Wie gut ist der Mensch?
von Wolfgang Uchatius
Menschen morden, foltern, führen Kriege. Aber sie riskieren auch ihr Leben, um andere zu retten, verschenken Geld und teilen ihr letztes Hemd. Das ist weniger widersprüchlich, als es scheint.
In diesem Artikel geht es um das Gute auf der Welt und darum, woher es stammt, und deshalb könnte man zum Beispiel mit dem Jakobusbrief des Neuen Testaments beginnen, in dem es heißt, alles Gute komme von oben, also vom lieben Gott, aber das wäre jetzt, kurz vor Weihnachten, vielleicht zu naheliegend. Stattdessen könnte man mit einem kleinen Jungen anfangen, der vor vielen Jahren in der niederbayerischen Stadt Passau einem anderen Jungen das Leben rettete. Oder mit einem kanadischen Wissenschaftler, der herausfinden wollte, ob schon Babys, die ihre Zeit im Wesentlichen damit verbringen, zu schlafen, zu essen und ihre Windel zu füllen, das Gute vom Bösen unterscheiden können.
Alle drei, der liebe Gott, der kleine Junge und der kanadische Wissenschaftler, werden in diesem Artikel eine Rolle spielen, allerdings erst später. Für den Anfang besser geeignet ist ein Wesen, das weder Gott noch Mensch ist, dafür aber ziemlich spitze Zähne hat. Es ist ein Vampir.
Die gute Fledermaus
Gemeint ist nicht die untote Sagengestalt, sondern die Vampirfledermaus, Desmodus rotundus, denn die gibt es wirklich. Ihr Körper ist knapp zehn Zentimeter lang, sie hat ein pelziges Fell, haust in Felshöhlen und hohlen Bäumen Mittel- und Südamerikas, und genau wie Graf Dracula mag sie kein Sonnenlicht. In der Nacht flattert die Vampirfledermaus hinaus in die Dunkelheit. Lautlos. So jedenfalls wirkt es auf uns Menschen. In Wahrheit macht sie einen ziemlichen Lärm. Die Schreie der Vampirfledermaus sind so laut wie Rasenmäher, wir können sie nur nicht hören, weil die Frequenz der Schallwellen zu hoch ist.
Die leise, laute Fledermaus also fliegt vorbei an von der Nacht geschwärzten Bäumen und Hügeln, überquert Felder und Wiesen, und irgendwann entdeckt sie unter sich eine Kuh. Oder ein Wildschwein. Einen Hirsch vielleicht, ganz egal, denn das sind gleichermaßen Beutetiere, denen die Vampirfledermaus mit ihren winzigen Zähnen durch das Fell hindurch die Haut aufritzt wie mit einer Rasierklinge, und dann fließt Blut. Nicht viel, das Opfer bemerkt den Angriff oft gar nicht, aber die Fledermaus leckt das Blut auf, Tropfen für Tropfen, und dann ist sie satt und fliegt nach Hause. Wenn sie Glück hat.
Hat sie Pech, findet sie in dieser Nacht keine Kuh, und auch kein Wildschwein, keinen Hirsch. Sie kommt dann zurück an ihren Schlafplatz, den sie sich mit Dutzenden, manchmal Hunderten anderen Fledermäusen teilt, und ist immer noch hungrig. Sie hat sich bewegt, hat Energie verbraucht, ohne neue Energie aufzunehmen, und deshalb sieht es jetzt nicht gut aus für sie. Als einziges Säugetier der Welt ernährt sich die Vampirfledermaus ausschließlich von Blut, das aber hält nicht lange vor. Zwei, drei Nächte ohne Blut erträgt sie. Dann muss sie trinken. Sonst verendet sie.
Einer erfolglosen Fledermaus bleibt also scheinbar nichts anderes übrig, als entkräftet in ihre Höhle zurückzukehren und zu sterben, aber das geschieht nicht, oder nur sehr selten. Sehr oft beginnt stattdessen ein bemerkenswertes Schauspiel: Die hungrige Fledermaus flattert hinüber zu einer Fledermaus, die in den Stunden zuvor Beute gefunden und Blut getrunken hat, die jetzt also satt ist, und dann leckt sie ihr übers Maul. Unter Fledermäusen ist das vermutlich ein Zeichen, es heißt so viel wie: Bitte hilf mir.
Und tatsächlich beginnt die satte Fledermaus nun zu würgen, ihr Magen krampft sich zusammen, ein Teil des frischen Bluts kommt wieder nach oben, die Speiseröhre hinauf und hinaus aus dem Maul, damit die hungrige Fledermaus es trinken kann.
So rettet die satte Fledermaus der hungrigen das Leben.
Es gibt heute 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, leben unterschiedliche Leben in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen, glauben an unterschiedliche Götter und manchmal an gar keinen. In einem aber, das belegen Studien, sind sich die Angehörigen fast aller Kulturen einig, nämlich darin, was ein guter Mensch ist.
Gut ist, wer einem anderen hilft. Wer das Leben des anderen höher schätzt als den eigenen Nutzen, die eigene Sattheit, die eigene Bequemlichkeit, zumindest für einen Moment. Gut ist ein Mensch, der selbstlos handelt.
So wie die Vampirfledermaus. Oder wie das Erdhörnchen. Entdeckt ein Erdhörnchen einen Feind, einen Falken zum Beispiel oder einen Marder, dann springt es nicht sofort in seinen Bau, obwohl es dort am sichersten wäre. Stattdessen wartet es ab, richtet sich auf und stößt Warnschreie aus, damit auch die anderen Erdhörnchen, mit denen es in einer Kolonie zusammenlebt, auf den Feind aufmerksam werden.
Oder wie die Schwanzmeise. So wie manche Menschen keine Kinder haben, gibt es auch Schwanzmeisen, die keinen Nachwuchs bekommen. Sie könnten ihren Tag damit verbringen, sich ein paar leckere Raupen und Schildläuse zu suchen, und ansonsten ihr Leben genießen. Stattdessen sammeln sie mehr Raupen und Schildläuse, als sie fressen können, und verfüttern sie an fremde Schwanzmeisenküken, um deren Eltern zu entlasten.
Es gibt zahllose solcher Beispiele, man findet sie bei Elefanten und Meerkatzen, bei Ameisen und Spechten – bei Säugetieren, Vögeln, Insekten. Das Reich der Tiere ist kein Reich der Gewaltlosigkeit. Tiere jagen, Tiere töten. Mit ihren Artgenossen aber scheinen sie oftmals freundschaftlich zusammenzuleben, auf eine Weise, wie die Menschen es sich von jeher ersehnen.
Der böse Mensch
Seit Menschen schreiben können, beschreiben sie das Ideal der Uneigennützigkeit, in Mythen, Märchen und religiösen Texten. Das älteste erhaltene literarische Dokument überhaupt, das 4000 Jahre alte Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien, erzählt die Wandlung des Gilgamesch, Herrscher über die sumerische Stadt Uruk, vom egoistischen Tyrannen zum gütigen, seinem Volk dienenden König.
Einer der wichtigsten Verse im Metta-Sutta, einer Lehrrede des Buddha, die aus dem 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus stammen soll, lautet: »Wie eine Mutter ihr einziges Kind mit ihrem Leben behütet und beschützt, so möge ich für alle Wesen in unbegrenzter Liebe sein!«
Das 3. Buch Mose, das nach allem, was man weiß, Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus verfasst wurde, allerdings nicht von Moses, enthält das Postulat »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, das zur Essenz des Christentums werden sollte.
Vom Propheten Mohammed ist, aus dem 7. Jahrhundert nach Christus, der Satz überliefert: »Keiner von euch hat den Glauben erlangt, solange ihr für euren Nachbarn nicht liebt, was ihr selbst liebt.«
Im Sterntaler-Märchen der Brüder Grimm, verfasst im 19. Jahrhundert, schenkt ein Waisenkind einem hungernden Mann sein letztes Stück Brot und frierenden Kindern sein Leibchen, sein Röcklein und sein Hemdchen, sodass es selbst nackt und ohne Besitz im dunklen Wald steht. Da fallen die Sterne als blanke Taler vom Himmel, und das Mädchen sammelt sie auf.
Wenn der Mensch dem Menschen ein Freund ist, wird die Welt von ihrem Leid geheilt, das war die große Hintergrunderzählung aller Kulturen zu allen Zeiten. Während im Vordergrund das Blut floss.
In Mesopotamien zerstörte König Mursilis die Städte Aleppo und Babylon. In Griechenland metzelten die Griechen die Perser nieder, und die Perser die Griechen. In China vernichtete die Armee des Staates Qin die Armee des Staates Zhao. In Rom ließ Kaiser Nero die Christen von Löwen zerreißen und auf eisernen Stühlen rösten. In Palästina eroberten die Kreuzritter Jerusalem und massakrierten seine Bewohner. Im Osmanischen Reich befahl Sultan Süleyman, seinen erstgeborenen Sohn zu erdrosseln. In England gelang die Enthauptung der schottischen Königin Maria Stuart erst beim dritten Hieb, weil der Scharfrichter zunächst den Hinterkopf traf. In Frankreich wurde auf Anregung des Arztes Joseph-Ignace Guillotin die Guillotine entwickelt, um Hinrichtungen effizienter zu gestalten. Und die Gräueltaten Hitlers, Stalins, Maos und Pol Pots standen da erst noch bevor.
Wie kann es sein, dass die Menschen so anders sind als die Vampirfledermäuse, die Erdhörnchen und die Schwanzmeisen? Warum tun die Menschen den Menschen so viel Böses an?
Weil dem Menschen der Krieg aller gegen alle angeboren, er also von Natur aus schlecht ist, schrieb der englische Philosoph Thomas Hobbes im Jahr 1642.
Weil die Zivilisation den Menschen verdorben hat, der eigentlich von Natur aus gut ist, schrieb der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau im Jahr 1755.
Hobbes stand unter dem Eindruck des Englischen Bürgerkriegs, außerdem hatte er Schilderungen über das Leben der Indianer gelesen.
Rousseaus Quelle waren Reiseberichte über »wilde Völker«, wie er sie nannte. So lief Wissenschaft damals.
Die Macht der Natur
Dann, im Februar 1871, also vor ziemlich genau 150 Jahren, veröffentlichte ein englischer Naturforscher ein Buch, in dem er sich unter anderem mit der interessanten Tatsache beschäftigte, dass Menschen ihre Ohren nicht bewegen können. Pferde können das, Wölfe auch, genauso Löwen, viele Affen und zahllose andere Tiere, sie drehen und wenden ihre Ohren wie Satellitenschüsseln und fangen Geräusche ein, sie haben dafür spezielle Muskeln. Dem Menschen fehlen diese Muskeln, er hat sie irgendwann verloren, vielleicht hat er sie auch gar nicht erst ausgebildet. Sicher ist, dass er sie nicht benötigt hat für das, worauf nach Ansicht des Naturforschers jegliche Existenz ausgerichtet ist: den Kampf ums Überleben.
Der Naturforscher ist Charles Darwin, sein Buch heißt Die Abstammung des Menschen. Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau war Darwin um die Welt gereist, fünf Jahre lang. Er hatte Pflanzen und Skelette ausgegraben, Vögel gefangen, das Leben von Ureinwohnern studiert und das Buch Die Entstehung der Artenveröffentlicht, in dem er darlegte, dass alles Leben auf der Erde in einem evolutionären Prozess aus einer gemeinsamen Urform erwachsen ist. Jetzt, in seinem neuen Werk, beschrieb er, wie auch der Mensch – einst ein Affe – sich durch natürliche Auslese entwickelt hat, so wie alle anderen Tiere.
Auf diesem langen Weg waren jene Urmenschen im Vorteil, die aufrechter gingen als die anderen und deshalb ihre Hände besser einsetzen konnten. Die im Verhältnis zum restlichen Körper längere Beine hatten und deshalb schneller laufen konnten. Die weniger Fell hatten und deshalb in der Hitze Afrikas ausdauernder jagen konnten. Und: die sich mehr für das eigene Wohl interessierten als für das Wohl ihrer Artgenossen. Die nicht selbstlos waren, sondern rücksichtslos und deshalb mehr zu essen bekamen. Sie waren es, die am Leben blieben, die sich fortpflanzten und ihre Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergaben, sodass sich diese Eigenschaften immer mehr verbreiteten, bis sich schließlich, über Jahrmillionen, die gesamte, damals noch sehr kleine Gattung Homo verändert hatte.
Darwin selbst drückte es so aus: »Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verraten, wie es gar mancher Wilde getan hat, der wird oft keine Nachkommen hinterlassen, welche seine edle Natur erben können.«
Aufrechter Gang. Kein Fell. Eigennützig. Das also ist der Mensch, so hat ihn die Biologie gemacht.
Darwin, so schien es, lieferte die naturwissenschaftliche Bestätigung von Hobbes’ Vermutung. Und wie alle Revolutionäre der Wissenschaft inspirierte Darwin zahlreiche Gelehrte dazu, seine Forschung fortzuführen, seine Gedanken weiterzudenken.
1894 schrieb der britische Biologe Thomas Huxley in seinem Buch Evolution und Ethik, das Gute stehe im Gegensatz zu dem, was im Existenzkampf zum Erfolg führt.
1963 legte der österreichische Verhaltensforscher und spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz in seinem Buch Das sogenannte Böse dar, der Mensch besitze von Natur aus einen »übertriebenen Aggressionsdrang«.
1976 formulierte der britische Biologe Richard Dawkins in seinem Buch Das egoistische Gen: »So gern wir auch etwas anderes glauben wollen, universelle Liebe und das Wohlergehen einer Art als Ganzes sind Begriffe, die evolutionstheoretisch gesehen einfach keinen Sinn ergeben.«
Wenn der Mensch aber ein Tier unter Tieren ist, wie kann es dann sein, dass er von Natur aus schlecht ist, die Vampirfledermaus jedoch gut, genau wie das Erdhörnchen und die Schwanzmeise?
Schon Darwin war die Uneigennützigkeit vieler Tiere rätselhaft; das Phänomen, so schrieb er, sei womöglich »tödlich für die gesamte Theorie«.
Erst spätere Naturforscher fanden eine Erklärung: Erdhörnchen sind gar nicht so selbstlos. Ja, sie warnen ihre Artgenossen, aber vor allem dann, wenn es sich dabei um ihre Kinder, Eltern, Geschwister oder Halbgeschwister handelt. In Erdhörnchen-Kolonien, deren Mitglieder größtenteils von außen eingewandert sind, also nicht miteinander verwandt sind, geht es dagegen ziemlich still zu.
Die Schwanzmeisen füttern nur die Küken von Familienangehörigen, andere würden sie verhungern lassen. Und auch die Vampirfledermäuse helfen mit ihren Blutspenden meist Blutsverwandten, manchmal auch anderen, aber nur dann, wenn diese ebenfalls ihre Nahrung teilen; sie praktizieren nicht selbstlose Hilfe, sondern eine Art Langstrecken-Egoismus: Ich helfe dir heute, wenn du mir morgen hilfst.
Die vermeintlich altruistischen Tiere verhalten sich in Wahrheit eigennützig. Ihr Ziel, so die Erkenntnis der Wissenschaft, ist, ihre Gene weiterzugeben, und das schaffen sie, indem sie entweder selbst möglichst lange leben und viele Nachkommen haben oder indem sie ihren Verwandten helfen, die dieselben Gene in sich tragen.
Gute Tiere? Fischotter entführen die Kinder anderer Otter und geben sie nur gegen Futter wieder frei. Marienkäfer fressen Marienkäfer. Pavianmännchen töten die Kinder anderer Männchen, um die zugehörigen Weibchen in eine erneute Brunft zu treiben. Ein Verhalten, das für mehr als 100 Tierarten dokumentiert ist, unter ihnen Gorillas, Löwen, Flusspferde, Hamster und Lachmöwen, wobei Letztere die Kinder nicht nur töten, sondern auch fressen. Delfinmännchen vergewaltigen, oft zu fünft oder zu sechst, einzelne Weibchen. Schimpansen führen regelrechte Kriege gegeneinander, den Angehörigen gegnerischer Gruppen beißen sie die Hoden ab, reißen ihnen die Haut vom Leib, fressen ihr Fleisch.
Die Tiere sind auch nicht besser als die Menschen.
Und damit könnte dieser Artikel schon zu Ende sein, der dann kein Artikel über das Gute, sondern einer über das Böse wäre. Wenn es auf der Welt nicht Ereignisse wie jenes gäbe, das sich am 13. Januar 1982 an der amerikanischen Ostküste abspielte.
Der letzte Mann im Wasser
An diesem Tag fegt ein Wintersturm über die amerikanische Hauptstadt Washington. Schwerer, nasser Schnee fällt, legt sich auf Häuser und Straßen und auf die Boeing 737 von Air-Florida-Flug 90 mit dem Ziel Fort Lauderdale, an Bord 79 Menschen, unter ihnen Arland Williams, ein Mitarbeiter der amerikanischen Zentralbank.
Williams, 46 Jahre alt, zwei Kinder, geschieden und neu verlobt, will ein paar Tage in der Wärme Floridas verbringen. Es ist 15.59 Uhr, mit eindreiviertel Stunden Verspätung hebt die Boeing ab, steigt nach oben, aber nur langsam, sie schafft nur hundert Meter Höhe. Später wird sich herausstellen, dass der Pilot es versäumt hat, das Flugzeug vor dem Start erneut zu enteisen. Der Schnee klebt an den Tragflächen. Zu niedrige Startgeschwindigkeit, veränderte Aerodynamik, Strömungsabriss.
Die Maschine stürzt in Richtung des zugefrorenen Potomac River. Sie schlägt gegen eine Brücke, bricht auseinander und versinkt im Wasser. Ein Stück vom Rumpf bleibt an der Oberfläche, umgeben von Eisschollen. Schwimmwesten treiben im Fluss, Metallstücke, und dann, tatsächlich, ist noch etwas zu sehen: vier, fünf, sechs Menschen, Überlebende. Sie klammern sich an Wrackteile, winken, schreien hinüber zu den Leuten auf der Brücke, zu den Hilfskräften am Ufer, die Minuten später eintreffen, aber nicht helfen können, weil sie mit ihrem Schlauchboot zwischen den Eisbrocken stecken bleiben.
Dann, in der Ferne, endlich, das Rotorengeräusch eines Helikopters. Er kommt näher, lässt ein Seil herab, zieht einen Mann aus dem Wasser, setzt ihn am Ufer bei den Sanitätern ab, kommt zurück, wieder sinkt das Seil nach unten, wieder greift eine Hand danach, diesmal ist es die Hand von Arland Williams. Das Seil ist seine Rettung. Wäre seine Rettung. Denn Williams reicht es weiter zu einem der vier anderen, die neben ihm im Eiswasser um ihr Leben kämpfen, und deshalb ist es dieser andere, der jetzt gerettet wird. Aber natürlich wendet der Hubschrauber erneut. Wieder zieht Arland Williams das Seil zu der kleinen Gruppe heran, und wieder gibt er es weiter.
Fünf der Überlebenden erreichen das Ufer, nur Williams ist noch übrig, als der Helikopter ein letztes Mal dreht, aber da ist jetzt kein Arm mehr, der sich nach oben reckt, keine Hand mehr, die nach dem Seil greift. Williams ist im Fluss versunken. Er ist gestorben, weil er anderen geholfen hat.
Die Brücke über den Potomac, die das Flugzeug gestreift hatte, erhielt später den Namen Arland D. Williams Jr. Memorial Bridge. Die Musikerin Sara Hickman schrieb ein Lied über ihn, Last Man In the Water, »letzter Mann im Wasser«.
Begreift man die Weltgeschichte als riesiges Wimmelbild, dann ist dieses Bild gut gefüllt mit allen Arten von Grausamkeiten. Dazwischen aber sind an vielen Stellen auch Darstellungen der Selbstlosigkeit erkennbar; allein in den letzten gut hundert Jahren finden sich zahlreiche Szenen, über die ein Lied zu schreiben sich lohnen würde.
15. April 1912. Die Titanic sinkt. Später werden Spielfilme und Romane von Panik und Hysterie erzählen und davon, wie jeder nur versuchte, sich selbst zu retten. Es sind dramatische Schilderungen, die die Welt fast vergessen ließen, wie es wirklich war. »Es gab kein Gewühl und kein Schieben«, berichtete der Zweite Offizier des Schiffes, der ganz am Ende ins Wasser sprang und mit viel Glück dem Tod entging. Andere Überlebende stimmten mit ihm überein. Die Männer hätten die Frauen und Kinder in die Boote steigen lassen und seien selbst an Bord geblieben. »Wenn sie in der Kirche gewesen wären, hätten sie nicht ruhiger stehen können.«
13. Dezember 1937. Die japanische Armee besetzt die damalige chinesische Hauptstadt Nanking und beginnt ein Massaker. Mehrere Hunderttausend Zivilisten und gefangene Soldaten werden ermordet. In der Stadt befindet sich auch die amerikanische Missionarin Wilhelmine Vautrin, die während des vorangegangenen Bombardements das Angebot der amerikanischen Botschaft, sie außer Landes zu bringen, mehrfach abgelehnt hat. Vautrin leitet eine Mädchenschule, in der sie nun ein Flüchtlingslager einrichtet. Sie zieht amerikanische Flaggen auf und stellt sich Tag und Nacht an den Eingang – so hält sie die Japaner davon ab, in das Lager einzudringen, und rettet Tausenden Menschen das Leben.
22. September 1943. Soldaten der deutschen Wehrmacht durchsuchen in der Nähe der italienischen Hauptstadt Rom mehrere Munitionskisten. Plötzlich explodiert eine Handgranate, zwei Deutsche sterben. Der Kommandant vermutet einen Anschlag. Er lässt 22 Menschen aus umliegenden Bauernhöfen zusammentreiben und will sie als Vergeltung erschießen lassen. Da meldet sich der 22-jährige Carabiniere Salvo D’Acquisto, der hinzugezogen worden ist, um den Vorfall zu untersuchen, zu Wort. Er sagt, es sei tatsächlich ein Anschlag gewesen und er selbst habe ihn verübt. Die Gefangenen werden freigelassen, D’Acquisto wird erschossen.
16. April 2007. Im Hörsaal 204 der Technischen Hochschule von Blacksburg im US-Bundesstaat Virginia hält der 76-jährige Professor Liviu Librescu eine Vorlesung, als plötzlich Schüsse zu hören sind. Ein Student geht von Raum zu Raum und feuert mit zwei halb automatischen Waffen auf jeden, den er sieht. Librescu, ein aus Rumänien stammender Holocaust-Überlebender, stemmt sich gegen die Tür und ruft seinen Studenten zu, sie sollen durch die Fenster flüchten. Am Ende wird der Amokläufer 32 Menschen getötet haben, einer von ihnen: Liviu Librescu, getroffen von fünf Kugeln. Von Librescus 23 Studenten aber konnten sich mit einer Ausnahme alle retten.
29. September 2020. In der Redaktion der Braunschweiger Zeitung taucht ein Mann mit einer kunstvoll bemalten Papiertüte voller Geld auf, 20.000 Euro in 200-Euro-Scheinen, eine Spende für die Braunschweiger Tafel. Der Mann hat bereits in den Monaten zuvor mehrfach Geld für einen guten Zweck vorbeigebracht, mal 20.000 Euro, mal 50.000, einmal sogar 100.000. Er will anonym bleiben, will keine Spendenquittung, keinen Dank, er will nur helfen. Der Mann verrät auch nicht, ob er es war, der hinter dem sogenannten Wunder von Braunschweig steckte. Damals, zwischen November 2011 und März 2013, gingen mit Geld gefüllte Umschläge bei Braunschweiger Suppenküchen, Kindergärten und Kirchengemeinden ein, insgesamt 250.000 Euro.
Menschen helfen einander. Sie helfen Familienangehörigen, sie helfen Freunden, sie helfen Fremden, sie helfen Menschen, von denen sie selbst keine Hilfe zu erwarten haben. Manchmal riskieren sie ihr Leben dabei, und manchmal verlieren sie es.
Der Mensch mag sehr häufig sehr böse sein, aber ziemlich oft ist er auch ziemlich gut. Ob seine Gene weiterexistieren, ist ihm dann nicht so wichtig. Anders als die Tiere kann er seinen angeborenen Eigensinn zur Seite schieben, für einen Moment oder auch für länger. Vermutlich hat er das gelernt, so wie er gelernt hat, dass die Rinde des Weidenbaums heilsam ist.
Irgendwann in der Steinzeit, das weiß man heute, veränderte sich der Geschmackssinn des Menschen. Der Grund waren giftige Pflanzen. Die Menschen aßen sie, sie schmeckten gut, also aßen sie mehr und starben. Manche Menschen aber empfanden den bitteren Geschmack als abstoßend, sie aßen nichts oder nur wenig und überlebten. Es waren diese Menschen, die ihren Geschmackssinn an ihre Nachkommen weitergaben. Heute tragen fast alle Menschen ein Gen in sich, das bitteren Geschmack unangenehm macht. Das ist die Evolution, wie Darwin sie beschrieben hat.
In der Antike allerdings fanden die Menschen heraus, dass manche bitter schmeckende Pflanze einen medizinischen Nutzen hat. Sie wussten nicht, dass zum Beispiel die Weidenrinde Salicin enthält, das sehr viel später zum Grundstoff des Aspirins werden sollte, aber was sie wussten, war: Weidenrinde wirkt fiebersenkend und schmerzlindernd. Und deshalb fingen sie an, die bittere Rinde zu sich zu nehmen, obwohl dies nicht in ihrer Natur lag. Sie hatten gelernt, dass es richtig war.
Mit dem Altruismus scheint es so ähnlich zu sein wie mit einer giftigen Pflanze. Die Evolution hat den Egoismus hervorgebracht, die Menschen aber haben begriffen, dass die Welt besser ist, wenn sie gut sind zueinander. Der Geist ist stärker als die Gene, zumindest manchmal, das könnte eine Erklärung für die menschliche Selbstlosigkeit sein. Das war auch eine Erklärung, bis vor wenigen Jahren.
Das hilfsbereite Baby
Ein Erwachsener lässt versehentlich etwas fallen, zum Beispiel einen Schlüsselbund. Die Schlüssel landen neben einem Kind, das neben dem Erwachsenen steht, noch etwas unsicher, es ist ja ganz klein, erst etwa eineinhalb Jahre alt. Wie wird dieses Kind reagieren? Das war die Frage, die sich Felix Warneken vor Jahren stellte. Warneken, heute Psychologie-Professor an der University of Michigan in den USA, war damals noch Doktorand am Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig. Die Antwort, die ihm erfahrene Wissenschaftler gaben: Das Kind wird den Schlüsselbund aufheben, ihn untersuchen und nur ungern wieder hergeben, denn Kinder in diesem Alter sind selbstbezogen. Wenn ihnen etwas vor die Füße fällt, dann gehört es ihnen, so sehen sie die Welt.
Warneken hatte keinen Grund, an dieser Antwort zu zweifeln, er war ja nur Doktorand.
Einige Zeit später aber, so erzählt er es heute, war Warneken an einer Studie zum Spielverhalten von Kleinkindern beteiligt. Er war im Institut mit einem kleinen Jungen im Raum und hatte einen Tischtennisball in der Hand, der ihm jedoch davonrollte. Da hatte Warneken eine Idee. Er tat so, als könne er den Ball nicht erreichen, er streckte sich, wackelte mit der Hand.
Der Junge stand auf, holte den Ball und brachte ihn Warneken zurück.
Das war natürlich noch kein Beweis für Hilfsbereitschaft. Vielleicht wollte der Junge nur, dass Warneken den Ball noch einmal wegrollen ließ. Vielleicht hatte seine Mutter ihn in einer ähnlichen Situation gelobt, und er erhoffte sich jetzt eine erneute Bestätigung. Vielleicht hatte er doch nur seinen Eigennutzen im Sinn.
Warneken beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er entwickelte eine Reihe von Tests, bei denen er stets mit einem Kleinkind im Raum war. Mal befestigte er Wäsche an einer Leine und ließ eine Wäscheklammer fallen, mal hielt er einen Stapel Bücher in der Hand und konnte deshalb eine Schranktür nicht öffnen, mal fiel ihm ein Kaffeelöffel in eine Kiste.
Es gibt Videoaufnahmen von diesen Tests. Man sieht, wie die Kinder, Mädchen wie Jungen, das Kleid oder die Hose von der Windel gepolstert, quer durch den Raum wackeln, um die Wäscheklammer aufzuheben, die Tür zu öffnen, den Löffel aus der Kiste zu holen – aber nur dann, wenn Warneken zuvor vergeblich versucht hatte, das Problem selbst zu lösen. Offenbar ging es den Kleinen nicht darum, ein lustiges Spiel mit Wäscheklammern oder Schranktüren zu spielen. Sie wollten tatsächlich helfen.
Sie halfen sogar dann, wenn sie dafür über dicke Plüschschlangen steigen oder das Bällebad verlassen mussten, in dem sie eben noch fröhlich gespielt hatten. Und sie halfen immer wieder, egal, ob sie eine Belohnung erhielten oder nicht.
Sie selbst hatten keinerlei Nutzen davon. Trotzdem nahmen sie die kleine Anstrengung auf sich. Denn der Altruismus liegt in ihrer Natur.
Oder doch nicht? Ein Restzweifel bleibt. Vielleicht lernen Kinder in den ersten 18 Monaten ihres Lebens mehr als bisher angenommen, vielleicht haben sie sich die Hilfsbereitschaft schlicht bei ihren Eltern abgeschaut. Um wirklich sicher zu sein, dass das Gute dem Menschen angeboren ist, müsste man Babys untersuchen.
Ein roter Kreis aus Filz mit lustigen aufgeklebten Plastikaugen arbeitet sich einen grünen Berg hinauf. Er ist schon fast oben, da kommt ein blaues Viereck und schubst ihn hinunter. Zum Glück ist da ein gelbes Dreieck, das den roten Kreis wieder nach oben schiebt, bis auf den Gipfel. Das ist das Puppenspiel, das der an der Universität Yale lehrende kanadische Entwicklungspsychologe Paul Bloom für Kinder aufführen ließ, die noch nicht einmal ein Jahr alt waren.
Manche der Kinder, die dieser kleinen Vorstellung beiwohnten, schliefen ein. Andere wurden quengelig. Babys eben. Jene aber, die wach und konzentriert blieben, zeigten eine sehr interessante Reaktion. Dazu ist zu sagen, dass es nicht einfach ist, die Reaktion von Babys zu erfassen. Sie können nicht sprechen, ihre Mimik ist oft schwer zu deuten, und ihre Bewegungen können sie nur begrenzt koordinieren. Zu einem aber sind sie in der Lage: Sie können greifen. Aus früheren Untersuchungen weiß man, dass Babys nach Dingen greifen, die sie anziehend finden, andere fassen sie nicht an.
Bloom ließ also das kleine Puppenspiel jeweils für ein Baby aufführen, dem nach der Vorstellung ein Tablett gezeigt wurde, auf dem die beiden Hauptfiguren aus Filz lagen, das böse blaue Viereck und das gute gelbe Dreieck. Von dem, was dann typischerweise geschah, gibt es ebenfalls Videobilder.
Josh, elf Monate, greift das gelbe Dreieck.
Fawzi, zwölf Monate, patscht erst auf das blaue Viereck, dann nimmt er das gelbe Dreieck.
Sonny, zehn Monate, schnappt sich das gelbe Dreieck.
Beatrice, sieben Monate, fasst nach dem gelben Dreieck.
Aber vielleicht mögen Babys Dreiecke lieber als Vierecke? Vielleicht gefällt ihnen Gelb besser als Blau? Bloom veränderte die Handlung, jetzt war das gelbe Dreieck der Bösewicht, das blaue Viereck spielte die Rolle des Helfers. Wieder griffen fast alle Babys nach der »guten« Figur. »Es sind unparteiische, neutrale Urteile«, so Blooms Fazit.
Zum Vergleich bekamen die Babys auch Aufführungen mit denselben Figuren zu sehen, nur dass diese sich diesmal neutral verhielten, keiner wurde aufgehalten, keinem wurde geholfen. In diesem Fall zeigten sich keine Präferenzen, manche Babys nahmen das Dreieck, andere das Viereck.
An jenem Januartag in Washington, nachdem Arland Williams das Seil weitergegeben hatte, griff ein weiterer Überlebender zu. Er versuchte, mit der anderen Hand eine Frau zu packen, um sie mit aus dem Wasser zu ziehen, aber er hatte sich beim Absturz den Arm und die Finger gebrochen, und die Frau fiel zurück ins Eiswasser. Der Verwaltungsangestellte Lenny Skutnik war einer der Menschen, die die verunglückte Rettung vom Ufer aus beobachteten. Er sah, wie die Frau verzweifelt mit den Armen schlug, wie ihr Kopf schon halb im Wasser versank. Da riss er sich die Jacke vom Leib, sprang in den Fluss, schwamm durch die Eisbrocken und zerrte die Frau ans Ufer. Hinterher sagte er: »Ich glaube, es ist ein menschlicher Instinkt, ich habe nicht nachgedacht, ich habe es einfach getan.«
Das Sprechen müssen Menschen lernen, das Laufen auch, und dass Weidenrinde heilsam ist, haben sie ebenfalls gelernt. Der Sinn für das Gute aber scheint ihnen angeboren zu sein.
Der liebe Gott
Wenn Charles Darwin heute als der Vater der Evolutionstheorie gilt, dann ist Alfred Wallace ihr Onkel. Wallace, ebenfalls Brite, ebenfalls Naturforscher, verbringt Mitte des 19. Jahrhunderts viel Zeit in Südamerika und Südostasien, er isst Ameisen am Amazonas, wird im Atlantik Opfer eines Schiffbruchs und holt sich die Malaria im Malaiischen Archipel. Dort gelangt er, ohne das zu wissen, zu ganz ähnlichen Schlüssen wie vor ihm Darwin. Zwischen zwei Fieberschüben bringt er seine Gedanken zu Papier und schickt sie per Post zu Darwin nach England, wo das Schreiben Monate später ankommt. Darwin hat die Veröffentlichung seiner Erkenntnisse seit Jahren vor sich hergeschoben, jetzt liest er Wallace’ Manuskript und begreift, dass er nicht länger warten darf. Er lässt seine und Wallace’ Arbeiten bei einer Tagung von Naturforschern vorstellen, ein Jahr später erscheint sein erstes Buch.
Darwin und Wallace werden Verbündete, gemeinsam treten sie für ihre Konzepte ein, die sich unter dem Namen »Darwin-Wallace-Theorie« verbreiten, erst im 20. Jahrhundert avanciert Darwin zum alleinigen Namensgeber der Evolutionstheorie. Gemeinsamer Stammbaum von Mensch und Tier, Überlebenskampf, natürliche Auslese – in all diesen Dingen sind sich Darwin und Wallace einig. Es gibt aber etwas, worin sich ihre Ansichten fundamental unterscheiden.
Darwin hat zunächst Theologie studiert, sich aber, je besser er die Gesetze der Natur verstand, immer weiter vom Glauben entfernt. Wallace dagegen gelangt mit zunehmender Erkenntnis zu der Überzeugung: Dass der Mensch zwischen Gut und Böse unterscheiden, dass er seine Triebe kontrollieren und überwinden kann, dass er fähig ist zu derartiger Selbstlosigkeit, all das können biologische Prozesse allein nicht bewirkt haben, da muss noch etwas anderes sein.
»Ob man es Gott nennen will, oder göttlicher Geist«, schreibt Wallace. Ebendas, was hinter den Dingen ist.
Wenn dort etwas ist. Denn natürlich haben Evolutionsbiologen inzwischen andere Erklärungen für den menschlichen Altruismus gefunden. Zum Beispiel diese: Die Urmenschen waren in Gruppen unterwegs, und irgendwann fingen diese Gruppen an, um Nahrungsmittel und Jagdgebiete zu konkurrieren. Dabei waren nicht die Gruppen im Vorteil, deren Mitglieder sich rücksichtslos verhielten, sondern jene, deren Angehörige einander unterstützten. Sie jagten gemeinsam und konnten es deshalb mit größeren Tieren aufnehmen, sie teilten die Beute miteinander, pflegten einander, wenn sie krank oder verletzt waren, kümmerten sich gemeinsam um die Kinder und sorgten dafür, dass die Gruppe als Ganzes erhalten blieb. So entstand im Menschen nicht nur eine Veranlagung zum Egoismus, sondern auch zum Altruismus.
Der kleine Johann
Die blutspendende Fledermaus, der kanadische Wissenschaftler, der liebe Gott, sie alle hatten ihren Auftritt in diesem Artikel. Einer fehlt noch, der kleine Junge aus Niederbayern.
Mit ihm soll es sich so verhalten haben: Am 7. Januar 1894 ist es in Passau ungefähr so kalt wie 88 Jahre später in Washington, als dort das Flugzeug in den Potomac stürzt. An diesem Tag spielt ein vierjähriger Junge am Ufer des zugefrorenen Inns. Er läuft aufs Eis und bricht ein. Das sieht ein zweiter Junge, ebenfalls vier Jahre alt, er ist der Sohn des Grundbesitzers. Er könnte jetzt einfach stehen bleiben und beobachten, wie der andere Bub um sein Leben kämpft, wie er mit den Armen schlägt, vielleicht schreit, vielleicht wortlos untergeht. Wahrscheinlich hätte es ihm niemand zum Vorwurf gemacht, er ist ja erst vier. Aber der Junge bleibt nicht stehen. Er läuft zum Ufer und zieht den Buben aus dem Inn.
Der kleine Lebensretter, er heißt Johann Nepomuk Kühberger, wird später Pfarrer und Musiker. Auf seine Initiative hin bekommt der Dom der Stadt eine neue Orgel, es wird die größte Orgel der Welt, Kühberger wird Domkapellmeister und zumindest in Passau recht bekannt. Inzwischen aber ist er seit mehr als 60 Jahren tot, und auch in Passau kennt heute nicht mehr jeder den Namen Kühberger.
Mit dem anderen Jungen, jenem, der damals beinahe gestorben wäre, ist das anders, obwohl auch er lange tot ist. Ihn kennt in Passau heute noch jeder. Auch jeder in Deutschland. Sogar in der Welt, zumindest fast jeder. Er ist einer der bekanntesten Menschen, die je gelebt haben.
Adolf Hitler.
Es ist nicht sicher, ob diese Geschichte wirklich wahr ist, manche halten sie für eine lokale Legende. Sicher ist, dass Adolf Hitler damals mit seinen Eltern in Passau gelebt hat, und zwar in der Kapuzinerstraße 31, dem Haus der Familie Kühberger, in dem die Hitlers eine Wohnung gemietet hatten. Sicher ist auch, dass dieDonau-Zeitung am 9. Januar 1894 berichtete: »Am verflossenen Sonntag wurde ein Knabe gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Tode des Ertrinkens gerettet. Derselbe betrat am Inn unterhalb des Garnisons-Lazarethes neu gebildetes Eis und brach durch. Glücklicherweise konnte er von seinen beherzten Kameraden gerettet werden.« Ziemlich sicher ist, dass Kühberger später mehreren Menschen erzählte, er habe als kleiner Junge dem Hitler das Leben gerettet und diese Gewissheit plage ihn noch immer.
Ob sie nun stimmt oder nicht, in Passau haben die Leute nach dem Krieg ziemlich viel über diese Geschichte geredet, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass sie zu einigen Gedanken anregt.
Hätte der kleine Johann seinen Kameraden Adolf damals ertrinken lassen, wäre der Menschheit vermutlich viel erspart geblieben. Ein zerstörtes Europa. Auschwitz. Der Mord an sechs Millionen Juden. Kann aus einer guten Tat nicht auch etwas sehr Schlechtes werden?
Ja, kann es, und trotzdem ist es falsch, so zu denken. Das Gute zeigt sich auch und gerade darin, dass es nicht wissen will, was der Mensch, der da in Not ist, mit seinem geschenkten Leben anstellen wird. Das Gute fragt nicht nach dem Morgen, sondern nur nach dem Heute und danach, was zu tun ist, um jetzt, in diesem Moment, einen Menschen zu retten.
Solange es Kinder gibt, die andere Kinder aus dem Wasser ziehen, ist die Welt noch nicht verloren. Frohe Weihnachten!