Nina Schick
Kurzbiographie der Nominierten in der Kategorie Reportage 2021
1975 in Heidelberg geboren. Sie studierte als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes Rechtswissenschaften in Konstanz, Cardiff und Hamburg. Nach dem ersten Staatsexamen in Jura absolvierte sie den Master-Studiengang Journalistik der Universität Mainz. Als freie Mitarbeiterin arbeitete sie für die Nachrichtenagentur AP und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2006 ging sie als Nachrichtenredakteurin zu FOCUS Online in München, wo sie von 2012 bis 2016 stellvertretende Nachrichtenchefin war. Seit 2016 arbeitet sie als freie Journalistin und macht in Teilzeit Öffentlichkeitsarbeit für das Bestattungsinstitut AETAS Lebens- und Trauerkultur und die AETAS Kinderstiftung.
Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
In diesem Fall muss man wohl sagen, dass es zuerst die Recherche gab und danach die Idee zum Artikel. Denn der Fund der Postkarten von 1954 und der Verdacht, dass mein 1994 durch Suizid gestorbener Vater als Jugendlicher missbraucht worden sein könnte, waren zunächst eine private Angelegenheit: Ich musste einfach für mich selbst herausfinden, wer der Postkartenschreiber war und ob es Hinweise gab, die meinen Verdacht bestätigten. Vorgegangen bin ich dabei von Anfang an wie bei einer beruflichen Recherche. Ich habe bei allen Gesprächen mitgeschrieben oder zumindest Gedächtnisprotokolle gemacht. Ein wesentlicher Unterschied war: Ich habe nicht „von außen nach innen“, also von etwas distanzierteren Gesprächspartnern zu den näher stehenden, recherchiert, sondern „von innen nach außen“: Zuerst habe ich möglichst nah an meinem Vater gesucht und mich von dort immer weiter nach außen gehangelt.
Nach einem Dreivierteljahr hatte ich den Postkartenschreiber identifiziert und erste Hinweise darauf, dass er ein Missbrauchstäter gewesen sein könnte. An diesem Punkt stand ich vor der Frage, ob ich aufhöre oder noch weiter recherchiere. Da klar war, dass der mutmaßliche Täter über Jahrzehnte mit unzähligen Jugendlichen Freizeiten in seinem privaten Anwesen veranstaltet hatte, wollte ich sehen, was noch alles über ihn ans Licht zu bringen war.
Nach einem weiteren Jahr hatte ich etliche Hinweise darauf zusammengetragen, dass der verstorbene Pfarrer Hermann Leon mutmaßlich ein Missbrauchstäter war, und stand zugleich vor einer Mauer des Schweigens im Bistum Mainz. Immer mehr sah ich in meiner privaten Geschichte gesellschaftliche Relevanz: ein mutmaßlicher Täter, der über Jahrzehnte ungestört und unkontrolliert wirken kann, die zynisch-einlullende Haltung der katholischen Kirche gegenüber Betroffenen, die Bedeutung von Missbrauch auch über Generationen hinweg.
Ermutigt von meinem Freund und Mentor Hans Holzhaider, schrieb ich meine Geschichte nieder und bot sie dem SZ-Magazin an.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie dabei?
Die Voraussetzungen zu Beginn meiner Recherche waren nicht besonders günstig: Mein Vater – tot, seine Mutter – tot, mein Onkel – Kontakt zu mir abgebrochen; zwei mehr als sechs Jahrzehnte alte Postkarten eines Unbekannten. Von den Orten des Geschehens in Baden-Württemberg war ich in München ebenfalls weit entfernt. Da ich auf eigene Faust recherchierte, musste ich mir die Zeit dafür mühsam aus den Rippen bzw. aus dem Familienleben schneiden. Im weiteren Verlauf der Recherche stand ich dann immer wieder vor einem katholischen Kirchenapparat, der mehr am äußeren Ansehen der Institution interessiert ist als an Aufklärung und am Wohlergehen der einzelnen Menschen. Außerdem scheuten viele meiner Gesprächspartner davor zurück, sich namentlich zitieren zu lassen. Immer wieder war die Furcht vor den angeblich zahlreichen glühenden Verehrern Hermann Leons zu spüren, die es heute noch geben sollte. Erstaunlicherweise hat sich nach Veröffentlichung des Artikels niemand von diesen Anhängern bei mir gemeldet.
Von wem und/oder wie wurden Sie dabei unterstützt?
Der pensionierte SZ-Redakteur Hans Holzhaider hat mich von den ersten Schritten an auf der Recherche begleitet. Vor Jahren hatte ich mit ihm das Mentoring-Programm des Bayerischen Journalisten Verbandes gemacht, der freundschaftliche Kontakt hatte sich erhalten. Hans war mein Mutmacher – vom ersten Blick auf die Postkarten („Da muss doch noch was rauszufinden sein“) bis zum Verfassen des Artikels („Jetzt schreib das halt alles mal auf“). Alle paar Monate setzten wir uns zusammen. Mit klarem Kopf und unerschütterlicher Zuversicht klärte er auch meinen Blick und gab mir immer wieder neuen Mut.
Ein Glücksfall war auch die Begegnung mit dem leider kürzlich verstorbenen Pfarrer Achim Zerrer in Karlsruhe. Er war absolut glaubwürdig um Aufklärung bemüht, nahm sich den Fall zu Herzen und forschte über meine Fragen hinaus in seiner Gemeinde aus eigenem Antrieb weiter.