Wolfgang Bauer
Kurzbiographie des Nominierten in der Kategorie Reportage 2021
Geborener Hamburger. Jahrgang 1970. Im äußersten Norden und Süden Deutschlands aufgewachsen. Zeitsoldat, Kriegsdienstverweigerung. Abitur auf dem Abendgymnasium, währenddessen Fremdenführer, Postbote, Müllsortierer. In Tübingen studiert. Das Studium der Islamwissenschaft begonnen, später Geographie und Geschichte. Das Schreiben gelernt beim „Schwäbischen Tagblatt“ (Tübingen). Seit 2011 bei der „Zeit“ Reporter der „Zeit“-Chefredaktion.
Autor von „Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht“, Suhrkamp, 2014, „Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas“, Suhrkamp, 2016, „Bruchzone. Krisenreportagen“, 2018, Suhrkamp. Wohnhaft in Reutlingen, Heimat der Mürbeteigmutschel.
Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
Jede neue Krise in Afghanistan hat bei uns in Deutschland eine neue Flüchtlings-Generation entstehen lassen. Dieses Jahr ziehen ‚wir‘ uns aus Afghanistan zurück, aber damit werden wir uns nicht freimachen können vom afghanischen Unglück. Deutschland und Afghanistan bleiben miteinander verbunden. Wer verstehen will, warum so viele Menschen aus Afghanistan fliehen, muss die Taliban verstehen. Jeder kennt ihren Namen, und doch weiß man so wenig über sie. Das wollte ich ändern.
Wir haben bei der Recherche mit zwei Teams gearbeitet. Das erste, unter der Führung eines britisch-afghanischen Filmemachers, arrangierte die Kontakte zur Taliban-Führungsspitze. Leider reicht es nicht, das Ok der Taliban-Leitung zu bekommen. Viele Kommandeure in den Distrikten folgen ihren Oberen nicht und verfolgen ihre eigenen Geschäfte. Zur Abklärung dieses Risikos haben wir vier Stringer in unterschiedliche Provinzen unter Talibankontrolle geschickt. Sie trafen dort lokale Taliban-Kommandeure, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob wir, die Reporter aus Europa, bei ihnen und ihrer Gruppe sicher sein würden. Als dann feststand, welchen Distrikt wir besuchen würden, hatte das zweite Team die Aufgabe, Kontakte zu einzelnen Bewohnern dort herzustellen. Ich wollte mich mit ihnen, unbeaufsichtigt von den Taliban, ohne Druck, über die Lage vor Ort unterhalten. Um so zu erfahren, wie der Staat der Taliban denn wirklich ist. Auch das zweite Team arbeitete dafür mit einer Abfolge von Mittelsleuten, bei denen einer für den anderen garantierte, bis wir endlich das Vertrauen der Dorfbewohner erhielten. Die Teams wussten zwar, dass wir so vorgingen, aber das eine Team kannte nicht die Zusammensetzung des anderen Teams, aus Sicherheitsgründen für alle Beteiligten.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie dabei?
Das Ok der Taliban zu bekommen, so gut wie möglich sicherzustellen, dass wir nicht von denen entführt würden, über die wir berichten wollten, beim Frontenwechsel nicht von übereifrigen Geheimdienstleuten der Regierung verhaftet zu werden, während der Recherche auf Talibangebiet nicht die Aufmerksamkeit der Kampfdrohnen der Regierungsstreitkräfte auf uns zu ziehen, unterwegs nicht von der allgegenwärtigen Mafia behelligt zu werden. Vor Ort dann das richtige Dosieren von Nähe und Distanz. Welche Nähe zu den Talibankommandeuren gefährdet uns, welche Distanz schützt uns und umgekehrt. Und natürlich die Technik unseres Wagens, für genügend Reservereifen und einen funktionierenden Wagenheber zu sorgen.
Was macht für Sie persönlich guten Journalismus aus?
Dass er Menschen zum Nachdenken bewegt. Sie zum konstruktiven lustvollen Streiten bewegt. Dass er - im Zeitalter der vermaledeiten Clickmessungen - nicht nur die immer gleichen Themen ausstellt. Dass er unsere kulturellen Blasen aufsticht. Dass er bitteschön nicht borniert daherkommt.
Was braucht ein herausragender Artikel?
Was eine gute Reportage braucht? Fakten, die echt und wahr sein sollten, so gut es geht, aber auch eine Sprache, die versucht, echt und wahr zu sein, so gut es geht.