Was war das für ein Rausch
von Susanne Lenz
Techno-Clubs wie der Tresor machten Berlin berühmt. Wegen Corona bleiben die Läden geschlossen, viele Betreiber bangen um die Existenz. Eine Club-Gängerin erinnert sich und spricht mit wichtigen Partymachern.
Wann ich meine erste Nacht in einem Club verbrachte, weiß ich nicht mehr. Es war Anfang der Neunziger, es war kalt, die Warteschlange lang. Der Club hieß Tresor, heute weiß ich, dass das der erste Techno-Club Berlins war. Erinnern kann ich mich an den Keller, diese niedrige Höhle, an das Wummern des Basses in meiner Brust, die harten Klänge, als stünde man in einem Maschinenraum, die Wärme, die Tänzer. Es war wild, und ich fand es ein bisschen unheimlich. Vielleicht war ich noch nicht lange genug in der Stadt, Ende 1987 war ich von Heidelberg nach Berlin gezogen.
In dem großartigen Oral-History-Buch „Der Klang der Familie“ über die Techno-Szene nach dem Mauerfall beschreibt Dimitri Hegemann, wie er und ein Freund sich im Sommer 1990 aus Kreuzberg kommend auf die Suche nach neuen Räumen in Ost-Berlin machten und diese Baracke an der Leipziger Straße ihre Aufmerksamkeit erregte. Wie sie sich den Schlüssel bei einem Hausmeister besorgten, mit der Auskunft, sie wollten dort eine Galerie mit Stehausschank eröffnen, ein dehnbares Zauberwort. Den Keller entdeckten sie dann erst, es war der Tresorraum des einstigen Wertheim-Kaufhauses an der Leipziger Straße. Er gab dem Club, der aus der Baracke entstehen sollte, den Namen. Dimitri Hegemann beschreibt den Moment so: „Als wir durch die offene Stahltür in den Tresorraum mit den rostigen Schließfächern gekommen sind, war uns allen sofort klar: Das war’s mit der Suche.“ Hegemann öffnete den Tresor im März 1991.
Weitere Namen waberten bald durch die Stadt: Planet, WMF, Bunker, E-Werk, Eimer. Viele waren nicht weit weg vom Mauerstreifen, die meisten östlich davon. Manche waren komplett illegal, viele bekamen dank ungeklärter Eigentumsverhältnisse und überforderter Verwaltungen befristete Mietverträge. Bis das Bauvorhaben startet, hieß es oft. Es gab die Räume, und es gab diese mit Computern gemachte Musik, die ihre Anfänge in Detroit genommen hatte, aber nun zum Wende-Sound wurde.
Ihr wichtigstes Element ist der Loop. Diese elektronischen Endlosschleifen passten gut zum Ende der Geschichte, das mit dem Mauerfall gekommen zu sein schien. Und alle, die etwa in „Klang der Familie“ zu Wort kommen, beschreiben die Clubs als Orte, an denen sich die jungen Leute aus Ost und West ganz nah kamen, die erste gesamtdeutsche Jugendkultur. Man spürte die Euphorie.
Von der Euphorie erzählt auch Oliver Marquardt, er war von Anfang an dabei. Als ich ihn vormittags anrufe, steht er in einer Schlange vor einem Café. Wie das war damals? „Es war ein Befreiungstanz.“
Oliver Marquardt ist 1969 in Ost-Berlin geboren, er prägt die Berliner Techno-Szene als DJ Jauche seit 30 Jahren. Man könnte sagen, dass er in den Startlöchern stand am 9. November 1989. Denn dass er später mal auflegen wollte, wusste er schon mit 14. Er verlor keine Zeit. In der ersten Woche nach dem Mauerfall kaufte er sich zwei Turntables, er machte den entscheidenden Plattenladen in Steglitz ausfindig: Pinky Records. Als er lange genug geübt hatte, zwei Schallplatten zusammen zu mixen, fing er an, eigene Partys zu veranstalten. Er legte in Jugendclubs auf, in besetzten Häusern oder in einem S-Bahnbogen. Mitte der 90er-Jahre stellte er seinen älteren Bruder bei eigenen Veranstaltungen an die Tür. Das ist Sven Marquardt, den heute alle als Türsteher vom Berghain kennen.
Der Mann, der ficken wollte
Ich selber kam erst Ende der 90er-Jahre richtig dazu, als die Loveparade noch auf dem Kurfürstendamm stattfand. Dann bin ich eine Zeitlang viel ausgegangen, war im WMF, das damals in der Johannisstraße in Mitte war, aber immer wieder umzog. Der ständige Ortswechsel war zu seinem Markenzeichen geworden. Zunächst war das kein Problem, denn es gab ja genug Platz.
Ich war im Ostgut, später im Berghain, im 103 und im Cookies an der Friedrichstraße, wo das Publikum schicker war und diese tollen Kronleuchter über dem Tresen hingen. Der beste Raum lag im hinteren Bereich, mit den Klos in der Mitte. Die normalen Leute versuchten sie dadurch fernzuhalten, dass sie nur dienstags und donnerstags aufmachten.
Es gibt Momente, die ich nie vergessen werde. Den Typen, der mir eines Sonntagsmorgens im Tresor „Ich will ficken“ entgegenrief, eine Art freundlicher Begrüßung. Denn es ging nicht um Anmache an diesen Orten, es ging ums Feiern. Als der DJ in der Panoramabar im Berghain „Everybody Dance“ von Chic spielte: „Dancing helps relieve the pain, Soothes your mind, makes you happy again.“ Und durch die Fensterläden sah man, dass es draußen langsam hell wurde. Oder als im Cookies im Morgengrauen Justus Köhnke erklang und ich mich fühlte, als ginge es um uns alle in diesem Raum: „Wir jagen die Monotonie, wir fliegen so weit wie noch nie.“ Es war und ist eine Form von Glück, die man erleben kann in dieser Gemeinschaft, mit der Musik, egal ob man tanzt oder sitzt, irgendwo herumliegt, sich küsst.
Von diesem Glück erzählt auch Oliver Marquardt an dem Morgen, als wir miteinander sprechen, denn als DJ ist er ja ein wichtiger Teil dieser Gemeinschaft: „Mit den Menschen zusammen etwas zu erzeugen und etwas zurückzubekommen“, sagt er. Es ist diese Zeit, die den Mythos Berlins begründet.
Hätte ich diesen Text vor drei Monaten geschrieben, hätte ich gesagt, dass das alles lange her ist, dass eine Zeitenwende stattgefunden hat, auch wenn es immer noch Clubs gibt in Berlin. Viele Räume sind bedroht, manche sind für immer verschwunden. Es war ein Zufall, dass ich am 17. April 2005 in Berlin war, ein Jahr zuvor war ich nach Manila gezogen. Aber an dem Tag konnten wir dabei sein, als eine Ära zu Ende ging: bei der letzten Party im Tresor.
Als wir am frühen Sonntagabend nach Hause wollten, hatte ich meinen Fahrradschlüssel verloren. Am Montagvormittag kam ich also mit meiner zweijährigen Tochter im Schlepptau und einem Bolzenschneider wieder. Aus dem Club kam Musik. Am Eingang stand immer noch ein Türsteher, aber ich hatte meinen Stempel ja noch auf dem Handrücken, und er ließ uns rein. Alle beide. Es standen ein paar Leute auf der Tanzfläche
Der letzte Abend
Es war immer schwer, bei diesen Partys das Ende zu finden, aber wahrscheinlich nie so schwer wie an diesem Tag. Dimitri Hegemann ergriff schließlich die Initiative. Er schob eine CD ein: „I love you“ von Juan Atkins. Als das Stück vorbei war, nahm er sie heraus und überreichte sie meiner Tochter: „Für den Nachwuchs.“
Die Stahltür des Tresors – sie haben sie damals mitgenommen ¬ steht seit vergangenem Jahr im Humboldt-Forum, die CD mit dem letzten Stück, das dort gespielt wurde, steht bei uns zu Hause im Regal. Der Tresor bezog 2007 einen neuen Raum im stillgelegten Heizkraftwerk an der Köpenicker Straße in Berlin-Mitte. Die Baracke an der Leipziger Straße 126a wurde abgerissen. Jetzt steht dort ein Bürogebäude.
Vor drei Monaten hätte ich geschrieben, dass der Wandel der Stadt sich im Wandel des Club-Lebens widerspiegelt. Dass auch für die Clubs die Mieten teurer werden, dass es weniger Autonomie gibt, mehr Regeln. Und dass die Berliner Clubs keine Orte mehr sind, an denen gesellschaftlich etwas wirklich Neues entsteht oder Bestehendes auch nur infrage gestellt wird.
Berlin ist seit mindestens zehn Jahren ein Anziehungspunkt für Club-Touristen aus aller Welt, die Szene hat sich verändert. Und die Clubs präsentieren sich selbst längst als Wirtschaftsfaktor, nummerieren die Umsätze, die die Stadt durch die Club-Touristen macht. Das ist irgendwie ernüchternd, auch wenn man versteht, dass das Teil ihres Überlebenskampfs ist.
Oliver Marquardt sagt, dass man zuletzt selten Berliner getroffen hat, er sagt auch, dass die Berliner Techno-Clubszene ohne den Party-Tourismus nicht in dem Ausmaß existieren würde. Dass es von dem, was er gut findet am Nachtleben, immer weniger gibt. Es sei von der inzwischen notwendigen Wirtschaftlichkeit erdrückt worden.
Oliver Marquardt spricht von Ausverkauf und davon, dass es auch in der Musik viel Schrott gibt. Aber nun sind die Clubs seit dem 12. März zu, das Wort Zeitenwende bekommt eine neue Bedeutung. „Das ist ganz komisch“, sagt er. „Auf einmal kann ich das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe, nicht mehr machen.“ Er hat zwei Platten aufgenommen in den vergangenen Monaten. Das sei das Einzige, was er tun kann, um zu zeigen, dass er noch da ist. Er ist DJ mit Herzblut, wie er sagt, es sei ihm nie ums Geld gegangen, aber jetzt geht es um die Existenz. Daran, dass wieder alles so wird, wie es war, glaubt er nicht.
80 Prozent der Gäste sprechen Englisch
Dimitri Hegemann erwische ich kurz vor einer Krisensitzung im Tresor am Telefon. Als wir am Abend dann länger telefonieren, erzählt er, dass sie im Tresor die Party zum 29-jährigen Bestehen absagen mussten. Sie hätte am 13. März stattfinden sollen, einen Tag, nachdem die Clubs zumachten. „Damals haben wir noch geglaubt, in zwei drei Wochen ist das vorbei.“ Damals wusste er noch nicht mal, was das ist, Kurzarbeit, jetzt sind seine eigenen Leute davon betroffen. 108 Menschen sind im Tresor fest angestellt. Klar, sie haben Rücklagen. „Aber sie schwinden schnell. Und wenn der Raum weg ist, ist auch der Club weg.“ Da ist es wieder, das Schwinden der Räume, das vor langer Zeit angefangen hat.
Er habe sich in die Uckermark zurückgezogen, sieben Wochen lang, habe Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ gelesen. Jetzt vermisse er den Subbass, das sind diese kleinsten hörbaren Frequenzen im Bass, die man eher fühlt als hört. „Der lässt die Kleider flattern am Körper.“ Er sagt: „Die letzten 30 Jahre, was war das für ein Rausch.“ Und es klingt so wehmütig. In manchen Momenten wird er düster. „Im Grunde ist das der Untergang der Nachtkultur“, sagt er. „Auch wenn das keiner gern hört.“ Nicht mal er selbst. Sie haben viel durchgespielt gedanklich für die Zeit der Wiedereröffnung, auch wenn keiner weiß, wann das sein wird. Einen Eingangstest vor dem Club könnte es geben, bei dem festgestellt wird: Ist jemand geimpft, hat jemand Temperatur. Das klingt nach Flughafen, nicht nach einem Ort des Rauschs.
Hegemann sagt selbst: „Der Zauber ist weg, Berlin hat einen Stich bekommen.“ Wenn sie überhaupt wieder anfangen. 80 Prozent ihrer Gäste hätten Englisch gesprochen. Die sind jetzt alle weg. Dann kommt wieder der Romantiker durch, die Hoffnung auf eine große Silvesterparty, darauf, dass Corona es sich noch mal überlegt. Darauf, dass die Bundesregierung einen Eurofighter weniger kauft und ihnen allen die Miete bezahlt. Dass alles nur schläft und nicht stirbt. So wie die Tresorkammer. „Die hat ja auch 40 Jahre lang geschlafen“, sagt Hegemann.
Mein letzter Club-Besuch liegt zwei Jahre zurück. Ich war nicht in Berlin aus, sondern im Bassiani in Tiflis. Der Club befindet sich im Keller des georgischen Fußballclubs Dinamo Tiflis, eine Katakombe mit verschlungenen Gängen. Es ist ein Ort, an dem ich die Aufregung und die Gemeinschaft gespürt habe, die ich aus Berlin kenne. Die Stadtverwaltung hatte den Bassiani nach einer Polizeirazzia zwei Wochen vor meiner Reise zugemacht. In derselben Nacht hatten Zehntausende vor dem Parlamentsgebäude protestiert, jetzt war er wieder offen. Der Club ist in diesem homophoben Land ein sicherer Ort für Schwule, ein Rückzugsort.
Der Bassiani wird manchmal das georgische Berghain genannt. Ich bin nicht sicher, worauf der Vergleich zielt, aber die Berliner Clubs als Botschaft zu verstehen, die an vielen Orten gehört wurde und nachhallt, ist wahrscheinlich nicht verkehrt. Den Bassiani gäbe es nicht ohne das Berghain. Das ist die andere, die mythische Bilanz des Berliner Nachtlebens. Auch der Bassiani ist derzeit geschlossen.