Unter Taliban
von Wolfgang Bauer
Sie werden gefürchtet – und verehrt. In Afghanistan stehen sie wieder kurz vor der Machtübernahme. Wolfgang Bauer konnte mit Genehmigung ihrer Führer tagelang durchs Land reisen.
Der erste Kontakt. Eine Stimme am Handy. Sie knarzt durch den Lautsprecher. Sie wirkt entschieden, aber auch jung, hell, beinahe verletzlich. Auf dem Weg gibt sie uns letzte Anweisungen. Vier Fahrstunden von Kabul entfernt, die Provinz Ghasni im Zentrum Afghanistans. Wir sind auf der Nationalstraße an den Ruinen zerstörter Armeestützpunkte vorbeigefahren, an den Wracks ausgeglühter Militärfahrzeuge. Über weite Strecken ist die Fahrbahn alle hundert Meter von Explosionskratern aufgerissen. Dann lässt uns die Stimme abbiegen, sie lotst uns immer weiter weg von der Nationalstraße. Immer tiefer in ein Land, in dem es nahezu keine Straßen gibt, nur Ziegenpfade. Die Reifen des Toyota drehen im Sand durch, der Wagen setzt auf Felsen auf. Wenig später, nach dem letzten Posten der Regierung, einer Festung auf einem Hügel, über dem die afghanische Flagge weht, bricht die Verbindung ab.
»Ist das der richtige Ort?«, fragt kurz darauf unser Fahrer. Angespannt warten wir auf einem Dorfplatz, er ist leer, das Dorf scheint verlassen. Unser Fahrer schaut auf das Telefon, das immer noch kein Signal anzeigt. Der Treffpunkt, der uns am Telefon genannt wurde: die erste Siedlung nach den Regierungslinien. Ein paar armselige Lehmhütten. Die Menschen sind schon vor Jahren aus Angst geflohen. Niemandsland. »Ich weiß nicht, ob wir hier richtig sind«, sagt der Fahrer noch einmal. Wir überlegen umzukehren, da treten plötzlich sieben bewaffnete Männer auf den Platz. »Friede sei mit euch«, sagt einer von ihnen mit der jungenhaften Stimme, die uns vom Telefon her vertraut ist.
Er lächelt, doch rasch verschwindet das Lächeln wieder. Nisar, so stellt er sich vor, ein Name, von dem er weiß, dass wir wissen, dass es nicht sein richtiger ist. Er wird für die nächsten Tage unser Begleiter sein. Wir, die Reporter des ZEITmagazins, haben diese Reise über Monate vorbereitet. Dennoch sind wir nervös. Wir begeben uns in die Hände derer, von denen wir bisher fürchteten, dass sie uns entführen könnten.
Westliche Journalisten haben sich aus Sicherheitsgründen stets nur für wenige Stunden bei den Taliban aufgehalten. Seit Jahren sind wir die ersten, die sich ihnen für mehrere Tage anvertrauen werden. Wir wollen über die berichten, die das mächtigste Militär der Welt mürbe gekämpft, die ein Land geschaffen haben, das auf keiner internationalen Karte offiziell verzeichnet ist, den Staat der Taliban. Die Taliban sind von vielen gefürchtet. Und doch werden sie verehrt, Menschen stürzen sich für sie in den Tod, lassen sich für sie foltern und einsperren. Die Taliban, die Hoffnung vieler.
Die Gotteskrieger kontrollieren im Herbst 2020 wieder etwa 80 Prozent der Fläche Afghanistans. Die Regierung von Präsident Aschraf Ghani ist zurückgeworfen auf die Provinzzentren und die Hauptstadt Kabul. Ein Reststaat, der immer weiter schrumpft. Die Taliban stehen bereits in den Vororten von Kabul. Die Flüchtlinge, die sich in den letzten Jahren aus den Provinzen in die Hauptstadt gerettet haben, drängen sich auf immer engerem Raum. Die USA ziehen ihre Truppen nach zwei Jahrzehnten ab. In den Behörden nimmt die Korruption entsetzliche Ausmaße an. Jeder versucht, für das Exil der eigenen Familie so viel Geld wie möglich ins Ausland zu bringen. Ein Staatsapparat kurz vor dem Zerfall. Es wird befürchtet, dass bald erste Armeeeinheiten überlaufen. In Doha verhandeln Delegationen von Regierung und Taliban seit Mitte September über einen Waffenstillstand – viele meinen: über eine Kapitulation.
Der junge Talib Nisar, schwarz gekleidet, schwarzer Turban, die Kalaschnikow über den Rücken geworfen, fährt mit seinem Motorrad voraus. Der Weg führt ins Gebirge, wird immer steiler, wir passieren die letzten grünen Felder, um uns nur noch nackter weißer Fels. Die Piste ist schmal in den Berghang gehauen. Ein Abgrund zur Talseite hin. Steine, die unsere Reifen losschlagen, fallen Hunderte Meter. An jeder Kehre wartet Nisar, eine zierliche Silhouette in Schwarz, Kehre für Kehre, bis zur Passhöhe auf knapp 3000 Meter.
Noch kurz vor Abfahrt drohten unsere Absprachen mit den Taliban zu scheitern. Die Kontaktaufnahme ist riskant. Groß ist das gegenseitige Misstrauen. Einige Journalisten, die ebenfalls geglaubt hatten, sich auf das Wort von Taliban-Kommandeuren verlassen zu können, wurden entführt. Das Gefühl, den Machtbereich der Regierung zu verlassen, gleicht dem eines völligen Kontrollverlusts. Als würden wir aus einem Raumschiff in die Schwerelosigkeit des Alls driften. Unsere einzige Garantie, nicht in den Steinwüsten verloren zu gehen, ist eine WhatsApp-Sprachnachricht. Unsere Rettungsleine: eine Stimme wieder, eine ältere jetzt. Die Stimme des Sprechers der obersten Taliban. Eine Audiobotschaft als Passierschein.
Die, die Westler wie uns sonst entführen, schützen uns jetzt – so hoffen wir. Um die Mittagszeit erreichen wir die Talebene jenseits des Bergmassivs. Hier herrschen die Taliban seit fast zehn Jahren uneingeschränkt. Raschidan heißt der Distrikt, relativ klein, aber strategisch bedeutend, weil er direkt an die Provinzhauptstadt Ghasni grenzt. Ein Dutzend Dörfer, eingebettet in einem grünen Streifen aus Feldern und kleinen Wäldern, der im Talgrund einem Flusslauf folgt. Sonst nur karges Land aus Staub und Steinen. Nisar will uns zum Distriktzentrum führen, das im Dorf Hussein Chel liegt. Hier befindet sich auch der Markt, dem noch die Spuren vergangener Kämpfe anzusehen sind. Nisar stoppt an der Highschool, die Schüler schauen neugierig aus den Fenstern. Eine Front aus 20 Männern mit schwarzen Turbanen steht vor dem Eingang. Sie warten auf uns.
»Ich begrüße euch in den Islamischen Emiraten«, sagt Maulawi Nasrat, der Taliban-Kommandeur von Raschidan. Sein Händedruck ist unsicher; zögernd umarmt er uns nach afghanischer Sitte. »Die Amerikaner und ihr, die Verbündeten der Amerikaner, habt unser Land angegriffen«, sagt er. »Wir haben nur unser Land verteidigt. Ihr habt uns diesen Krieg aufgezwungen.« Nasrat bittet uns hinein. Die Taliban setzen sich mit uns auf den Boden des Lehrerzimmers. Sie sind noch nie Journalisten aus dem Westen begegnet. Einige blicken mit Hass auf uns, andere, die meisten, so scheint es, mit Neugier.
Provinzräte haben sich in dem Raum versammelt, Richter verschiedener Gerichtshöfe, mehrere Abgeordnete der Sittenpolizei, die in den Dörfern die Einhaltung der vorgeschriebenen Bartlänge und der islamischen Kleiderordnung überprüft, der Erziehungsbeauftragte, der die Schulen beaufsichtigt, ein Steuereintreiber – ein Querschnitt der Bürokratie der Taliban, die sie in den letzten Jahren ausgeprägt haben. Die Regierung in Kabul ist in Raschidan längst Vergangenheit. »Schaut euch in unserem Distrikt um!«, sagt Nasrat, der Kommandeur, Anfang dreißig. »Redet mit den Menschen. Sie sind glücklich, weil wir uns an den Koran und die Scharia halten. Die Regierung in Kabul, die ihr Ausländer eingesetzt habt, huldigt der Korruption. Sie ist moralisch verdorben. Bei uns gibt es keine Korruption. Wir dienen Allah und lösen die Probleme der Leute.«
Niemand in Afghanistan hatte mehr mit den Taliban gerechnet. Sie waren vernichtend geschlagen. Die US-Streitkräfte hatten sie nach den Anschlägen in New York 2001 in nur wenigen Wochen in die Bedeutungslosigkeit gebombt. 20 Prozent aller Taliban-Kämpfer, besagen Schätzungen, kamen damals ums Leben. Der Rest floh nach Pakistan oder tauchte unter. Um zu verhindern, dass Afghanistan erneut von Radikalen beherrscht wird, entschloss sich die Weltgemeinschaft zu einer gigantischen Anstrengung. 50 Staaten entsandten Soldaten und Entwicklungshelfer. Tausend Milliarden Dollar wollen allein die USA investiert haben. Am Beispiel Afghanistan sollte bewiesen werden, dass es möglich ist, ein Land zum Guten zu wandeln und dem Bösen zu entreißen. Den Bösen: den Taliban.
Ihre Anfänge liegen im Dunkeln. Mythen umranken ihren Gründer, Mullah Mohammed Omar, der im Kampf gegen die Sowjets in den Achtzigern ein Auge verloren hatte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2013 existierte nur ein einziges Foto von ihm. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1992 lehrte Omar in der Nähe von Kandahar in einer Moschee. Das Land war in die Hände Hunderter Warlords und deren Kämpfer, der Mudschahedin, gefallen, organisiert in Dutzenden verschiedener Allianzen, die sich gegenseitig bekriegten. Die blutigsten Jahre des Bürgerkriegs. Afghanistan versank in Anarchie. Anfang des Jahres 1994 entführte ein lokaler Warlord zwei Mädchen, schor sie kahl und hielt sie auf seinem Stützpunkt fest, wo sie vergewaltigt wurden. Omar rief seine 30 Koranschüler zusammen, die »Taliban«, denn Talib heißt schlicht »Schüler«. Sie bewaffneten sich mit 16 Gewehren, zogen zum Haus des Warlords, kämpften die Mädchen frei und hängten den Warlord am Kanonenlauf eines Panzers auf.
Die Geschichte der Taliban, die die Welt später als eine Bewegung kennenlernen sollte, die die Frauen eines ganzen Landes unterdrückte, begann mit der Befreiung von Frauen. Immer mehr Menschen suchten danach Mullah Omar auf, um seine Hilfe bei Übergriffen der Warlords zu erbitten. Schüler anderer Koranschulen schlossen sich ihm an. Monate später kontrollierten sie ganze Provinzen, am Ende des Jahres hatte Mullah Omar 12.000 Anhänger. Bald nannte er sich Amir-al Mu’min, »der Führer der Gläubigen«. Bald floss ihm auch Geld zu. Mudschahedin-Fraktionen gaben ihm Geld, in der Hoffnung, die Taliban gegen ihre Gegner instrumentalisieren zu können. Pakistan, das im Kampf gegen die Russen die Mudschahedin unterstützt hatte, gab Geld, um sie besser kontrollieren zu können. Die Taliban starteten in Afghanistan als Heilsbringer. Es schien, als seien sie die Kraft, die diesem zerrissenen Land endlich, nach 25 Jahren Krieg, den Frieden bringen könnte.
Doch sie brachten nur einen weiteren blutigen Krieg. Seit nunmehr 42 Jahren gibt es in Afghanistan keinen Frieden.
»Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt«, sagt Nasrat, der Kommandant in Raschidan. Früher hätten sie einen Distrikt erobert und einen der Kämpfer zum Gouverneur gemacht. »Die wussten nicht, wie sie mit der Bevölkerung umgehen sollen«, sagt er. »Das ist jetzt anders. Wir haben viele Experten.« Unsicher schaut er immer wieder auf Nisar, der an seiner Seite Platz genommen hat. Der junge Talib, der uns abgeholt hat, wurde von der Schura, dem Zentralrat der Taliban in Pakistan, als unser Begleiter abgeordnet. Er trägt Kajal um die Augen, was in der paschtunischen Kultur vor bösen Blicken schützen soll. 23 Jahre ist er erst, zum Vollbart reicht es noch nicht. Nasrat, der ihn um einen Kopf überragt, zehn Jahre älter, raue Hände, ist einer, der Kärrnerarbeit gewohnt ist, ein Bauer, der zum Revolutionär wurde. »Wir haben so viele Experten«, sagt Nasrat, der Kommandeur, »dass wir ganz Afghanistan verwalten können. Wir kennen jetzt die Welt.«
»Sag ihnen doch«, ermuntert Nisar ihn, »dass wir der Bevölkerung jetzt besser zuhören.« – »Wir hören stärker auf das, was die Menschen wollen«, sagt Nasrat. »Wie wäre es«, schlägt Nisar vor, »wenn du ihnen sagst, dass wir Frieden haben werden, sobald alle ausländischen Truppen abgezogen sind.« Nisar gibt die Antworten vor, offen und unverhohlen. Er gehört der Medienabteilung der Taliban an. Sie betreiben Radiostationen in den meisten Provinzen, bringen Zeitungen heraus, bestücken Social-Media-Plattformen. Männer wie Nisar sind die junge Elite der Taliban. Sie sind technologisch der Moderne zugewandt und filmen junge Selbstmordattentäter, bevor diese sich in Menschenmengen in die Luft sprengen.
Das Symbol ihres Sieges thront auf einer Anhöhe über dem Dorf. Nasrat und Nisar verlassen die Schule, queren zu Fuß den Markt. Offiziell gehört er der Regierung, doch schon lange zahlen die Händler ihre Pacht den Taliban. Es gibt drei Apotheken, mehrere Mechaniker, die vor allem die Motorräder der Taliban instand setzen, Lebensmittelhändler, einige Schneider. Von 250 Läden sind 50 geöffnet. Nur wenige Männer trauen sich, keinen Vollbart zu tragen, nur wenige tragen hier keinen Turban. Der neue Dresscode der Taliban, der der alte ist. Der Bart nicht länger, nicht kürzer als eine Faust, so wie ihn schon der Prophet trug. Krämer und Kunden schauen uns nach. Sie wissen nicht, ob wir Geiseln sind oder Gäste.
Dann stehen wir vor den Wällen des Distrikthauptquartiers, einer Festung hoch über dem Tal. »Das war mein größter Sieg«, sagt Nasrat, als er durch das Tor tritt. Eine Ruine nur noch. Im Innenhof wächst Gras. Die Umfassungsmauer ist an mehreren Stellen eingestürzt, die beiden Hauptgebäude sind von Explosionen aufgesprengt. Es ist acht Jahre her, dass Nasrats Gruppe die Anlage stürmte. Drei Panzer hätten sie damals zerstört und 46 Polizisten getötet. Die Spuren der letzten Verzweiflung: Die Fenster der Gebäude sind mit Lehm verschlossen, die gebrochenen Mauern mit Sandwällen verstärkt. »Schaut euch an, wie sie ihre Gefangenen behandelt haben«, sagt Nasrat und zeigt uns ein ausbetoniertes Loch im Boden des Innenhofs. Dort unten hätten die Polizisten verdächtige Dorfbewohner vegetieren lassen. »Das verletzt die Menschenrechte«, sagt Nasrat, verschweigt dabei aber, dass auch die Taliban ihre Gefangenen in Viehställe und Höhlen sperren. Die Deutungsmacht der Sieger. Auf dem Dach weht die Taliban-Flagge, weiß mit dem schwarzen Schriftzug: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammad ist sein Prophet«.
Nur ein einziger Raum der Anlage ist noch intakt geblieben. Eine nackte, kahle Kammer, Bastmatten auf dem Boden. Das ist jetzt unser Hauptquartier, sagt Nasrat, was aber nicht stimmt. Aus Angst vor Drohnenschlägen halten sich die Taliban selten lange in einem Gebäude auf. So auch auf unserer Reise. Die Begegnungen sind kurz. Sie haben es eilig. Sie kommen auf einem Dutzend Motorräder, allein Nasrat als Kommandeur fährt einen Wagen, dann zerstreut sich die Gruppe, alle fahren in unterschiedliche Richtungen, ohne zu sagen, wohin und wann genau wir sie wiedersehen. Nachts sind wir uns selbst überlassen. Niemand bewacht uns. Trotzdem, so sind wir uns sicher, wird Nasrat über alle unsere Bewegungen informiert. In den Nächten fällt fast völlige Dunkelheit über das Gebirgstal. Die nächste öffentliche Stromversorgung in der Provinzhauptstadt Ghasni ist 88 Kilometer entfernt. Unser erster Gastgeber, der etwas wohlhabender ist als seine Nachbarn, besitzt als einzige Stromquelle eine Autobatterie, die von einem Solarpanel auf dem Dach gespeist wird. Zwei Glühbirnen gleichzeitig kann es versorgen.
Im Schutz der Nächte reden wir mit Bewohnern der Dörfer. Andere, um sie nicht zu gefährden, treffen wir nach der Reise in der Sicherheit Kabuls. Wir wollen wissen: Wie lebt es sich wirklich unter den neuen Taliban?
Ein Mann um die 40, gebildet, geboren in Raschidan:
In den ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban-Regierung hatte niemand gedacht, dass es wieder Krieg geben würde. Wir waren optimistisch. Alle waren müde, sogar unsere lokalen Taliban waren müde. Sie waren zu ihren Familien zurückgekehrt und wurden wieder Bauern. Sie kämpften nicht gegen die Regierung. Am Anfang waren die Taliban auch nicht gegen die internationalen Hilfsorganisationen, die bei uns im Tal Brücken und Bewässerungskanäle bauten. Aber heute sind fast alle gegen die Regierung. Die Regierung brachte wieder die Gewalt zu uns. Sie kamen in unser Tal und jagten frühere Taliban. Dann kamen die Ausländer. Nachts kamen sie mit Helikoptern und verhafteten Leute in ihren Häusern. Sie haben viele Unschuldige verhaftet.
Die Regierung und die Ausländer hörten nur auf Kommandant Chalil. Er hatte hier in den Neunzigerjahren als Warlord die Macht und musste dann vor den Taliban fliehen. Jetzt kam er mit den Amerikanern zurück. Chalil ist kein guter Mann, das war er früher nicht, das ist er heute nicht. Er hat sehr viel Land gestohlen. Er brauchte nur jemanden zu beschuldigen, bei den Taliban gewesen zu sein, dann musste der mit seiner Familie fliehen. Und Chalil hat das Land bekommen. In einem Dorf wollte er so viel Land rauben, dass die Einwohner zu den Waffen griffen. Sie wollten sich gegen den Dieb verteidigen. 15 Menschen sind dabei gestorben. Die Regierung hat dann nicht den Dieb verhaftet, sondern die, die sich gegen ihn wehrten. Deshalb sind hier die meisten für die Taliban. Die Regierung hat uns die Hilfsorganisationen geschickt, aber mit Chalil haben sie uns unser Land weggenommen.
Die Wiedergeburt der Taliban vollzog sich fast überall nach einem ähnlichen Muster. Der Westen hatte die alten, in der Bevölkerung oft verhassten Warlords zurückgebracht. Männer, die ihr Leben lang nichts getan hatten, als zu kämpfen, die Jahrzehnte des Krieges mit insgesamt 1,5 Millionen Toten verrohen ließen. Sie bildeten die Stützpfeiler der neuen Regierung unter Hamid Karsai, die der Westen mit vielen Milliarden unterstützte. Während die Warlords in den Provinzen die Macht übernahmen, blieb die Zentralregierung zu schwach, um sie zu kontrollieren. Die Warlords ließen sich ins Parlament wählen, kauften sich politische Ämter, wurden Gouverneure, Minister oder Generale der neuen Armee. Ihre Söhne gründeten Firmen, die lukrative Aufträge von der US-Armee bekamen, von der Nato und vielen Entwicklungshilfe-Organisationen. Sie zahlten keine Steuern, erdrückten im Land durch Gewalt und Korruption die Konkurrenz, horteten Immobilien im Ausland.
Schon 2002 versuchten die Taliban, sich neu zu organisieren, doch sie scheiterten. Die meisten Afghanen lehnten sie ab, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit Karsai, und verrieten sie an Amerikaner und Regierungstruppen. Im Exil, in den großen Flüchtlingslagern Pakistans, zerfielen die Taliban in drei verschiedene Fraktionen, in drei Schura. Eine Schura gründete sich in Quetta, die von Teilen der alten Taliban-Elite geführt wurde. Eine zweite bildete sich in Peshawar. Eine dritte Schura, die radikalste, entstand in Miran Shah. Hier diktierte ein Familienclan die Politik, Hakkani, ein Name, der bald gefürchtet sein sollte, weil die Hakkanis die größten Ausbildungscamps für Selbstmordattentäter in Afghanistan unterhielten. Bis zum Jahr 2015 sollen die Hakkanis 1160 Selbstmordattentäter eingesetzt haben, von denen 843 »erfolgreich« ihre Mission abschlossen.
In dem Maße, in dem im Laufe der Jahre in der Bevölkerung die Enttäuschung über die Regierung wuchs, erstarkten die Taliban. Die Schura in Quetta dominierte in den ersten Jahren. Dann war es die Schura in Peshawar, dann wieder, bis heute, Quetta. Die Kämpfer der drei Taliban-Schura bekämpften sich mitunter und nahmen sich Territorien ab. Pakistan, so die Analyse internationaler Konfliktforscher, begann 2004 mit 20 Millionen Dollar jährlich wieder seine Zahlungen an die Aufständischen. Es steigerte die Zahlungen dann auf bis zu 500 Millionen Dollar im Jahr. Pakistan ist in der Region in einer Zwickmühle. Nichts fürchtet das Land so sehr wie ein Bündnis zwischen seinen Nachbarn Afghanistan und Indien. Afghanistan fordert die paschtunischen Gebiete in Pakistans Westen – von den Briten einst Pakistan zugeschlagen. Indien fordert einen Teil Kaschmirs im Norden. Seit seiner Gründung 1947 ist Pakistan vom Zerfall bedroht. Ein von den Taliban regiertes Afghanistan, von dem keine Gefahr ausgeht, weil ganz und gar abhängig, würde das Ende der pakistanischen Existenzangst bedeuten.
Nasrat und Nisar erwarten uns am nächsten Morgen wieder an dem von ihnen eroberten Distrikthauptquartier. »Wir zeigen euch, wie wir Frieden schaffen«, sagt Nisar. In dem einzigen intakten Raum hat sich an diesem Vormittag eine Gruppe von Männern versammelt. Das Distriktgericht der Taliban. Der Vorsitzende Mawlawi Schaker sitzt an der Stirnseite der Kammer, auch er erst 26 Jahre alt. »Erwähn Pakistan nicht«, sagt ihm Nisar flüsternd, aber doch gut hörbar, als Schaker erzählen will, in welcher Koranschule er studiert habe. »Ich habe in Ghasni studiert«, sagt er dann, dunklen Kajal um die Augen auch er. Vor ihm: zwei Händler, von denen der eine dem anderen Geld geliehen hat. Der Gläubiger behauptet, umgerechnet 800 Euro gegeben zu haben, der Schuldner sagt, es waren nur 520 Euro. »Hast du Zeugen?«, fragt Schaker. Hat er nicht. »Hast du Zeugen«, fragt er den anderen. Hat er auch nicht. Der Schuldner spielt WhatsApp-Nachrichten ab, in denen der Gläubiger ihn bedroht. Sie brüllen sich an, bis Schaker sagt: »Genug.«
Er nestelt an der Plastiktüte mit seinen Unterlagen, die er auf seine Kalaschnikow gelegt hat, und holt einen Vordruck hervor. Ein Streifen Papier mit dem Logo der Taliban und dem Briefkopf: »Provinz Ghasni, Distrikt Raschidan Distrikt, Zivilverwaltung«. Er schreibt wenige Zeilen auf das Blatt und überweist den Fall an das Provinzgericht. Die werden eine Lösung finden, sagt er, als die beiden Männer die Ruine verlassen haben. Vermutlich werde die nächste Instanz einen Kompromiss zwischen den beiden moderieren. »Sogar Leute aus den Regierungsgebieten kommen mit ihren Streitfällen zu uns. Dort müssen sie viel Geld zahlen und bekommen trotzdem nicht ihr Recht. Dort wird kein Fall gelöst. Wir lösen die Fälle.« Was in Afghanistan noch wichtiger ist als anderswo, weil hier aus Streit schnell Blutfehden werden.
Im Kampf der Taliban gegen die Regierungsallianz ist das ihre wichtigste Waffe: die Scharia-Gerichte. Auch sie sprechen nicht immer dem das Recht zu, der recht hat, aber sie sprechen Recht, sie fällen Urteile, sie setzen sie durch. Ganz anders in den Regierungsgebieten: Dort nehmen Richter häufig von beiden Parteien hohe Geldsummen, beide Parteien haben das Gefühl, in einem Sumpf aus Bestechung und Bedrohung festzustecken. Die Richter ändern ihre Urteile nach Gunstzuweisung, schieben Urteile lange auf und sind dann aber nicht in der Lage, sie durchzusetzen.
Als wir das ehemalige Distriktzentrum auf der Anhöhe verlassen, ist plötzlich ein Surren über uns. Das Geräusch einer Drohne, die das Tal auf der Suche nach Zielen kreuzt. Die Mehrheit der Taliban- Kommandeure, die in den vergangenen Jahren getötet wurden, wurden Opfer von Drohnenangriffen. Nasrat und Nisar heben den Kopf, doch sie sehen sie nicht. Tarnfarben machen das Gerät am Himmel fast unsichtbar. Für einen Moment bleiben sie stehen, dann entfernt sich das Surren.
Die Taliban zeigen uns am Basar die kleine Klinik, die auch die einzige Klinik des Distrikts ist, zuständig für etwa 42.000 Einwohner. Der Block aus rohen Natursteinen wurde vor 16 Jahren von der Entwicklungshilfeagentur USAid gebaut, ein verblasstes Schild am Eingang zeugt noch davon. Der Direktor, der uns begrüßt, sieht bei jedem Satz auf Nisar. »Wir haben nichts, um die Menschen vor Corona zu schützen. Wir haben keine Masken und keine Handschuhe.« Zum Glück sei der Distrikt bislang nahezu verschont geblieben, mit nur einem positiven Fall. Die schlimmste Plage sei die Cholera. »Von 100 Menschen haben 20 Cholera.« Das Wasser sei schlecht. Die Bäder in den Lehmhäusern sind noch traditionell. Es gibt dort für den Haushalt nur eine einzige Vertiefung aus Lehm, in der Klo und Waschstätte nebeneinanderliegen. Die Brunnen in den Dörfern führen in letzter Zeit immer weniger Wasser. Es gibt keine Abwasserkanäle.
»Ich weiß es nicht«, sagt Nasrat auf die Frage, wie er die Armut im Tal lindern will, wenn der Krieg erst mal gewonnen ist. Er würde eine neue Moschee bauen und eine neue Koranschule. Aber danach? Nasrat überlegt lange, dann sagt er: »Ich bin ein Kämpfer, ich habe mein Leben lang gekämpft. Ich habe keinen Plan für danach.«
Heute verabschieden sich Nasrat und sein Stab bereits am frühen Nachmittag. Sie müssen sich vorbereiten für einen Angriff auf eine Polizeistation im Zentrum der Provinzhauptstadt Ghasni, wie wir später erfahren. Die Operation wird zu einer weiteren Demütigung der Regierung. Drei Polizisten sterben. Die Taliban stürmen den Posten, erbeuten Gewehre und Panzerfäuste und entkommen, angeblich ohne Verluste.
In der Nacht hören wir Explosionen. Wir steigen auf das Flachdach unseres Hauses und lauschen in die Dunkelheit. Weit entfernt, am Ende des Tales, schlagen Granaten ein. Offenbar, wird uns am nächsten Morgen erzählt, feuert die Artillerie der Regierung ziellos in die Dörfer, in denen sie die Taliban vermutet, aus Rache.
Auch in dieser Nacht reden wir mit Bewohnern. Wir treffen einen älteren Mann, ebenfalls aus Raschidan.
Die Taliban sagen, sie haben bei uns alles unter Kontrolle, aber das stimmt nicht. Anfang August ist ein Lehrer ermordet worden. Unbekannte haben ihn am helllichten Tag aus seinem Haus verschleppt und ihn in den Feldern erschossen. Manche sagen, er habe Familienstreitigkeiten gehabt. Andere sagen, es seien die Taliban gewesen. Auch unter den Taliban gibt es schlechte Menschen. Insgesamt aber ist es viel sicherer als auf der Regierungsseite. Wir alle sind froh, dass die Taliban das Distrikthauptquartier erobert haben. Wir haben sehr gelitten unter den Polizisten. Die haben wild in das Tal hineingeschossen. Die haben auf Bauern geschossen, die wegen der Trockenheit zur Bewässerung nachts auf die Felder sind. Sie haben zwei Kinder getötet, die Schafe gehütet hatten. Die Regierung hatte uns Usbeken und Hasara als Polizisten geschickt. Die verabscheuen uns. Es war so schlimm, dass alle weit um das Distriktzentrum herumfuhren, auch der Markt war fast ganz verlassen. Seitdem die Taliban wieder da sind, gibt es keine Kämpfe mehr. Die Händler kommen zurück, und das Leben wird etwas besser.
Die meisten bei uns im Tal unterstützen die Taliban immer noch nicht. Sie schweigen nur. Sie warten ab. Unsere jungen Männer, die bei den Taliban sind, waren auf Medressen, Koranschulen, in Pakistan. Bei uns im Tal haben wir vier Medressen. Ihre Lehrer wurden auch alle in Pakistan ausgebildet. Die Eltern bei uns sind glücklich, wenn ihre Söhne auf die Medressen gehen können. Die Taliban wählen nur die Besten aus. Die Jungs kommen mit sieben Jahren auf die Koranschulen. Sie schlafen dort auch. Wir haben auch staatliche Schulen. Neulich hat die Highschool Laptops bekommen, aber die Taliban haben sie alle in ihre Medresse gebracht. Die Koranschulen sind bei uns jetzt besser ausgestattet als die staatlichen Schulen. Es gibt dort das bessere Essen. Die Schüler lernen auf den staatlichen Schulen fast nichts. Die Lehrer da sind zu schlecht. Die aber, die auf die Medresse gehen, können schon bald sehr gut lesen und schreiben.
Der Himmel scheint am nächsten Tag frei von Drohnen. Seit die USA ihre Stützpunkte auflösen, hat die Zahl der Luftschläge deutlich abgenommen. Die afghanische Luftwaffe ist über die Jahre schwach geblieben. Die Militärhilfe des Westens hatte sie klein gehalten, mit wenig Flugzeugen und Munition ausgestattet. Aus Sorge offenbar, dass afghanische Generale sie eines Tages zu hemmungslos gebrauchen würden. Nisar ruft an und bittet, das Gespräch beim Mittagessen fortzusetzen. Der Ort: das Haus eines wohlhabenderen Bauern. Nasrat und sein Stab, 25 Männer, sitzen im Gästeraum, einem aus Lehm gemauerten Gewölbe. Das Essen ist für die Gegend üppig, viel Fleisch. Nasrat und seine Männer logieren in den Häusern stets kostenlos; die Dorfbevölkerung muss für ihren Unterhalt aufkommen.
»Was soll ich sonst noch sagen?«, beugt sich Nasrat zu Nisar. – »Sag ihnen, dass wir jetzt vereinigt sind und wir alle Ethnien repräsentieren.« – »Wir haben Angehörige aller Stämme in unseren Reihen«, sagt Nasrat. »Wir haben kein Problem mit irgendeinem dieser Stämme.« Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat aus neun Nationalitäten. Der Urquell der Gewalt. Immer wieder neu ist der afghanische Bürgerkrieg aufgrund von Konflikten zwischen den Ethnien ausgebrochen. Entgegen ihrer eigenen Propaganda gehören alle Taliban, die wir auf dieser Reise treffen, nur der einen an, der größten, den Paschtunen.
Das Tal von Raschidan markiert die Grenze zwischen zwei Völkern, die seit Jahrhunderten in Feindschaft leben. Unten, in den Flussauen, wo der Boden am fruchtbarsten ist, siedeln die Paschtunen. Ein Volk, das über Jahrhunderte die Könige Afghanistans stellte. In den kargen Hängen über dem Tal, von da bis weit in die Berge, wohnen die Hasara. Sie stammen von den Mongolen ab. Die Paschtunen sind Sunniten, die Hasara, wie die Iraner, Schiiten. Schon die paschtunischen Könige führten Feldzüge gegen die Hasara, plünderten ihre Dörfer, erlegten ihnen härteste Steuern auf, ließen sie verarmen, töteten Zehntausende. Nie waren Hasara und Paschtunen zu einem Staat zusammengewachsen. Die Taliban in den Neunzigerjahren setzten die Unterjochung der Hasara fort. Keine Volksgruppe hat 2001 den Sturz der Taliban so sehr begrüßt wie die Hasara.
Droht jetzt, nach dem Abzug der USA, beiden Völkern eine neue Tragödie? Wir erhoffen uns Antworten im Nachbardistrikt Nawur, der fast ausschließlich von Hasara bewohnt und seit Jahren von den Taliban beherrscht wird.
Die Wege dorthin werden noch schlechter, die Hauptstraße, die quer durch Nawur verläuft, ist eine Schneise aus weißem Staub, Kalkstein, in Jahren zermahlen von den Reifen schwerer Lastwagen. Die Dörfer wirken fast unbelebt. Mehr als 80 Prozent der Einwohner seien in den vergangenen Jahren ins Ausland geflohen, wird uns gesagt, die meisten der Arbeit wegen, vor allem in den Iran. Drei Millionen Afghanen sollen dort mittlerweile leben. Die Geflohenen schickten Geld an die Gebliebenen, doch das wurde in letzter Zeit immer weniger. Im Iran grassiert die Wirtschaftskrise.
Kurz bevor die Straße zwischen den Felswänden in einer Schlucht verschwindet, ist in den Hang eine Schule gebaut. Eine Schule, wie es sie eigentlich im Reich der Taliban nicht geben dürfte. »Kommen Sie herein«, begrüßt uns der Rektor nach kurzer Verhandlung. Die Bibi Seinab Highschool. 150 Mädchen sitzen hier in sechs Klassenzimmern. Die Taliban dulden den Unterricht bis zur zwölften Klasse, weil die Schülerinnen Hasara sind. Im paschtunischen Raschidan dürfen Mädchen, wenn überhaupt, nur bis zur sechsten Klasse zur Schule, weil, so die Taliban, die Eltern es so wollten. Vielen paschtunischen Familien ist Bildung für Mädchen suspekt. Die Frauen sollen zu Hause mithelfen, früh heiraten. Junge Frauen bringen mehr Brautgeld.
Die Schülerinnen tragen in Nawur keine Burka, nur Kopftuch. »20 Prozent unserer Absolventinnen«, sagt der Rektor stolz, »besuchen die Universität.« Die meisten studierten in Ghasni Medizin oder lernten Krankenschwester. In der Schule gibt es keine Heizung, viele Fenster haben keine Glasscheiben, im Winter fällt daher der Unterricht aus. Ein Schulbuch muss oft für drei Mädchen reichen. Der Rektor, der die Schule wenige Monate nach dem Fall der Taliban gegründet hat, ist ein alter Mann, dicke Brillengläser, gebeugter Rücken, und doch strahlt er, wenn er über seine Schule spricht.
Bisher hätten die Taliban nur bemängelt, dass das Gebäude zu dicht an der Hauptstraße stehe und nicht mit einer Mauer umgeben sei. Die Mädchen seien so ungeschützt den Blicken vorbeifahrender Männer ausgesetzt. Dazu wird in der Schule die Hälfte aller Fächer von Männern unterrichtet, nicht von Frauen. Fast alle Mädchenschulen hatten die Taliban in den Neunzigerjahren aus diesen Gründen geschlossen. Ob er sich Sorgen mache, was aus seiner Schule werde, wenn die Taliban ganz die Macht übernähmen, fragen wir. Der Rektor schaut zu Boden, sieht dann wieder auf und sagt: »Die Welt hat uns vergessen.«
Der Weg, dem wir folgen, führt in eine enge Schlucht, zu beiden Seiten ragen Felswände auf. Der Himmel verengt sich. Der Taliban-Kommandeur von Nawur hat uns einbestellt, Mawlawi Ahmadi. Eigentlich hatte er uns mit Nasrat in Raschidan treffen sollen, doch er erschien nie. Es heißt, er meide den Abgesandten von Quetta, Nisar. Die Frage, die nicht nur wir uns stellen: Wie vereinigt sind die Taliban in Wahrheit?
Als Treffpunkt hat Ahmadi ein Dorf in einem abgelegenen Talkessel festgelegt. Schwere Regenfälle, die im Sommer in ganz Afghanistan katastrophale Erdrutsche auslösten, haben die Piste dorthin halb zerstört. »Das Tal des Wasserfalls« heißt der Ort. Dünne Luft. Ein Dutzend Lehmhäuser, die sich unter einer wuchtigen 700 Meter steilen Felswand ducken. Die Gipfel über dem Dorf erreichen fast die 4000-Meter-Marke.
Ein kleiner Junge kauert im Schatten eines Hauses. Im Ort ist sonst kein Mensch zu sehen. Der Junge begrüßt uns nicht. Ernst schaut er auf uns. Nach einer Stunde erscheint Ahmadi, in Begleitung von zwei Leibwächtern. »Seht, wie schön unser Land ist«, sagt er jovial zur Begrüßung. Ahmadi, Mitte dreißig, weißer Turban, schwarzer Vollbart, hat nichts vom Bäuerlichen eines Nasrat oder vom Eifernden eines Nisar. Sein Vater, der Mullah in Raschidan gewesen sei, habe ihn als Kind früh auf die Medresse geschickt. Ahmadi redet leise, wägt seine Worte. Seine Stimme bleibt samtweich, selbst wenn er Hartes ausspricht. Der Idealtypus des islamischen Gelehrten, wie ihn auch Osama bin Laden zelebrierte.
Er führt uns in die kleine Moschee des Bergdorfs. Ein karger Raum mit Teppich. Vier, fünf Dorfälteste, Hasara, zeigen sich nun ebenfalls, zögernd, sie setzen sich dazu. Ihre Körper sind ausgezehrt, die Wangen hohl. Ein sehr schwieriger Distrikt, sagt Ahmadi, der als Paschtune über lauter Hasara herrscht. Er zählt auf: 125.000 Einwohner insgesamt und 75.000 unter seiner Kontrolle. Die Regierung halte nur das Distriktzentrum, sechs Stunden von hier. »Aber wir arbeiten daran, das zu ändern«, sagt er. Vor Kurzem habe er die Gipssteinbrüche erobert, die wichtigste Einnahmequelle im Distrikt. Die Minenbesitzer zahlten jetzt Steuern an die Taliban.
Der Krieg ist für die Taliban fast gewonnen, so scheint es, aber wie wollen sie den Frieden gewinnen? Afghanistans Armut wird auf Dauer jede Ordnung sprengen. Das weiß Ahmadi. Er hat Pläne für seinen Distrikt. »Wir sollten die Minen modernisieren«, sagt er. Er will im Tal einen Damm bauen, um mehr Felder zu bewässern. Er will die Straßen ausbauen – nur, gesteht er, hat er kein Geld dafür. »Wir möchten, dass die ausländischen NGOs zurückkommen. Wir garantieren ihre Sicherheit. Eine Zeit lang werden wir noch von ihnen abhängig sein«, sagt er. »Sie dürfen zurückkommen. Aber wir werden nicht um sie betteln.«
In einer Gesprächspause, in der Ahmadi kurz den Raum verlässt, bitten uns die Ältesten, ihn auf ihre Not anzusprechen. »Sagt ihnen, dass sie uns helfen sollen. Die Regenfälle haben die Straße zerstört. Sie haben viele Felder weggespült. Unsere Ernten sind zerstört.« Ahmadi, der bisher mit den Ältesten kein Wort gewechselt hat, überhört unsere Frage mehrfach, dann erklärt er: »Wir haben kein Geld. Alles, was wir tun können, ist, Hilfsorganisationen zu ermuntern.«
Hilfe erhofft sich Ahmadi auch von den Flüchtlingen in Deutschland. »Unter ihnen sind viele Experten. Sie brauchen wir beim Aufbau unseres Landes.« Ihnen werde nichts geschehen. Die allerdings, die Verbrechen aufseiten der Regierung begangen hätten, erwarteten schwere Strafen. »Die kann ich nicht mehr Afghanen nennen.« Er dankt staatsmännisch Deutschland für die Aufnahme der Flüchtlinge, wirft den Deutschen aber auch vor, mit ihrer Armee in Afghanistan viel Unheil angerichtet zu haben. Die Soldaten hätten Unschuldige getötet. Noch sei es zu früh, um diesen Soldaten zu vergeben. »Ich spüre noch Hass gegen sie. Ja, ich hasse sie.«
Es ist Mittag in der Moschee geworden, und die Ältesten bitten Ahmadi, ob sich die zehn Gäste zum Essen nicht zu zweit auf verschiedene Familien aufteilen könnten. Um die Last für jeden einzelnen Gastgeber erträglich zu halten. »Nein«, winkt Ahmadi ab, »wir essen in der Moschee.« So müssen trotz der Not die Ältesten allein die Gäste versorgen. In der kommenden Woche werden ihre Familien kaum etwas essen, weil die Vorräte mit dieser Bewirtung erschöpft sind. Schweigend sehen sie uns und den Taliban bei der Mahlzeit zu.
Zum Abschied lädt uns Ahmadi zu Schießübungen hinter dem Dorf ein. Wir lehnen höflich ab, doch Ahmadi sucht etwas Entspannung. Er geht mit uns zum Wasserfall, dem Ursprung einer heiligen Quelle, die psychische Krankheiten lindern soll. Einer der Leibwächter schießt mit einer amerikanischen M16, einem Sturmgewehr, das er vor anderthalb Jahren von einem US-Soldaten erbeutet haben will. »Erst habe ich ihn erschossen, dann habe ich ihm seine Waffe genommen«, grinst er. Der zweite Leibwächter erzählt davon, dass sie vor ein paar Tagen die Freilassung eines ihrer Kämpfer gefeiert hätten. Die afghanische Regierung, unter Druck der USA und militärisch schwach wie nie, hatte in diesem Jahr 5000 inhaftierte Taliban freilassen müssen. Einer davon stammt aus dieser Gegend, erzählt der Leibwächter. Er war 2004 verhaftet worden, als er in Ghasni eine 29- jährige Französin ermordet hatte, Bettina Goislard, eine Mitarbeiterin des UN-Flüchtlingshilfswerks. »Wir haben seine Rückkehr bis lange in die Nacht gefeiert.«
Die Grasnarbe hoch oben im Felsen, die sie sich als Ziel gewählt haben, trifft bei den Schießübungen keiner der drei.
Die Nacht verbringen wir wieder unten in Raschidan. Wieder hören wir den Erzählungen eines Dorfbewohners zu.
Bis vor zwei Jahren waren die Taliban bei uns sehr streng. Sie haben uns auf der Straße angehalten und uns nach Smartphones durchsucht. Du darfst nur normale Handys haben. Wenn du einer von ihnen bist, erlauben sie dir ein Smartphone für das Internet. Jetzt sind sie entspannter geworden. Aber es kommt immer darauf an, wer gerade ihr Kommandeur ist. Ahmadi war früher sehr streng, mit Nasrat konnte man immer reden. Am schlimmsten ist es, wenn Taliban von außerhalb zu uns kommen. Wir holen dann unsere Satellitenschüsseln vom Dach und stellen sie in den Hof. Sie würden uns schlagen und mit Äxten die Schüsseln zerstören. Warum schaut ihr die Kanäle der Ungläubigen, sagen sie.
Die Taliban haben sich sehr verändert. Sie werden korrupter. Seit Kurzem haben alle von ihnen neue Mopeds. Viele von ihnen haben zwei, drei Frauen und schicken ihre Familien nach Ghasni oder Kabul. Bei uns leiden am meisten die Bewohner, die nah bei den Moscheen leben. Die Taliban übernachten dort in großen Gruppen, und die Nachbarn müssen sie versorgen. Sie sagen, wir kämpfen gegen die Ungläubigen, und was macht ihr? Ihr wollt uns nicht einmal zu essen geben? Ein großes Problem sind die Zwangshochzeiten. Die Familien können nicht ablehnen, wenn ein Taliban-Führer eine ihrer Töchter heiraten will. Sie nutzen unsere Not aus. Das ist bei uns ein Tabu, die Leute reden nicht darüber.
Die Not bei uns ist immer größer geworden. In den letzten Jahren fiel nur noch wenig Regen. Wir können nur ein Drittel der Felder bewässern. Es gibt im Iran keine Arbeit mehr. Unsere Verwandten dort schicken uns nur noch wenig Geld. Viele Familien haben keine Möglichkeit, um die Brautsteuer zu zahlen. Es gibt 90 Prozent weniger Hochzeiten als noch vor zwei Jahren. Die Väter der Mädchen verlangen zu viel Geld. Sie sind zu gierig. Früher wollten sie in unserer Gegend im Schnitt 10.000 Euro. Wir haben mit den Taliban geredet, und vor anderthalb Jahren ließen sie von den Moscheen verkünden, dass der Brautpreis nicht höher als 3500 Euro sein darf. Aber das ist immer noch zu viel. Die Taliban weigern sich, die Summe noch stärker zu reduzieren. Es gibt hier so viele Paare, die weglaufen und nach Kabul gehen.
Die Taliban interessieren sich nicht wirklich für uns. Die interessieren sich nur für sich selbst. Mit ihnen ist es schon fast wie mit den Warlords. Wir sind verloren. Wir wissen nicht, was besser ist, die Regierung der Warlords oder die Taliban.
Lange Jahre schien in Afghanistan keine Seite für sich militärisch einen entscheidenden Vorteil erringen zu können. Die drei Schura der Taliban begannen sich zu bekämpfen. Pakistan verhaftete den Führer der Quetta-Schura, Mullah Baradar, angeblich, weil der Friedensgespräche mit Kabul wollte – und Pakistan nicht. Sein Nachfolger Achtar Mohammed Mansur begab sich auf die Suche nach alternativen Geldquellen. Er fand sie, so zeigen zahlreiche Studien, im Drogenschmuggel. Unter ihm entwickelte sich Afghanistan wieder zu einem der weltweit wichtigsten Anbaugebiete von Opium. 2014/15 sollen sich für die Quetta-Schura die Einnahmen aus dem Drogenhandel auf 285 Millionen Dollar belaufen haben. Prekär wurde die Lage für die Regierung in Kabul, als neben Pakistan auch der Iran begann, die Taliban zu unterstützen. Je bedrohlicher die USA gegenüber dem Iran agierten, desto mehr intervenierte er in Afghanistan. Im Jahr 2012 gründete sich im iranischen Maschhad eine eigene Schura, die Maschhad-Schura. Mit der Hilfe des Irans waren die Taliban in der Lage, weite Teile des Nordens in Afghanistan zu erobern. Studien zufolge hat der Iran seine Zuwendungen an die Taliban von 30 Millionen Dollar im Jahr 2006 auf 190 Millionen im Jahr 2013 erhöht. Was aber nicht ausschließt, dass der Iran gleichzeitig mit Millionen die Regierung in Kabul unterstützt. Auch dort will er seinen Einfluss nicht verlieren.
Die Taliban brandmarken die Regierung in Kabul als Mündel des Auslands. Tatsächlich sind sie in einer ähnlichen Lage. Viele Kräfte ziehen an ihnen. Früher zogen diese Kräfte in verschiedene Richtungen. Jetzt teilen sie offenbar das gleiche Ziel – für den Moment: den westlichen Einfluss in Afghanistan zu minimieren. Mit der besser koordinierten Hilfe von außen konnten sich die Taliban auch nach innen straffer organisieren. Bei den Friedensverhandlungen in Doha präsentieren sie sich als eine Front. Doch niemand weiß, wie lange diese Einheit halten wird. Schon desertieren Gruppen zu einer noch radikaleren Organisation, die den Krieg weiterführen und nicht an den Grenzen Afghanistans haltmachen will, dem »Islamischen Staat«.
Am Morgen des fünften Tages brechen wir kurz nach Sonnenaufgang aus Raschidan auf. »Seid vorsichtig«, sagt Nisar, der uns bis an die Grenzen des Taliban-Territoriums begleitet. »Die Regierung hat bei uns viele Spione.« Wir wollen vermeiden, auf der Rückfahrt von übereifrigen afghanischen Sicherheitskräften verhaftet zu werden, als Unterstützer der Taliban. Nisar fährt mit seinem Motorrad voraus, auf Wegen, von denen er weiß, dass sie nicht kontrolliert werden. Er schmuggelt uns durch die Vororte nach Ghasni, mühelos an allen Straßensperren vorbei, so wie die Taliban es immer machen, wenn sie die Stadt attackieren. Wir winken uns zu, dann ist er wieder im Staub der Pisten verschwunden.
Die Zukunft Afghanistans ist wieder völlig offen. Die meisten Beobachter rechnen mit einem baldigen Scheitern der Friedensverhandlungen. Die Verwundungen sind nach den Jahren des Krieges auf beiden Seiten tief. Viele Taliban-Kommandeure wollen nicht auf einen Teil der Macht verzichten, wenn sie sie doch vielleicht ganz haben können. Aber auch sie drohen sich zu verkalkulieren. Die Millionenstadt Kabul einzunehmen würde blutiger als der Kampf in den Dörfern. Kabul zu halten könnte noch schwieriger werden. Zu sehr ist die afghanische Gesellschaft in ihren Wertvorstellungen auseinandergedriftet. Das, was sie verbindet, ist das, was sie trennt. Die Versehrungen. Die Trauer. Der Hass. Die Aussöhnung der Afghanen mit sich selbst wird Zeit brauchen, Zeit, die das Land nicht hat.
Abermals sehen wir auf der Rückfahrt nach Kabul die Überreste einer fast geschlagenen Armee, der Armee einer Regierung, die bis vor Kurzem die Hoffnung des Westens war. Eine schier endlose Abfolge ausgebrannter Wracks und gestürmter Militärposten. Ein 170 Kilometer langes Trümmerfeld. Die Einwohner der Dörfer haben damit begonnen, mit Lkw den Lehm der alten Festungswälle abzutransportieren, um ihn als Baumaterial zu verkaufen.
»Wie hat es dazu kommen können?«, fragt an einem unserer letzten Tage in Kabul ein hochrangiger afghanischer Diplomat. Es ist ein schöner lauer Abend. Er hat eine Gruppe von Abteilungsleitern aus verschiedenen Ministerien auf seine Terrasse geladen. Das Buffet ist gefüllt mit den köstlichsten Speisen. Mit Rotweingläsern in der Hand lauschen die Beamten angestrengt in die Nacht. Irgendwo in der Nachbarschaft wird schwer gekämpft. Die Schießereien halten seit Stunden an. Die Terrasse mit dem Buffet wird immer wieder von Kampfhubschraubern überflogen. Die Beamten rufen hektisch ihre Kontakte bei den Sicherheitskräften an. Doch die sprechen von einer Schießübung. Sie wollen keine Panik. »Wir sollten jetzt gehen«, sagt einer der Gäste. »Ich habe Angst, dass bald alle Ausfallstraßen blockiert sind.« Es sei doch noch viel zu früh, klagt da der Gastgeber. »Bleibt noch.« Es sei noch nicht die Zeit, um zu gehen.
Hinter der Geschichte: Erst nach monatelangen Verhandlungen gewährte der Oberste Militärrat der Taliban den Besuch unserer Reporter. Unterstützt wurden sie dabei vom britischen Filmemacher Najibullah Quraishi, der seit Jahren über die Taliban berichtet und auf dieser Reise als Übersetzer dabei war.