte, ihm geht’s gut bei ihr«, sagt mein Onkel. Im Schülerausweis und im Rettungsschwimmerausweis meines Vaters kleben zwei Passbilder, die etwa von 1955 stammen müssen. Er trägt darauf ein kariertes Hemd und die Haare zeittypisch an den Seiten raspelkurz, oben akkurat nach hinten gekämmt. Sein Blick ist leicht nach unten gerichtet, auf dem einen Bild hat er den Unterkiefer etwas nach vorn geschoben und die Augenbrauen zusammengezogen. Er wirkt konzentriert, aber auf etwas, was nicht in der Außenwelt zu liegen scheint.
Nein, so sieht kein Jugendlicher aus, dem es gut geht. Ernst und verloren wirkt dieser junge Mensch, angespannt, einsam, in sich gekehrt. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod wünsche ich mir nichts sehnlicher, als meinen Vater fragen zu können, was ihn damals beschäftigte und was er fühlte.
Nun bleibt mir nur noch der Karlsruher Pfarrer. Ich brauche Wochen und Monate, bis ich einen Termin bei Achim Zerrer, leitender Pfarrer der Seelsorgeeinheit Karlsruhe Allerheiligen, ergattert habe. Eine Woche nach dem 24. Todestag meines Vaters, am 30. Juni 2018, treffe ich ihn in Karlsruhe. Die abendliche Zugfahrt quer durchs Land, die oberrheinische Hitze und die bis in die Nacht hinein belebten Straßen versetzen mich in eine besondere Stimmung. Für 24 Stunden habe ich keine der üblichen Verpflichtungen. Ein unwirkliches Gefühl von Freiheit erfüllt mich. Zugleich verbinde ich die Erinnerungen an den Tod meines Vaters mit den langen Sommertagen und dieser bleiernen Hitze des Oberrheins. Ich fühle mich zum Bersten lebendig und dem Tod ganz nah.
Achim Zerrer empfängt mich im Pfarrhaus St. Stephan in kurzer Outdoor-Kleidung und Trekkingsandalen. In einem biederen kleinen Besprechungszimmer erzähle ich ihm von Leben, Krankheit und Tod meines Vaters. Schließlich komme ich zu den Postkarten. Diesen Punkt des Gesprächs habe ich gefürchtet: Was passiert, wenn ich den Verdacht, mein Vater könnte sexuell missbraucht worden sein, ausspreche? Macht Zerrer dicht? Doch seine wachen Augen bleiben freundlich, sein jungenhaftes Gesicht offen. »Ja, klar stellt ma sich da die Frage, ob’s da zu Missbrauch gekomme isch«, sagt er.
Unmittelbar weiterhelfen kann Zerrer mir nicht. Er hat keine Ahnung, wer Leon gewesen sein könnte. Doch ich habe ihn für Nachforschungen gewonnen. Spontan fallen ihm zwei Personen ein, die er fragen will. Er verspricht, zu recherchieren und sich zu melden.
Zwei Wochen nach unserem Gespräch ruft Zerrer an. Er hat einen alten Mann ausfindig gemacht, der Antworten hat. Dieser Mann, der nicht mit seinem Namen in diesem Artikel stehen möchte, erinnert sich an meinen Vater und sogar an dessen Mutter. Er war sechs Jahre älter als mein Vater und hatte deswegen nicht viel mit ihm zu tun. Umso mehr aber mit dem Postkartenschreiber. Leon: Das könne nur Hermann Leon gewesen sein, der »große Zampano« der Jugendarbeit in der Karlsruher Weststadt in den Fünfzigerjahren. Der Mann erzählt, dass Leon in mehreren Sommern mit einer Gruppe Jugendlicher auf »Dramafahrt« gegangen sei: Die Gruppe sei mit Fahrrädern von Ort zu Ort gezogen und habe ein von Leon geschriebenes Theaterstück in verschiedenen Gemeinden aufgeführt. Der alte Mann ist immer noch in der Gemeinde aktiv und gut vernetzt. Zerrer bittet ihn, sich unter seinen Kontakten umzuhören. Mich bittet er, noch ein wenig abzuwarten: »Ich würd sage, jetzt lasse mer den Herrn mal schaffe.«
Per Internetsuche erfahre ich schon mal: Hermann Leon war Jahrgang 1926, im Jahr 1954 also 28 Jahre alt. 1955 wurde er in Mainz zum Priester geweiht. Von 1962 bis 1972 war er Pfarrer in Rheinhessen, danach bis zum Ruhestand 1996 in Wald-Michelbach im Odenwald. Der Jugendarbeit blieb er immer verbunden und empfing bis zu seinem Tod 2010 Jugendgruppen in »seiner Mühle« im Nordschwarzwald, wo er im Ruhestand auch wohnte. Eine Pfadfindergruppe aus Rheinhessen hat einen Bericht von einem solchen Besuch ins Netz gestellt, auf den Fotos ist auch der 83 Jahre alte Leon zu sehen. Nun hat das Phantom eine Identität, eine Biografie, ein Gesicht – und ein Grab, aber das frustriert mich nicht. Der erste große Schritt ist geschafft: Leon ist identifiziert.
Drei Wochen später berichtet mir Zerrer in einem Telefonat, was der alte Mann geschafft hat. Er hat mit Männern, die in derselben Jugendgruppe wie mein Vater waren, und eigenen Bekannten gesprochen. Alle erzählen übereinstimmend vom harten Regiment, das Leon auf seinen Freizeiten geführt habe. Er sei beliebt, aber auch gefürchtet gewesen, bekannt als »harter Hund«. Bei Vergehen seien typische Strafen gewesen, barfuß über ein Stoppelfeld oder über spitze Steine im kalten Flussbett gehen zu müssen. Zwei der Gesprächspartner berichten von einer weiteren üblichen Strafe: Der Delinquent musste demnach in der Nacht zu Hermann Leon ins Zelt gehen und dort schlafen. Leon habe auch Lieblinge gehabt – für diese gab es die Nacht im Zelt als »Belohnung«. Die Zeitzeugen erklären, selbst nie von Leon übergriffig angegangen worden zu sein. Beide hätten aber auf ihren Fahrten mit Leon erlebt, dass dieser andere Jungen über Nacht zu sich ins Zelt holte. Neun Monate lang habe ich meine Gefühle im Schwebezustand gehalten. Vom ersten Moment an hatte mich der Verdacht überwältigt, die Sache schien so plausibel. Und doch habe ich mich stets gezwungen, in der Möglichkeitsform zu bleiben. Ich fühle mich, als ob ich ein Dreivierteljahr lang den Atem angehalten hätte. Nun lasse ich los.
Wut, Mitleid, Schmerz, Erleichterung, Stolz, Dankbarkeit – ich empfinde jetzt viel zu viel auf einmal, um jedes Gefühl in seinem ganzen Ausmaß spüren zu können. Ich weiß: Jedes Gefühl wird kommen und seine Zeit beanspruchen. Ich werde mich durcharbeiten müssen.
Den gerichtsfesten Beweis gibt es nicht, es wird ihn wohl nie geben. Doch ich bin nicht vor Gericht. Ich brauche nicht den einen Zeugen, der versichert, in einer bestimmten Augustnacht 1954 zu einer bestimmten Uhrzeit habe Leon meinen Vater zu sich ins Zelt geholt. Das Bild ist auch so vollständig: die Postkarten, die Collage, die Aussagen. Von nun an sage ich, wenn ich über meinen Vater spreche: Ich gehe davon aus, dass mein Vater als Jugendlicher sexuell missbraucht wurde.
Pfarrer Zerrer formuliert eine Anzeige für die Missbrauchsstelle der Erzdiözese Freiburg. Bis hierhin war die Recherche nach Leon meine Privatsache. Und es bleibt mein privates Problem, wie ich mit den neuen Erkenntnissen über meinen Vater weiterlebe. Aber: Mein Vater war nicht als Einziger mit Leon auf Freizeiten. Wie erging es anderen Jungen, die mit Leon zu tun hatten? Was hat Leon in seinen Jahren als Kaplan, als Pfarrer, als Religionslehrer angerichtet? In Freiburg ist Hermann Leon nicht aktenkundig. Als Mainzer Priesteramtsstudent arbeitete er in Karlsruhe ehrenamtlich, und über Ehrenamtliche gab es zu jener Zeit keine systematischen Aufzeichnungen. Das Interesse hält sich in Grenzen. Auf Wunsch von Zerrer schickt die Missbrauchsbeauftragte noch eine Nachfrage an das Bistum Mainz, in dem Leon sein gesamtes Berufsleben verbrachte. Über Zerrer erreicht mich die Auskunft, dass Leon in Mainz durch Gewalt, nicht aber durch sexuelle Übergriffe aufgefallen sei. Es wird sich später herausstellen, dass man bei genauerem Hinsehen doch ein paar Hinweise darauf findet.
Nur eine gute Woche später wird mein privates Thema allgegenwärtig. Am 25. September 2018 stellt die katholische Kirche die unter der Leitung von Professor Dreßing erarbeitete MHG-Studie vor, ein knappes Jahr nach meinem Anruf in Mannheim. In Deutschland sind demzufolge 3677 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellen Übergriffen durch 1670 Geistliche geworden – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Forscher nennen ihre Zahlen eine »untere Schätzgröße«. Sie gehen davon aus, dass es deutlich mehr Taten, Opfer und Täter gibt.
Ich scrolle durch 366 Seiten Studie und male mir aus, was meinem Vater passiert sein könnte. In der Liste typischer Missbrauchstaten stehen: Berührung primärer Geschlechtsteile unter der Kleidung, Küsse auf den Mund, genitale Penetration, Masturbation an, von und mit Betroffenen, Entkleidung Betroffener, Oralverkehr, Fingerpenetration. Erschütternd genug, allerdings auch nur nüchterne Fachbegriffe, die einen fast vergessen lassen: So handelt ein Erwachsener an einem Kind. Was fühlt ein Kind, dem so etwas widerfährt?
Die Studie enthält auch eine Liste mit gesundheitlichen Folgen, die bei Betroffenen häufig auftreten. Bei den meisten Punkten kann ich gedanklich einen Haken setzen: Ängste. Depressionen. Misstrauen. Sexuelle Probleme. Kontaktschwierigkeiten. Schlafstörungen. Suizidgedanken. Suizidversuche. Unruhe. Einen Punkt kann ich sicher ausklammern, das ist Alkoholmissbrauch. Dafür trifft Medikamentenmissbrauch zu. Jahrelang betäubte mein Vater seinen Körper mit Schmerzmitteln. Überhaupt sein Körper: Als Jugendlicher war mein Vater sportlich. Er war Rettungsschwimmer, ging auf Skitouren, unternahm tagelange Radreisen und ruderte. In der Tanzstunde 1958 war meine Mutter hingerissen von diesem braun gebrannten jungen Mann, der gerade aus den Skiferien kam. Schon an der Universität trieb mein Vater dann kaum noch Sport, angeblich, um sich ganz auf sein Studium zu konzentrieren, in das er sich wie ein Besessener stürzte.
Ich erlebte ihn in seinem späteren Erwachsenenleben als bleich und wie stillgelegt, ohne jede Freude an sportlicher Betätigung. Er bewegte sich eckig und langsam. Jahrzehntelang reichten die Depressionen als Begründung. Antriebslosigkeit ist ein typisches Symptom. Nun liefert der Missbrauchsverdacht eine zusätzliche Erklärung dafür, wie ein eigentlich sportlicher Mensch dermaßen das Verhältnis zu seinem Körper verlieren kann.
In der Liste begegnet mir ein weiteres Merkmal, das mich innehalten lässt. »Schreckhaftigkeit« steht dort, und plötzlich kommt mir eine Eigenart meines Vaters in den Sinn, die ich vergessen hatte. Mein Vater war in einem Maße schreckhaft, das mich immer wieder staunen ließ. Es konnte passieren, dass ich ihm gegenübersaß, in die Augen blickte und ihm beim Erzählen die Hand auf den Arm legte – und er zusammenzuckte, als hätte ihn jemand von hinten angesprungen.
Immer wieder lese ich die Postkarten. »Wie üblich bin ich mit ihm sehr zufrieden, hoffe, dass sich die Fahrt wieder positiv auf ihn auswirkt.« Was war da üblich? Was wiederholt sich da? Und was waren die Auswirkungen, die Leon und/oder meine Großmutter als »positiv« bewerteten? Wie verbrachte mein Vater die Ferien 1952, 1953 – Jahre, aus denen ich keine Postkarten habe? Immer wieder betrachte ich die alten Passbilder und stelle mir meinen Vater als dreizehn, vierzehn Jahre alten Jungen vor. Wem hätte er sich anvertrauen können? Er muss so einsam gewesen sein.
Ich muss aushalten, dass ich nichts mehr tun kann. Meinen Vater nicht mehr fragen, nicht mehr mit ihm reden, niemanden anklagen, nichts ungeschehen machen, nichts heilen kann. Ich fühle mich so hilflos.
Mit meinem Fall hat die Studie der katholischen Kirche unmittelbar nichts zu tun. Doch sie ändert einiges. Das Thema ist nun hochaktuell, die Kirche steht unter Druck. Was trägt sie zur Aufklärung bei? Die Sensibilität auch für historische Fälle steigt. Und ich fasse Mut. Wenn ich schon nicht mehr herausfinden kann, was meinem Vater in der Obhut von Hermann Leon widerfahren ist, stelle ich nun die Frage: Wie hat sich Leon später verhalten, als Kaplan, Pfarrer und Religionslehrer? Auch das wird mir etwas darüber sagen, was mit meinem Vater passiert sein könnte. Und ich habe eine Aufgabe, die mich von meiner Ohnmacht ablenkt.
Ich wende mich selbst an die Missbrauchsbeauftragte des Bistums Freiburg, die Rechtsanwältin Angelika Musella. Es reicht mir nicht mehr, dass mir Pfarrer Zerrer erzählt hat, was ihm Frau Musella erzählt hat, was sie aus Mainz gehört hat. Ich bitte Musella darum, mir die Unterlagen zu meinem Fall zukommen zu lassen. Das möchte sie auch tun, allerdings untersagt ihr das Bistum Mainz, die E-Mail mit der Auskunft über Leon weiterzugeben, »aus Datenschutzgründen«. Man sehe mein Interesse, Klarheit über den Suizid meines Vaters zu erlangen, werte hier aber »das postmortale Persönlichkeitsrecht des betroffenen Pfarrers als gewichtiger«. Ich lese den Satz mehrmals durch, um sicherzugehen, dass ich ihn richtig verstanden habe.
Pech für Mainz: In Freiburg teilt man diese Ansicht nicht so ganz. Zwar erhalte ich die Mail weder auf Papier noch elektronisch, doch ich bekomme sie am Telefon vorgelesen. So langsam ich möchte.
Der Name Hermann Leon sei im Bistum Mainz »in einschlägigem Zusammenhang schon bekannt«, heißt es dort. Dabei muss Leon sich im alltäglichen Berufsleben eher unauffällig verhalten haben. Über Jahrzehnte hinweg veranstaltete er jedoch Ferienlager in seiner Mühle im Nordschwarzwald. Zu diesen habe das Bistum Mainz »Beschwerdebriefe von Eltern wegen der dort praktizierten fragwürdigen Erziehungsmethoden« erhalten. Außerdem habe es im Jahr 2010 zwei Anträge auf Anerkennung des Leids – das standardisierte Verfahren der Kirche für Missbrauchsvorwürfe – gegeben, die sich auf die Sechzigerjahre bezogen. In einem der Anträge seien Leon »Grenzverletzungen und körperliche Züchtigungen, die einen sexuellen Unterton gehabt haben könnten«, vorgeworfen worden. Diese seien jedoch von der Bischofskonferenz nicht als sexueller Missbrauch eingestuft worden.
Der andere Antrag hatte eine Vergewaltigung in der Mühle zum Gegenstand. Die Vergewaltigung habe ein Priester begangen, allerdings: »Die Identität des Täters war nicht zu ermitteln. Es war jedoch eindeutig nicht Pfarrer Leon selbst.« Dem Betroffenen wurde eine Anerkennungsleistung gezahlt.
Zu der von Pfarrer Zerrer vorgebrachten Schilderung und dem von ihm geäußerten Verdacht, mein Vater könnte von Leon sexuell missbraucht worden sein, lautet die Einschätzung: »Was Pfarrer Zerrer schreibt, fügt sich zu einem stimmigen Bild mit den uns vorliegenden Informationen zusammen.« Weiter heißt es aus Mainz: »Pfarrer Leon selbst konnten wir bislang einen eindeutigen sexuellen Missbrauch nicht nachweisen. Dass es im Zusammenhang der Ferienlager in der Mühle weitere Opfer gibt, wenn nicht von sexuellem Missbrauch, so zumindest von körperlichen Übergriffen im Rahmen der rigiden Erziehungsmethoden, ist sehr wahrscheinlich.«
Außerdem erfahre ich aus der E-Mail: Das Bistum erstattete 2010 selbst Strafanzeige gegen Leon, wegen des Verdachts auf vorsätzliche Körperverletzung, Misshandlung Schutzbefohlener und sexuellen Missbrauch Minderjähriger. Die Sache erledigte sich sowohl wegen Verjährung als auch durch Leons Tod im Juni 2010.
Das Bistum selbst hat Leon bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und rechnet mit weiteren Opfern. Wessen Rechte wollte man mit der Weigerung, die E-Mail an mich weiterzugeben, schützen? Tatsächlich das »postmortale Persönlichkeitsrecht des betroffenen Pfarrers«? Oder doch eher das höchst lebendige Interesse des Bistums am Schutz des eigenen Ansehens? Mein Kampfgeist ist geweckt. Meine Versuche, in Mainz einen relevanten Gesprächspartner zum Thema Hermann Leon und Aufklärung zu erreichen, prallen wochenlang an einer Mauer des Schweigens ab. Das ändert sich erst, als ein Journalist erstes Interesse an dem Fall zeigt. Plötzlich meldet sich der Justiziar per Telefon und Mail bei mir und lädt mich zu einem Gespräch nach Mainz ein – mit ihm selbst und dem Generalvikar.
Im März 2019 fahre ich nach Mainz. Die ungleiche Konstellation macht mich nervös. Ich hätte auch gern Begleitung, aber niemand wollte so recht passen. Also trete ich den zwei hohen Kirchenherren allein gegenüber. Ich trage die Geschichte meines Vaters vor, berichte vom Postkartenfund, der Collage, meinem Verdacht und meinen bisherigen Erkenntnissen. Ich möchte alles wissen, was gegen Leon vorliegt, weil es mir Hinweise darauf geben kann, wie es meinem Vater in der Obhut von Leon erging.
Der Generalvikar Udo Bentz und der Justiziar Andreas van der Broeck teilen sich die Aufgaben. Bentz führt das Gespräch und zeigt sich auf professionelle Weise zugewandt, er hört aufmerksam zu und hat eine warme Ausstrahlung. Van der Broeck hält sich zurück und schreibt mit, er steht für die unangenehmen Aussagen bereit. Bentz überlässt es seinem Justiziar zu bekräftigen, dass man die E-Mail »aus Datenschutzgründen« nicht habe weitergeben können und dass man aus demselben Grund keine Akteneinsicht gewähren könne.
Beide versichern mir, dass Leons Personalakte noch einmal gründlich geprüft worden sei und es keine Vorwürfe außer den mir bekannten gebe. Bentz nennt Leons Gestaltung der Mühlenfreizeiten »paramilitärisch« und vermutlich sogar »von braunem Gedankengut geprägt«. Es sei jedoch nie ein sexueller Übergriff Leons aktenkundig geworden.
Ergebnis des Gesprächs sind drei Zusagen: Ich soll den offiziellen Nachruf des Bistums auf Leon, Todesanzeige genannt, erhalten. Bentz und van der Broeck versprechen, meine Kontaktdaten an die zwei in der E-Mail erwähnten Beschwerdeführer zu übermitteln, mitsamt meiner Bitte, Kontakt herzustellen. Zuletzt sichern mir Bentz und van der Broeck zu, noch einmal alles zu hinterfragen und sich um größtmögliche Aufklärung zu bemühen.
Der Vertreter des Bischofs von Mainz hat sich zweieinhalb Stunden Zeit für mich genommen – eines Bistums, in dem meinem Vater nichts widerfahren ist. Ich sehe darin ein ernsthaftes Engagement und weiß es zu schätzen. Andererseits fühle ich mich eingelullt von Bentz’ freundlicher Art, den Zusagen und Beteuerungen. Ich mache mir Vorwürfe: Hätte ich nicht viel hartnäckiger nachhaken müssen? Gibt es einen ernsthaften Willen zur Aufklärung? Ich bezweifle, dass wirklich etwas passieren wird. Ich verfolge meine eigenen Spuren und mache den neuen Eigentümer der Mühle ausfindig. Dieser ist ebenfalls Pfarrer. Ich bitte ihn um einen Termin und das Vertrauen, mein Anliegen erst im persönlichen Gespräch preisgeben zu müssen. Es funktioniert. Angespannt mache ich mich auf zu dem Treffen, das wenige Kilometer von der Mühle entfernt stattfindet. Als Erbe der Mühle könnte er der erste eingefleischte Leon-Jünger sein, auf den ich treffe. Wie wird er reagieren, wenn ich einen Verdacht gegen Leon äußere?
Meine Angst erweist sich als unbegründet. Der Pfarrer zeigt sich offen und nimmt sich viel Zeit für mich. Das ändert sich, als ich Monate später darum bitte, seine Informationen für meinen Artikel verwenden zu dürfen. Was er mir als Privatperson erzählt hat, soll nun, da ich ihm als Journalistin gegenübertrete, keine Geltung mehr haben.
Über die Monate hinweg telefoniere ich mit einigen Männern, die Leon kannten. Darunter sind welche, die ihn als Jugendliche in Karlsruhe erlebten, spätere Weggefährten, die seine Mühlenfreizeiten mitmachten, oder auch Pfarrer, die Leons Gemeinden kennenlernten. Auch Pfarrer Zerrer forscht weiter nach Zeitzeugen und trägt Informationen zusammen. Die meisten meiner Gesprächspartner haben eines gemeinsam: Sie wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen – zum Teil aus guten Gründen. Denn auch sie haben Dinge im Vertrauen erfahren und möchten ihre Informanten schützen. Außerdem scheint es immer noch eine große Furcht vor den Leon-Anhängern zu geben, die dieser im Laufe der Jahrzehnte um sich geschart hat.
Einige Informationen begegnen mir immer wieder. Schon in den ersten Gesprächen über Hermann Leon habe ich erfahren: Zeit seines Lebens strebte er danach, junge Männer für den Priesterberuf zu gewinnen. Schon für seine Karlsruher Theaterfahrten wählte er vorzugsweise Gymnasiasten, da nur diese für ein späteres Studium in Betracht kamen. Auch an seine Pfarrstelle in Wald-Michelbach zog es ihn wohl wegen des Gymnasiums, an dem er viel Religionsunterricht gab. Er brüstete sich mit den Dutzenden Priesterzöglingen, die er herangezogen habe.
Wieder fällt ein Schlaglicht auf die Erinnerungen an meinen Vater, wieder ist es unmöglich, heute noch Klarheit zu erlangen. War Leon dabei, auch aus meinem Vater einen Priester zu machen? Als meine Mutter sich in der Tanzstunde 1958 in meinen Vater verliebte, sagte ihr eine Bekannte: Schlag dir den aus dem Kopf, der wird eh Priester. Auch von einem Besuch meines Vaters am Priesterseminar in Mainz weiß meine Mutter. Doch mein Vater erklärte ihr den Ausflug als Besuch bei einem Freund, und vom Berufsziel Priester war keine Rede mehr.
Karlsruher Zeitzeugen schildern mir Leons strenges Regiment und seine harten Strafen wie Läufe über das Stoppelfeld und stundenlanges Rosenkranz-Beten – und sind bereit, dies achselzuckend als typisch für die Nachkriegszeit hinzunehmen. Doch die Zeiten änderten sich, Leon offenbar nicht. Auch meine Gesprächspartner aus späterer Zeit berichten von Leons harter Hand. Jeder, mit dem ich über Leons Mühlenfreizeiten spreche, lässt das Wort »paramilitärisch« fallen, sogar von einer »faschistischen Art« ist die Rede. Unternommen hat anscheinend nie jemand etwas. Selbst einer, der viele Freizeiten als erwachsene Begleitperson erlebte, beschränkt sich darauf festzustellen, dass er mit den pädagogischen Methoden nicht einverstanden gewesen sei – von der Teilnahme an den Fahrten hielt ihn das offenbar nicht ab.
Bemerkenswert ist auch, dass die Teilnehmer für die Freizeiten über Jahrzehnte hinweg fast nichts zahlen mussten. Auf den Theaterfahrten organisierte Leon, dass die Jungen ihre Zelte auf dem Gelände der Pfarreien aufschlagen durften und Essen bei Gastfamilien erhielten. In der Nachkriegszeit war dies für viele Jugendliche sicher die einzige Möglichkeit, an solchen Unternehmungen teilzunehmen. Auch meine Großmutter hätte als Kriegerwitwe mit zwei Kindern keine kostspieligen Fahrten bezahlen können. Doch auch später, als Leon die Kinder in seiner Mühle beherbergte und verpflegte, blieben die Kosten eher symbolisch: Von zehn, höchstens zwanzig Mark für zwei Wochen berichten meine Gesprächspartner. Stemmte Leon die Kosten aus seinem Privatvermögen? Welche Kontrolle übte das Bistum Mainz über die Freizeiten aus? Und sollte der Fast-umsonst-Preis vielleicht die Hemmschwelle der Kinder und Eltern erhöhen, sich über die Freizeit zu beschweren?
Selbst nach seiner Emeritierung empfing Leon noch Gruppen in der Mühle. Er wollte die Mühle auch nach seinem Tod als Ort für Jugendfreizeiten bestehen lassen. Doch niemand unterstützte seinen Plan, und die Gruppen kamen immer seltener. Leon muss entgangen sein, wie er selbst und seine Mühle, in der die Kinder in Schlafsälen auf Turnmatten schliefen, aus der Zeit fielen.
Über seinen Tod hinaus dachte Leon auch bei seiner Beerdigung: Er schrieb den Nachruf auf sich selbst und nahm diesen auf Tonband auf. Nach seinem Tod fand zunächst eine Trauerfeier bei der Mühle statt, wo Leon eine kleine Gemeinde um sich geschart hatte. Dort lief das Tonband mit der Trauerrede. Bei der offiziellen Trauerfeier in Wald-Michelbach wurde dies vom Bistum jedoch untersagt.
Langsam gewinne ich ein Bild von der Person Hermann Leon. Ein Mensch, der die Rede für seine Beerdigung selbst schreibt, aufnimmt und abspielen lässt. Ein Mann, der in seiner Mühle weiterleben möchte, aber die Zeichen der Zeit nicht erkennt und auf mangelnde Unterstützung verbittert reagiert. Ein Priester, der mitreißen kann und glühende Verehrer sowie erbitterte Gegner hat. Ein herrischer Mensch, der erwartet, dass seine Umgebung nach seiner Pfeife tanzt.
Schon als Theologiestudent, ohne Amt in der Karlsruher Gemeinde, nahm er es sich heraus, die Eltern seiner Jugendgruppen-Kinder aufs Deutlichste zurechtzuweisen. In einem Brief aus jener Zeit – ein Karlsruher Zeitzeuge gab ihn mir – empört er sich über spärlichen Besuch beim Schülergottesdienst und schreibt: »Unsere Führer, die jede freie Minute und ihre ganzen Ferien für die Jungens opfern, dürfen erwarten, dass auch Sie nicht davor zurück schrecken, einmal in der Woche eine halbe Stunde früher aufzustehen, um Ihren Buben zu ermöglichen rechtzeitig zur hl. Messe zu erscheinen. An diesen kleinen Opfern wächst Ihr Junge und erstarkt die ganze Kirche.«
Leon machte sein eigenes, ganz besonderes Ding und scharte exklusive Gruppen um sich – ein Vorgehen, das heute als bewusste Täterstrategie betrachtet wird. Statt normale Zeltlager zu veranstalten, ging er mit ausgewählten Jugendlichen auf Theaterfahrt. Statt Freizeiten in Einrichtungen des eigenen Bistums zu organisieren, lud er die Gruppen in seine private Mühle auf dem Gebiet des benachbarten Bistums. Statt sich im Ruhestand zurückzuziehen, hielt er in der Mühle Gottesdienste ab und empfing Jugendgruppen. Doch wie sieht es mit konkreten Hinweisen auf Übergriffe von Hermann Leon aus?
Schon Pfarrer Zerrer erfuhr in seinen ersten Gesprächen vom »Krankenzimmer«, das es in der Mühle gegeben habe und das Leon einem Gesprächspartner gegenüber »mit einem Augenzwinkern« erwähnt habe. Dieses Krankenzimmer begegnet mir mehrmals wieder. Beispielsweise in einem Gespräch mit einem Kirchenmitarbeiter, der Wald-Michelbach gut kennt. Als ich ihn anrufe und den Namen Hermann Leon und »Verdacht auf Missbrauch« erwähne, legt er schneller los, als ich schreiben kann. Er hat keinen Zweifel daran, dass Leon sexuell übergriffig war. Leon sei »süchtig nach Kindern« gewesen und habe sich immer mit Pubertierenden umgeben. In der Mühle habe er Krankenbehandlungen selbst vorgenommen und dabei »Aufpasser« gehabt, die ihm den Rücken freigehalten hätten. Viele Kinder hätten Angst vor der Behandlung gehabt, bei der sie allein mit Leon im Raum gewesen seien. »Geradezu Standard« sei gewesen, dass er den Pubertierenden Zäpfchen ein geführt habe. Auch in der Mühle sei es vor gekommen, dass Kinder zur Strafe über Nacht zu ihm ins Zimmer mussten. »Ich kann Ihnen nur meinen Abscheu mitteilen«, sagt er.
Und doch: Es fehlt an konkreten Fällen, an Menschen, die Leon offen etwas vorwerfen. Auch in der Schule habe man sich haarsträubende Dinge über Leon erzählt, berichtet mein Gesprächspartner, doch nie habe jemand etwas unternommen. In Wald-Michelbach habe eine Omertà geherrscht, ein Gesetz des Schweigens. Leon habe systematisch Leute unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass Leons Übergriffigkeit auch in Mainz bekannt war. »Hermann Leon wurde in meinen Augen durch das Schweigen der bischöflichen Autoritäten geschützt«, sagt er. »Dinge sind nach Mainz gegangen und verschwunden.« Er wünsche sich, dass das alles einmal aufgeklärt werde.
Aber wann und von wem? Aus Mainz höre ich wochenlang nichts mehr. Meine Telefonate führen mich zu einem weiteren Kirchenmitarbeiter. Dieser lernte eine andere Gemeinde Leons kennen. Er spricht nachdenklich über Leon. Im Laufe der vergangenen Jahre sei ihm die Frage gekommen, was früher wohl alles unter Leon passiert sei. Er erinnert sich an die Reaktionen in der Gemeinde auf eine Einladung zum Zeltlager: Sie seien zu seiner Verwunderung verhalten gewesen. Erst nach und nach sei er dahintergekommen, dass die Vorstellungen von den Freizeiten von Hermann Leon geprägt gewesen seien: Die Kinder hätten sich gefürchtet. Als er mit den Menschen in der Pfarrei vertrauter geworden sei, hätten diese begonnen zu erzählen. »Ich habe nie danach gebohrt«, sagt er. Es schwingt die unausgesprochene Frage mit, was wohl alles ans Licht gekommen wäre, wenn jemand »gebohrt« hätte.
Aus den Erzählungen habe er erfahren, dass Leon in der Mühle die Kinder darauf kontrolliert hätte, ob sie sich richtig gewaschen hatten – sie hätten dazu in Unterwäsche vor ihm antreten müssen. So habe sich aus den Berichten für ihn nach und nach ein Bild zusammengesetzt – das Bild eines Menschen, so formuliert es mein Gesprächspartner, der offensichtlich »Gefallen daran hatte, Kinder zu quälen und Kinder nackt zu sehen«.
Ich finde einen weiteren Insider aus einer Gemeinde Leons. Er schätzte Leon sehr und war mehrmals mit ihm als Begleitperson in der Mühle. Ich spreche ihn in unserem Telefonat direkt auf den Verdacht an, Hermann Leon könne Kinder sexuell missbraucht haben. Er kenne das Gerücht, sagt er. Doch er habe nie etwas bemerkt. Zwar habe auch er zumindest einmal mitbekommen, dass Leon einem dreizehnjährigen Mädchen ein Zäpfchen eingeführt habe. Dies sei jedoch der einzige Fall eines unsittlichen Übergriffs gewesen, von dem er wisse. Von anderen Fällen habe er gehört, aber nie etwas Konkretes. Ansonsten: nichts bemerkt. »Ich kann nichts dazu sagen, weil ich nichts davon weiß«, sagt er. Vielleicht sei schon etwas seltsam gewesen, dass Leon gewisse »Bilder in seinem Schrank« gehabt habe. Auf Nachfrage präzisiert er, es seien Bilder von Jungen aus der Gemeinde gewesen. Die habe er gesehen und sich gewundert, aber Leon nie danach gefragt. Es sei ihm auch aufgefallen, dass Leon »Freundschaften mit Buben« pflegte. Aber genauer wollte er auch das offenbar nie wissen. Weiteren Nachfragen weicht er aus.
Ich melde alle meine Gesprächspartner und Informationen nach Mainz, von wo ich immer noch wenig höre. Nach vielen Wochen hat man mir endlich einmal den Nachruf zukommen lassen und mich ansonsten vertröstet. Der Nachruf erwähnt vieles, nur nicht die Jugendarbeit, über die sich Hermann Leon zeit seines Berufslebens definierte. Welchen Grund hatte dies? Was war in Mainz wirklich über Leon bekannt? Weshalb bekam er nur eine »Beerdigung zweiter Klasse«, wie einer meiner Informanten es formuliert?
Die zweite Zusage aus dem Gespräch, nämlich meine Kontaktdaten den früheren Beschwerdeführern aus der Akte Leon zukommen zu lassen und meinen Kontaktwunsch zu übermitteln, ignorieren die Bistumsvertreter beharrlich. Im Juli informiert man mich immerhin darüber, dass der Regensburger Anwalt Ulrich Weber mit einem Aufklärungsprojekt beauftragt wurde. Weber hat 2015 bis 2017 die Vorkommnisse bei den Regensburger Domspatzen untersucht. Wenige Tage später fahre ich nach Regensburg und trage Weber meine gesammelten Erkenntnisse vor.
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass jemand außer mir und Pfarrer Zerrer den Willen hat, alles, was möglich ist, über Hermann Leon ans Licht zu bringen. Zum ersten Mal gelingt es mir deshalb, nach einem derartigen Gespräch loszulassen. Ich habe mein Material in gute Hände gegeben und warte auf die Ergebnisse von Webers Arbeit, die 2021 vorliegen könnten.
Im Film Gelobt sei Gott von François Ozon sagt Kardinal Philippe Barbarin, die Taten seien »Gott sei Dank« schon alle verjährt. Zu Recht beklagen Missbrauchsopfer die Verjährungsfristen, die dazu führen, dass viele lange verdrängte, unentdeckt gebliebene Verbrechen nicht gesühnt werden. Selbst die vor wenigen Jahren verlängerten Verjährungsfristen reichen nicht, um den Fällen gerecht zu werden, in denen Menschen jahrzehntelang nicht über Erlittenes sprechen konnten. Die Wirkungen der Taten reichen weit über das Justiziable hinaus. Nicht einmal nach sechseinhalb Jahrzehnten, nicht einmal wenn alle Beteiligten gestorben sind, ist das Geschehene hinfällig.
Die Krankheit und der Tod meines Vaters haben mein gesamtes Leben geprägt. Über die Jahre hatten sie ihren Platz darin bekommen, waren nach unten gesickert und bildeten den Bodensatz. Die herzlose Mutter, der fehlende Vater und die raue Nachkriegszeit schienen jahrzehntelang Grund genug für die schweren Depressionen meines Vaters zu sein. Am Ende war der Suizid als einziger Ausweg erschienen, wie – so bitter es klingt – eine Erlösung. Ich hatte meinen Frieden damit gemacht, seine Botschaft, wie Jean Améry sagt, als »die ausgestreckte Hand der Versöhnung« gesehen. Es blieb das Mysterium, warum er so unheilbar verzweifelt war, so grundsätzlich fehl am Platz in diesem Leben erschien. Die beiden Postkarten wirbelten diesen Bodensatz auf. Auf einmal schmerzt mich der Gedanke, dass ich seinen Suizid als einzigen Ausweg hingenommen hatte, zutiefst. Welche Möglichkeiten hätte es gegeben, die Depressionen zu behandeln, wenn man einen Missbrauch als mögliche Ursache erkannt hätte? Hätte ich die richtigen Fragen finden können? Ich hätte so gern noch einmal die Chance, ihm Fragen zu stellen. Was erlebte er im Sommer 1954 in fünf Wochen unter Hermann Leon mit Kontaktverbot nach Hause? Was geschah in den Jahren 1952, 1953? Weshalb erzählte man sich, dass er Priester werden würde? Ich muss damit leben, keine Gewissheit erlangen zu können.
In Berichten von Betroffenen begegnet mir eine Erkenntnis immer wieder: Es ist der zweite Missbrauch am Geschädigten, ihn für den Rest seines Lebens auf diesen Missbrauch zu reduzieren. Die Entdeckung des mutmaßlichen Missbrauchs war das fehlende Puzzlestück im Leben meines Vaters. Monatelang habe ich dieses Stück unter die Lupe gehalten, gedreht und gewendet. Nun ist es Zeit, das Teil an seinen Platz zu legen und auf das ganze Bild zu schauen. Mein Vater war so viel mehr. Er war unglaublich intelligent, belesen und gebildet. Er war geistreich und feinsinnig, konnte schlagfertig und witzig sein. Eine alte Freundin beschrieb ihn mit dem wunderbaren Adjektiv »verschmitzt«. Er war hilfsbereit und hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, war unkonventionell und unbestechlich. Vor allem aber war er ein liebevoller Vater. Vielleicht liegt darin seine größte Leistung: Trotz all seines Leids, trotz seiner grausamen Mutter erzog er mich frei von jeder Gewalt, liebevoll, liberal und fortschrittlich. Nie forderte er blinden Gehorsam ein. Schon als ich ein kleines Kind war, nahm er mich ernst wie eine Erwachsene.
Ich wusste immer, dass er mich über alles liebte. Auch sein Suizid änderte daran nichts. Diese Liebe ist sein Vermächtnis. Sie ist größer als seine Krankheit, stärker als seine Bitterkeit.