Stuttgart 1942

von Jan Georg Plavec, Jan Sellner, Christian Frommeld, Kimberley Nicolaus, Simon Uhl

Dieses Digitalprojekt verwertet 12.000 systematisch erstellte Straßenansichten aller Straßen der Stadt Stuttgart - das erste „Street View“ der Welt. Wir haben den Bestand im Volltext durchsuchbar gemacht sowie aus den Bildern Fragestellungen für mehr als 100 crossmediale Beiträge entwickelt. Ein besonderer Fokus lag darauf, der letzten noch lebenden ZeitzeugInnen-Generation –  damals noch Kinder - und ihren Erinnerungen eine Stimme zu geben. Zudem thematisierten wir immer wieder den Alltag im Jahr 1942, das damals auch in Stuttgart begangene Unrecht und die Widersprüche, die sich etwa aus den vermeintlich idyllischen Straßenansichten und der Kriegslage ergeben. Aus der Serie gingen zudem bislang zwei Printmagazine hervor.

Wir haben auf das Projekt extrem viel Feedback bekommen, was auch mit dem crossmedialen Charakter der Serie zu tun hat. Die älteren LeserInnen reagierten stark auf die Printberichterstattung, die jüngeren wurden von multimedialen Formaten und der Online-Bildersuche angesprochen - jede/r kann das eigene Haus, die eigene Straße im Bestand finden. Online wurden die Beiträge als Multimediareportage, Video, virtueller Straßenspaziergang, Quiz sowie Instagram-Reel und Tiktok-Beitrag präsentiert. Dazu kamen mehrere Liveveranstaltungen, unter anderem eine Matinee. Das alles hat die Reichweite und den Impact des Projekts erhöht und die Rechercheergebnisse sowie den Fotobestand im Stadtgedächtnis verankert.

Online-Bildersuche beim Digitalprojekt "Stuttgart 1942"
Stuttgarter-Zeitung.de

Eine Stadt im „Jahr der Eskalation“

Stuttgart - Frauen schieben Kinderwagen auf den Straßen, Kinder spielen auf der Gass‘, die Straßenbahn bimmelt durch die Königstraße. Die mehr als 12 000 Bilder aus dem Stuttgart des Jahres 1942 vermitteln hinter dem zeitgeschichtlichen Wert auch eine trügerische Botschaft, die eines normalen Alltags, die einer persönlichen Idylle.

Dies verführt manchen zu der Einschätzung, von 1942 als „letztem Friedensjahr“ zu reden, weil die Bilder ein unverwüstetes Stuttgart zeigen, das noch nicht gezeichnet ist von den Wunden, die der Luftkrieg in den Jahren 1943 und vor allem 1944 schlagen wird.

Doch die Realität hinter den Fassaden ist eine andere: Es ist Krieg – im Innern und an den Fronten. In Russland und in Nordafrika verliert die Wehrmacht wichtige Schlachten, Juden, Sinti und Roma sowie Gegner des Naziregimes werden in die Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt und ermordet, Todesurteile werden von Sondergerichten verhängt und vollstreckt, die Repression im Innern erreicht eine neue Stufe der rassistisch motivierten Brutalität.

„Weil markante Daten in den Jahren 1941 und 1943 liegen, wird 1942 oft als Jahr des Übergangs bezeichnet, doch in Wirklichkeit ist es ein Jahr der Eskalation“, sagt Roland Müller, der Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs, das in Zusammenarbeit mit unserer Zeitung die Aufnahmen aus dem Jahr 1942 zeigt.

Der erste Deportationszug mit rund tausend Menschen hatte Stuttgart schon am 1. Dezember 1941 verlassen, 1942 werden vom Nordbahnhof aus fast 1500 Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt und ermordet – nur wenige Dutzend sollten überleben.

Fast alle Stuttgarter Juden werden im Lauf des Jahres 1942 deportiert, und die wenigen, die noch in der Stadt leben, sind mit Auflagen belegt, die ihre Schutz- und Rechtlosigkeit dokumentieren: An sie dürfen keine Zeitungen verkauft werden, sie dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, ihre Wohnungen werden mit einem Judenstern markiert.

 „Die Fotos und die reale Situation passen nicht zusammen“, sagt Müller. Die Straßen seien auch deshalb so leer, weil die meisten Männer an der Front sind, und die erwachsene Bevölkerung, Männer wie Frauen, Arbeitszeiten von 48 und mehr Wochenstunden hätten. Im Daimler-Werk, in dem im Herbst 1942 der Fahrzeugbau endgültig zugunsten der Herstellung von Flugmotoren für die Luftwaffe eingestellt wird, ist nur donnerstags schon um 17 Uhr Schluss, damit die Beschäftigten zumindest einmal in der Woche noch Zeit zum Einkaufen haben.

Immer mehr Zwangsarbeiter sind im Einsatz, im Sommer 1942 sind es wohl 20 000 in Stuttgart. 1100 Studenten arbeiten während des Sommers in den Semesterferien in Rüstungsbetrieben, sogenannte „Arbeitsmaiden“ machen Dienst bei den Stuttgarter Straßenbahnen, in Kliniken und Behörden. Damit mehr produziert wird, werden die Feiertage Fronleichnam und Himmelfahrt auf die folgenden Sonntage verlegt.

Der Krieg mag in seiner menschenverachtenden Brutalität noch fern sein, doch die Boten des Grauens, das kommen wird, sind auch in Stuttgart nah. Immer mehr Familien trauern um Gefallene, Anfang August gibt es an einem Tag allein 16 Todesanzeigen in der Zeitung. Bei Luftangriffen der Royal Air Force kommen im Mai und im November 1942 in Bad Cannstatt, Zuffenhausen und den Filderstadtteilen mehr als 40 Menschen ums Leben, fast 100 werden verletzt.

Im Neckartal und im Talkessel werden Übungen zur Vernebelung abgehalten, beim ersten Versuch wird dabei Obst und Gemüse geschädigt. Das verschärft die kritische Ernährungslage: Um mehr frisches Obst zu haben, soll die Produktion von Most eingeschränkt werden, der Direktverkauf von Obst und Gemüse wird unterbunden. Eine Standbesitzerin in der Markthalle wird zu 100 Mark Strafe verurteilt, weil sie Ware für ihre Stammkundschaft zurückgelegt hat. Die Menschen werden aufgefordert, Bucheckern zu sammeln und Mohn anzupflanzen zur Öl- und Fettgewinnung. Der Gas- und Kohleverbrauch wird reglementiert.

Freilich gibt es nach wie vor Aufführungen in Theatern und sportliche Wettkämpfe. Am 20. April findet anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler eine Galavorstellung der „Meistersinger“ von Wagner in der Oper statt, die Stuttgarter Kickers werden mit einem 2:1-Sieg gegen den VfB Stuttgart württembergischer Fußballmeister.

Kommunalpolitisch gibt es eine wichtige Änderung: Stammheim und die Filderstadtteile von Vaihingen bis Plieningen werden von Stuttgart eingemeindet. „Einerseits nimmt das Leben scheinbar noch seinen Gang wie in Friedenszeiten, andererseits haben wir eine Eskalation an der Front und im Innern“, sagt Müller über das Jahr 1942, das der württembergische NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr mit den Worten verabschiedet: „In siegessicherer Entschlossenheit und Kampfbereitschaft marschieren Front und Heimat gemeinsam dem Ziel des gigantischen Kampfes entgegen, der Neuordnung der Welt.“

Technik:
Das erste Street View der Welt

Stuttgart - Heinrich Jaus ist im Spätsommer 1942 nicht gerade unauffällig unterwegs. Der städtische Beamte hat den Auftrag, für das Stadtmessungsamt den Bereich oberhalb der Neckarstaße zu fotografieren – und zwar sämtliche Straßenzüge zwischen dem Olgaeck und der Villa Berg, fast 400 Bilder kommen zusammen. Jaus fotografiert nicht nur Häuser, sondern auch Passanten. Anders als heute sind gezückte Kameras damals nicht selbstverständlich. Auch deshalb schauen der Mann mit Brille und Pfeife sowie die ihn begleitende Dame in der Olgastraße den Fotografen an. Fast 80 Jahre später blicken wir diesem Stuttgarter Paar ins Gesicht – so wie etlichen anderen, die offenbar nicht immer wissen, dass sie im Bild sind.

Mit den Bildern für unser Projekt „Stuttgart 1942“ kann man virtuell durch die Stuttgarter Straßen flanieren und der Bevölkerung beim Alltag zusehen – so wie in „Street View“. Auch der Google-Onlinedienst enthält neben Straßenpanoramen unzählige Bilder von Passanten und Alltagssituationen. Er arbeite „mit touristischen Sehgewohnheiten“, analysiert die Kulturwissenschaftlerin Sibylle Künzler – man begibt sich virtuell an fremde Orte. So ein Ort ist Stuttgart 1942: Kaum einer, der heute lebt, war jemals dort.

Als die Bilder 1942 entstehen, ist virtuelles Flanieren jenseits jeder Vorstellungskraft. Der Bestand dürfte dennoch einer der ältesten sein, der so systematisch eine ganze Stadt fotografisch dokumentiert. Im Stuttgarter Rathaus ist nichts Vergleichbares bekannt; der auf die Bildergeschichte des 20. Jahrhunderts spezialisierte Historiker Gerhard Paul kennt nichts Vergleichbares, wie er auf Anfrage mitteilt. Man kann sagen: in Stuttgart ist 1942 das „Street View“ der Welt entstanden.

Zwar fangen Fotografen schon immer Alltagsszenen und Gebäude ein. Dass aber planmäßig alle Straßenzüge einer Großstadt fotografiert werden, ist 1942 neu. Zwar bereiten Kuriositäten wie die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienene US-amerikanischen „Photo Auto Maps“, also fotografische Routenbeschreibungen für Autofahrer, den Boden für solche Ansätze. Doch die schiere Menge an Material und Personal, die für die Dokumentation einer ganzen Stadt benötigt wird, überfordert damals Privatleute.

Der Bestand für „Stuttgart 1942“ entsteht dagegen im Auftrag der Verwaltung. Es ist nicht ganz klar, ob die Bilder für die Zwecke der Stadtplanung erstellt werden oder um nach einer (damals freilich noch kaum vorstellbaren) Zerstörung der Innenstadt den Wiederaufbau zu ermöglichen – spielt aber auch kaum eine Rolle. Vor allem ergänzen die Bilder die damals vom Militär systematisch erstellten Luftbilder um Ansichten am Boden.

Es ist der Einstieg in eine neue Vermessung der Welt. Nach 1945 beauftragen Verwaltungen systematische Befliegungen. Stuttgart wird erstmals 1955 und seither regelmäßig aus der Vogelperspektive fotografiert. Nicht alle Einsatzzwecke sind vorab festgelegt. Schnell zeigt sich, dass von der Stadtplanung über die Verbesserung von Landkarten bis zur Dokumentation von Fliegerschäden und Blindgängern vieles möglich ist. Mit modernen Luftbildern kann man 3D-Modelle ganzer Städte erstellen, den Zustand der Vegetation bestimmen und vieles mehr.

Straßenpanoramen sind eine logische Fortsetzung dieses Drangs nach Dokumentation und damit auch Zugriff auf die Stadt. Sie werden aber vor allem von Privatfirmen erstellt. Zwar gibt es einzelne staatliche Projekte wie die vom Militär gesponserte „Aspen Movie Map“. Sie erfasst 1979 die Stadt im US-Bundesstaat Colorado fotografisch und als 3D-Modell. Systematisch lassen aber erst die US-Internetkonzerne Google, Microsoft und Apple Autos mit 360-Grad-Kameras auf dem Dach durch die Straßen fahren. Hierzulande stoßen die seit Sommer 2008 durchgeführten Befahrungen auf ähnlich viel Protest wie der inzwischen aufgelöste Tele-Info-Verlag aus Garbsen, der bereits vor knapp 20 Jahren mit seinem "Cityserver“ einen ähnlichen Dienst anbietet.

Damals geht es in erster Linie um die Bilder selbst. Mittlerweile werden die Fotos, wie sie etwa Apple zuletzt auch in Stuttgart beauftragt hat, oftmals gar nicht mehr veröffentlicht. Stattdessen extrahieren die Firmen aus den Bildern automatisch Informationen, vom jeweils geltenden Geschwindigkeitslimit bis zum Wohlstand einer Gegend, abgelesen an Häuserfassaden oder auf der Straße geparkten Autos.

Längst haben auch Verwaltungen den Nutzen erkannt. Einst haben sie selbst Street View genutzt, mittlerweile beauftragen sie spezialisierte Firmen – die Stadt Stuttgart seit 2017. Die Bilder hätten „unglaubliches Potenzial“, versichert der Abteilungsleiter Geoinformation im Stadtmessungsamt, Markus Müller. Die Verwaltung spart sich Außentermine, wenn man virtuell einen Blick auf ein Gebäude oder einen Straßenabschnitt werfen kann. Auch Vermessungen sind möglich.

An einer automatisierten Auswertung arbeite man, sagt Müller – zum Beispiel, um Standorte von Mülleimern zu verzeichnen oder für ein Straßenschildkataster. Man könne aber auch Standorte für E-Ladesäulen finden oder schauen, wo die Gehsteige für Rollstuhlfahrer zu hoch sind.

Alle zwei Jahre wird Stuttgart befahren, Ende März ist es wieder soweit. Ulm dagegen schickt seit 2017 ein eigenes Kameraauto auf die Straße – gewissermaßen die zeitgemäße Variante der Stuttgarter Fotoaktion, für die 1942 noch Beamte wie Heinrich Jaus durch die Straßen ziehen.

Was sich bis heute nicht geändert hat: Wer fotografiert, fällt auf. Heute bemerken Passanten häufig das Auto mit der markanten Kamera auf dem Dach und twittern das vielleicht in die Welt, damals haben die Menschen sich von den Herren erzählt, die mit Kamera durch die Straßen spazieren. Bis heute aber entzieht sich der Kenntnis der Fotografierten, was genau mit den Bildern passiert. Sie werden betrachtet, womöglich erst nach Jahrzehnten – so wie das Flaneurpaar auf dem Foto aus der Olgastraße.

Jüdisches Leben 1942:
Lähmende Angst

Stuttgart - Der alte Mann am Telefon will nicht sprechen. „Ich mag nicht mehr an diese Zeit denken“, sagt er, „ich hoffe, Sie verzeihen.“ Auch seinen vollständigen Namen will der 93-Jährige nicht in der Zeitung veröffentlichen. Den Vornamen Heinz könne man schreiben. „Heinz heißen viele, das reicht.“ In seinem Ort in der Nähe von Stuttgart wüsste kaum jemand, dass er Jude sei. Er hat Angst vor Antisemiten. „Die Juden sind doch angeblich immer an allem schuld, sogar an Corona“, sagt der Mann. Und vielleicht erzählt dieser Wunsch nach Anonymität am meisten darüber, wie ihn die Zeit, in der er aufgewachsen ist, bis heute prägt.

Aber dann redet Heinz doch noch über diese Jahre in Stuttgart zwischen 1942 und 1945. „In selbst gewählter Quarantäne“ habe er damals gelebt, so nennt er das, mit seinen Eltern in der Talstraße 36 in Stuttgart-Ost. „Ich bin morgens zur Arbeit als Hilfsarbeiter in eine Werkstatt am Stöckach gelaufen und abends nach Hause. Sonst bin ich nicht mehr auf die Straße“, sagt er, der 15 Jahre alt war im Jahr 1942. Den Stern an seinem Kittel versuchte er, so gut es ging, zu verbergen.

Einmal sei er ins Kino gegangen, als das schon für Juden verboten war. Da habe ihn einer von der Hitlerjugend, der ihn kannte, entdeckt, aber nicht verraten. Nur nach Hause geschickt. Ein anderes Mal habe er es gewagt, mit dem Judenstern spazieren zu gehen. Da hätten sie ihm „Jud, Jud!“ hinterhergeschrien. Danach sei die Angst zu groß gewesen. Wovor? „Davor, weggebracht zu werden.“ Alle ehemaligen Klassenkameraden aus der jüdischen Schule im Stuttgarter Hospitalviertel waren ja schon nicht mehr da. Entweder waren sie emigriert oder vom Nordbahnhof aus abtransportiert worden in die Lager Riga, Izbica und Theresienstadt. Dass Heinz noch da war, verdankte er seinem protestantischen Vater. Nur die Mutter war Jüdin, der Sohn galt als Mischling in der nationalsozialistischen Terminologie.

Das Telefonat mit dem Mann, der wohl einer der letzten jüdische Zeitzeugen dieser Jahre in Stuttgart ist, bleibt eine der wenigen Antworten auf die Frage, wie der Alltag jener Juden aussah, die 1942 noch in Stuttgart lebten. Die Historikerin Maria Zelzer hat ihn in ihrem Standardwerk „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“ so beschrieben: „Für die seit 1941 ohne Hoffnung auf Auswanderung zurückgebliebenen Juden war der Lebensrhythmus bestimmt vom Warten. Sie warteten auf etwas, von dem sie wussten, dass es nichts Gutes sein würde.“

Was da noch kommen sollte, bestimmte nach dem Krieg die Erinnerung der Zeitzeugen. So erklärt es Roland Müller, der Leiter des Stadtarchivs Stuttgart. Nach dem Krieg hätten Überlebende vor allem das Grauen in den Konzentrationslagern geschildert. „Das hat die Erinnerung an die Jahre davor überlagert“, sagt der Historiker. „Tatsächlich wissen wir über die Menschen und ihre Lebensumstände wenig.“

Vielleicht muss man jüdisches Leben 1942 also erst einmal darüber erzählen, was alles nicht mehr war – 600 Jahre nachdem die ersten Juden in einer Urkunde der Stadt erwähnt wurden. So gab es 1942 keinen der 173 jüdischen Textil- und 50 Lederwarenkaufleute mehr, die die Berufsstatistik von 1932 noch auswies. Die 34 Tabakwarenhändler, 24 Lebensmittelhändler, 21 Juweliere, Optiker, Uhrmacher, Wein- und Getreidehändler waren ebenso verschwunden. Wie auch die 86 jüdischen Ärzte und die 50 Rechtsanwälte. Auch das jüdische Kaufhaus Schocken war schon lange geschändet und arisiert. Von den 4500 Mitgliedern, die die jüdische Gemeinde bei der Machtergreifung 1933 hatte, lebten 1942 nur noch 840 in der Stadt, viele von ihnen in sogenannten Mischehen mit Nichtjuden. Ein Jahr später sollten es 360 sein, bei Kriegende 24.

Gewohnt haben viele der Verbliebenen in den sogenannten Judenhäusern – ein bislang unterbelichtetes Kapitel der Stuttgarter Stadtgeschichte, wie Jupp Klegraf sagt, Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Nord. Von 1939 an quartierte die nationalsozialistische Stadtverwaltung Juden bei anderen Juden ein. Die dadurch frei werdenden Wohnungen wurden arischen Familien „zugeführt“, 600 allein bis Anfang 1942. Neuer „Lebensraum“ in einer an Wohnungen knappen Stadt.

Jupp Klegraf hat in den Adressbüchern dieser Zeit recherchiert. Für das Jahr 1941 hat er 65 solcher Judenhäuser im ganzen Stadtgebiet identifiziert, mit 305 Mietern darin. Zwei Jahre später konnte er noch sieben solche Häuser finden mit gerade mal elf offiziellen Bewohnern. 1942 fand er Judenhäuser unter anderem in der Frühlingshalde 10, in der Hermannstraße 16, in der Kasernenstraße 13 und in der Reutlinger Straße 73. Eine der wenigen Schilderungen über das Leben und die Atmosphäre in einem solchen Zwangsquartier findet man in den Briefen der Stuttgarter Jüdin Ella Kessler-Reis. Mit 40 Jahren musste die aufstrebende Juristin zu ihren Eltern in die Waldstraße 4 in Degerloch ziehen. Die schöne Villa mit dem üppigen Garten wurde zum Judenhaus, weitere Menschen wurden einquartiert.

Aus den Jahren 1941 und 1942 sind Briefe von Ella Kessler-Reis an eine Freundin erhalten, in denen sie von ihrem Alltag erzählt: „Es gibt Abende, die ich als die letzten empfinde und die mich, uns alle im Hause, mit Panik erfüllen. Und dann geht alles für ein paar Tage wieder vorbei, und wir sitzen bei Bach-, Mozart- und Schubertplatten, ein bezaubernder Azaleenstock von meinem Geburtstag leuchtet unter der Lampe, und alles ist still und scheint dauerhaft. Wie lange Nerven das aushalten können, das weiß ich nicht.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Unser Schicksal hängt an dünnen Fäden.“

Es ist diese Fragilität, die latente Bedrohung, eine „Situation lähmender Angst“, wie es der Stadtarchiv-Leiter Roland Müller nennt, die das Leben der Juden in der Stadt prägte. Weitgehend enteignet und entrechtet, konnten sie am öffentlichen Leben schon lange nicht mehr teilnehmen.

Juden durften keine Kinos, Theater, Gaststätten und Krankenhäuser mehr betreten, keine Busse und Bahnen benutzen und sich nur zwischen sechs Uhr morgens und acht Uhr abends auf der Straße aufhalten. Radios, Genussmittel, Kosmetika waren verboten. Im Jahr 1942 wurde das Betreten von Wartesälen, die Benutzung öffentlicher Fernsprechzellen untersagt. Woll- und Pelzsachen mussten abgegeben werden, ebenso elektrische Haus- und Küchengeräte, Fahrräder, Schreibmaschinen. Am 30. Juni 1942 schloss die jüdische Schule endgültig.

Dazu kam die Furcht vor dem eigenen Nachbarn. „Wir waren von Feinden und Gleichgültigen umgeben“, so beschrieb es die Stuttgarter Jüdin Martha Haarburger nach dem Krieg. Aber es gab auch die hilfsbereiten Mitbürger. Manche Zeitzeugen schilderten, dass nichtjüdische Bekannte ihnen Lebensmittel zusteckten. Denn ihre kärglichen Lebensmittelrationen konnten Juden von April 1941 an nur noch in einem einzigen Laden einlösen – dem sogenannten Judenladen in der Seestraße 39. Von den Randbezirken aus waren die Menschen bis zu zwei Stunden einfach zu Fuß unterwegs. Selten war genug Ware da.

1941, 1942, das waren auch die Jahre der großen Umsiedlungen und Deportationen aus der Stadt. Hochbetagte Juden mussten aus ihren Wohnungen in die beiden jüdischen Altenheime in der Wagenburg- und Heidehofstraße umziehen, wo nun mitunter dreimal so viele Menschen wohnten, wie es Plätze gab. Mindestens 250 alte Männer und Frauen wurden auf das Land umgesiedelt, in renovierungsbedürftige Schlösser wie in Eschenau, Weißenstein und Dellmensingen. Eine „Stuttgarter Besonderheit“, wie Roland Müller sagt. Ein Mittel, um an weiteren Wohnraum für Nichtjuden zu kommen.

Dabei war das Land nur Zwischenstation auf dem Weg in die Konzentrationslager. Am 22. August 1942 startete vom Nordbahnhof aus ein Transport mit rund tausend Menschen nach Theresienstadt. Unter ihnen war Ella Kessler-Reis, die Briefeschreiberin. Von Theresienstadt wurde sie weiter nach Auschwitz gekarrt. 1944 starb sie dort.

Auch Heinz war am 22. August auf dem Killesberg. Er half einem Bekannten, das Gepäck zu tragen. Noch schützte Heinz, dass er Halbjude war. Doch am 12. Fe­bruar 1945 wurde auch er deportiert. Vier Tage ohne Verpflegung. Seinen 18. Geburtstag erlebte er im KZ Theresienstadt. Kurz darauf befreite ihn die Rote Armee. Heinz brach sofort auf. Er wollte zurück nach Hause, wo seine Eltern warteten, die Mutter hatte versteckt auf dem Land überlebt. Sein Zuhause war Stuttgart.

Unrechtsstaat:
Drei Tage vorher wurden sie deportiert

Stuttgart - Auf dem Foto sehen wir das Haus Katharinenstraße 35 und einige weitere Gebäude, Kopfsteinpflaster, ein Mann mit Tasche in der Hand quert die Straße. Aber es gibt eine Geschichte hinter der sichtbaren Ebene. Sie erschließt sich, wenn wir den Kontext des Fotos untersuchen.

Das Bild ist Teil des Bestandes im Stadtarchiv, den unsere Zeitung im Projekt „Stuttgart 1942“ auswertet. Es ist eine von rund 12 000 „Kleinbild-Fotoaufnahmen aller wichtigen Straßen- und Stadtbilder Groß-Stuttgarts“, die der NS-Oberbürgermeister Karl Strölin 1942 anfertigen ließ, um den Zustand der Innenstadt festzuhalten. Der Fotograf ist Walter Kittel, ein leitender Mitarbeiter im Stadtplanungsamt.

Das Foto entstand am späten Vormittag des 25. August 1942. Drei Tage zuvor war ein Deportationszug mit mehr als 1000 überwiegend älteren jüdischen Menschen von Stuttgart nach Theresienstadt, dem heutigen Terezín, abgefahren. Während die einen ihren Alltag in der Stadt lebten, wurden die anderen zur Tötung abtransportiert.

Das Foto verknüpft diese Fäden der Geschichte. Das abgebildete Haus gehörte dem jüdischen Metzgermeister Eduard Leiter und seiner Frau Ernestine. Es ist ein makaber anmutender Zufall, dass die beiden nur drei Tage vor der Aufnahme nach Theresienstadt verschleppt wurden. In dem überfüllten Lager herrschten katastrophale Zustände: Die Ernährung war völlig unzureichend, die Menschen schliefen auf dem blanken Steinboden, etliche starben an Typhus und Ruhr. Die Spur von Ernestine und Eduard Leiter verliert sich in der ehemaligen Habsburgerfestung. Vermutlich wurden sie Ende September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Fotograf von der Geschichte des Hauses und dem Schicksal seiner Besitzer wusste. An diesem Tag dokumentierte er die Stuttgarter Innenstadt, er fertigte 200 Fotos. Doch der Stuttgarter Bevölkerung kann nicht entgangen sein, dass mitten in dem zumal im Sommer beliebten Naherholungsgebiet am Killesberg Jüdinnen und Juden aus Baden, Württemberg und Hohenzollern gesammelt wurden und welchem Zweck das diente.

Ernestine und Eduard Leiter lebten damals nicht mehr in Stuttgart. Sie hatten das 1870 von dem Architekten Gustav Steinhausen im Stil des Spätklassizismus erbaute Haus 1892 von Eduards Eltern übernommen. Im Erdgeschoss führten sie fast vier Jahrzehnte lang eine Metzgerei. Mit Beginn des Ruhestandes übersiedelten sie 1931 nach Ulm, wo ihr Sohn Sally lebte. 1938 zogen sie in Ernestines Geburtsort Oberdorf am Ipf.

Infolge der zunehmenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bot Sally Leiter im Mai 1939 dem Stuttgarter Liegenschaftsamt im Namen seines Vaters das Haus in der Katharinenstraße 35 zum Kauf an. Eine gut vier Wochen dauernde, willkürliche Inhaftierung nach dem Pogrom vom 9. November 1938 erhöhte den Verfolgungsdruck und war sicher einer der Gründe, warum die Familie den Verkauf überhaupt in Erwägung zog. Er kam jedoch nicht zustande – vermutlich, weil Sally Leiter im Oktober 1939 die Flucht in die USA gelang. Kurz darauf wurde das Haus im Zusammenhang mit der damals neu erhobenen „Judenvermögensabgabe“ von der Finanzverwaltung beschlagnahmt.

Sally Leiter benannte sich in den USA in Charles S. Leiter um. Er versuchte von dort aus vergeblich, seine Eltern zu retten. Ernestine und Eduard Leiter wurden am 20. August 1942 nach Stuttgart gebracht. Sie waren damals 69 und 74 Jahre alt. Auf dem Killesberg teilte die Gestapo ihnen mit, dass ihr Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen worden sei – weil das Reichsinnenministerium Juden im Juni 1942 zu „Staatsfeinden“ erklärt hatte und das 1933 erlassene „Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ Anwendung finde – also staatlich organisierter Raub auf scheinlegaler Grundlage.

Im Juni 1943 übertrug die Oberfinanzdirektion Württemberg Haus und Grundstück der Stadt. Ernestine und Eduard Leiter, die rechtmäßigen Besitzer, waren da bereits tot. Der Sohn als rechtmäßiger Erbe befand konnte von den USA aus nicht eingreifen, zumal das Deutsche Reich und die USA sich seit 1941 im Kriegszustand befanden.

Das Haus ist von den Luftangriffen auf Stuttgart kaum beschädigt worden. Nach Kriegsende gelang es Sally Leiter freilich nur mit großer Mühe, seinen Rückerstattungsanspruch durchzusetzen. Blamabel für die Stadt Stuttgart: Das juristische Hin und Her dauerte nicht nur fast ein Jahr – die Stadt erklärte ursprünglich gar, sie habe das Haus 1943 nur treuhänderisch übernommen. Mit Blick auf die Ermordung seiner Eltern sei das „eine grobe Taktlosigkeit – um ein gelindes Wort zu gebrauchen“, schrieb Charles S. Leiters Anwalt im Dezember 1949 an den Schlichter für Wiedergutmachung.

Am 8. Mai 1950 wurde Charles S. Leiter als Besitzer des Hauses ins Grundbuch eingetragen.

Auf einem der 12.000 Fotos:
Den Vater auf der Königstraße entdeckt

Stuttgart - Das ist so ein Moment, in dem einem die Kaffeetasse gerne mal aus der Hand fällt: Frühstück, die Zeitung ist wie immer dabei, der Blick fällt auf einen Artikel der Serie „Stuttgart 1942“. Es geht um die Königstraße. Auf dem historischen Foto ist der Teil der heutigen Einkaufsmeile direkt beim Bahnhof zu sehen: Fassaden, Ladenschilder, viele Passanten. Und unter den Fußgängern ein Mann in Uniform: mein Gott, der sieht aus wie ich in jung!

Das ist natürlich Unsinn, das Foto ist 15 Jahre vor meiner Geburt gemacht worden. Und dann der Blitz im Hirn: ich glaube es fast nicht aber, das ist mein Vater. Noch mal ganz genau hinschauen. Dann Anrufe bei meinen älteren Schwestern Ingrid und Jutta (Jahrgang 1941 und 1947) und beim letzten noch lebenden Verwandten meines Vaters, der ihn als junger Mann gekannt hatte: Vetter Hermann, geboren 1933.

Das Ergebnis der Familien-Telefonschalte und dem Studium der (viel zu wenigen) Bilder: Wir können es wegen mangelnder schriftlicher Belege nicht beweisen, aber der Mann auf dem Bild ist zu 99 Prozent mein Vater, der damalige Wehrmachtssoldat der Luftwaffe Josef Löhle, Jahrgang 1914. Die Optik passt perfekt: Die Nase, die Lippen, das Ohr, die Geheimratsecken und auch die Ähnlichkeit mit mir als „Junger“.

Der Mann neben ihm sieht aus wie sein damaliger Bekannter, von dem wir heute nur noch wissen, dass er Fips genannt wurde. Mein Vater wäre im August 106 Jahre alt geworden. Man kann ihn nicht mehr fragen, er ist bereits 1982 gestorben. Seiner Frau Else, meiner Mutter, hätten wir das Bild zeigen können. Es liegt seit Jahren im Stadtarchiv. Else wurde stolze 97 Jahre alt, aber sie lebt seit 2017 nicht mehr.

Und dann sitzt man vor dem Bild und fragt sich: was ist die Geschichte dahinter? Mein Vater hat 1942 mit seiner Frau und der nicht mal ein Jahr alten Ingrid in München gelebt – wenn er nicht im Krieg in Südfrankreich bei den Seenotrettungsfliegern im Einsatz war. An diesem Sommertag 1942 war er wohl zu Besuch bei seiner verwitweten Mutter Anna. Sie hatte vier Söhne hatte, die aber alle im Krieg waren. Die Möbelspedition in der Olgastraße 67, Anna Löhle war damals die Inhaberin, war 1942 verwaist. Nach dem Besuch ist mein Vater wohl wieder zurück nach München, wo er am Fliegerhorst Neubiberg stationiert war.

Er wäre sicher auch in Bayern geblieben. Mit seinem Kumpel Wilhelm Neudecker, der 1962 Präsident des FC Bayern München wurde (bis 1979), wollte er sich nach dem Krieg im Baugeschäft etwas aufbauen, wie er uns oft erzählt hat. Für die Leitung der Spedition in Stuttgart waren dagegen wie schon vor dem Krieg seine beiden älteren Brüder Karl und Hermann vorgesehen. Mein Vater wäre also ins Baugeschäft und meine Schwestern und ich wären jetzt Bayern.

Der Krieg durchkreuzte so viele Pläne, auch die meines Vaters. Die großen Brüder kamen nicht aus dem Osten zurück. Keiner weiß, was mit ihnen passiert ist. Es gibt weder Gräber noch Totenscheine. Anna Löhle nahm meinen Vater und seinen dritten Bruder Eduard in die Pflicht. Die beiden wurden Chefs der Spedition Karl Löhle in der Olgastraße, die es übrigens noch heute noch gibt und die jetzt von meinem Vetter Eduard geführt wird. Übrigens findet sich im Fotobestand von „Stuttgart 1942“ auch ein Bild von diesem Gebäude, das als eines von ganz wenigen in diesem Bereich bis heute steht.

Zumindest den Kontakt zum späteren Bayern-Präsident Neudecker hielt mein Vater noch lange. Die beiden trafen sich ab und zu, wenn die Münchner beim VfB antraten. 1968 hat Neudecker für meinen Vater und mich Karten für das Länderspiel Deutschland – Brasilien im Neckarstadion besorgt. Es war der erste Sieg (2:1) der Nationalmannschaft gegen die Südamerikaner und für mich als elfjährigen Bub ein gewaltiges Erlebnis.

Erstaunlich, welche Erinnerungen ein einziges Bild auslösen kann – das nur entstand, weil der Fotograf an diesem Sommertag 1942 zufällig in diesem Moment und nicht ein paar Sekunden später den Auslöser gedrückt hat. Man lernt auch etwas davon: Es ist vielleicht keine schlechte Idee, der Familie eine Art Lebensbericht zu hinterlassen. So wäre der Familienbesuch von 1942 vielleicht dokumentiert – und wir hätten das letzte Prozent fehlende Sicherheit auch noch.

Interview mit einer Zeitzeugin:
Aufgewachsen zwischen Hinterhof und Hitlerjugend

Stuttgart - Auf einen Beitrag zur Serie „Stuttgart 1942“ hat sich Lotte Schnurer gemeldet. Die 96-Jährige erinnert sich gut an das Leben im Westen vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs.

Frau Schnurer, Sie hatten in unserer Zeitung ein Foto von der Schwabstraße 1942 entdeckt.

Genau dieser Abschnitt der Schwabstraße hat mein Leben mitgeprägt. Mein Vater hatte im Westen ein Flaschnerei- und Sanitärgeschäft. Nach dem Krieg habe ich den in der Schwabstraße wohnhaften ersten württembergischen Arbeitsminister kennengelernt, der mir meinen ersten Arbeitsplatz verschafft hat. Bis 1965 habe ich in dieser Gegend gelebt – mal in der Ludwigstraße, mal in der Rotebühlstraße.

Erzählen Sie ein bisschen vom Leben in dieser Gegend. Ich sehe auf den Bildern aus 1942 zum Beispiel viele Kinder.

Die haben da gespielt, in den Hofeinfahrten und Hinterhofgärten. Mich haben die Jungs immer über die Zäune gelupft, damit ich den Fußball zurückholen kann. Meine Freundinnen haben in der Nähe gewohnt. Es gab in unserem Hinterhof eine Hutfabrik und eine Schlosserei, da konnte man reinschauen. Ein Goldschmied in der Schwabstraße hat uns gezeigt, wie er Ringe macht. Für mich ist die Gegend Heimat und ich habe mich damals sehr wohl gefühlt.

Autos sehe ich fast keine. Wie war man damals unterwegs?

Autos hatten nur ein paar von den größeren Firmen, wir nicht. Mein Stolz war ein Fahrrad aus einem Geschäft in der Ludwigstraße. Ansonsten ging man mehr zu Fuß und war nicht so oft in der Innenstadt, das Geld für den Zweier hat man sich gespart. Aber mein Bewegungsdrang war groß. Wir sind mit Rollschuhen um den Feuersee gefahren.

Wo hat man eingekauft?

Es gab natürlich Lebensmittelgeschäfte, dazu aber auch Gemüse-Markttage am Bismarckplatz oder am Feuersee. Die Bauern haben in den Straßen vom Lastwagen herunter verkauft, der Milchwagen war auch unterwegs. An dem kleinen Platz Ecke Gutenberg-/Vogelsangstraße gab es nicht weniger als drei Metzger. Wir haben bei allen abwechselnd eingekauft, weil wir Aufträge fürs Geschäft erhofft haben.

Wie sahen Ihre alltäglichen Wege aus?

Wir sind durch den Schwabtunnel zum Hölderlingymnasium oder zur Schickhardtschule gegangen oder zum Stadtbad. Ich habe gern in der Elisabethenanlage gespielt. Oberhalb vom Bismarckplatz war ich selten. Das war ein eher vornehmes Viertel, ohne viele Geschäfte.

War man abends viel draußen?

Wir saßen eher auf unserem Balkon oder haben Karten gespielt. Und natürlich hat die Hitlerjugend Veranstaltungen organisiert, Heimatabende im Restaurant Sannwald in der Silberburgstraße zum Beispiel. Ich muss ehrlich sagen, dass das schönere Zusammenkünfte waren als die Angebote der Kirche. Das war für meine Eltern nicht einfach, weil die stark an die Kirche gebunden waren. Mit der HJ haben wir auch Ausflüge gemacht und natürlich wurden wir ideologisch erzogen. Man hat uns etwas geboten, in jeder Hinsicht. Wobei, einmal lief es für mich nicht gut ab.

Was war das?

Ich war drüsenkrank, und dann ist man als Kind dick. Da war das Deutsche Turnfest in Stuttgart 1941 auf dem Wasen. Die Jugend hat da Vorführungen gemacht und vor allem geturnt. Als es auf diesen Tag zuging, sagte die HJ-Führerin zu mir: Du darfst nicht mit. Ich frage: Warum nicht? Und sie: Schau in den Spiegel. Zur Elite hat man gehört, wenn man nicht nur geistig fit war, sondern auch körperlich dem Ideal entsprochen hat.

Hat Sie das von der HJ entfremdet?

Das hat mir zwar wehgetan, aber ich war damals trotzdem für die Partei. Viele Junge waren von der Ideologie damals begeistert. Meine Zweifel habe ich bekommen, als die SA in der Pogromnacht im vollen Lieferwagen die Rotebühlstraße hochgefahren ist. In der Dämmerung sind sie gekommen, haben gebrüllt und beim jüdischen Kurzwarenladen Sommerfeld an der Ecke Reuchlin-/Rotebühlstraße alles zerstört. Und in der Schule habe ich die Judenverfolgung auch mitbekommen. Ich saß neben einer Klassenkameradin, die dann plötzlich weg war.

Was haben Sie vom Krieg mitbekommen?

Oben auf dem Hasenberg stand der Hasenbergturm, das war ein schöner Aussichtspunkt. Damals kamen immer wieder die feindlichen Flieger und haben Bomben abgeworfen oder Zettel: „Stuttgart liegt im Loch, wir finden dich doch“. Mein Vater war bei der Technischen Nothilfe, im März 1943 haben die den Hasenbergturm gesprengt. Unterhalb der Schwabstraße hat es mit den Luftangriffen angefangen. Da habe ich das Lachen verlernt. Ich musste meinem Vater helfen, die Toten aus dem Keller zu holen. Nach 1943 sind wir dreimal ausgebombt worden, das war die schlimmste Zeit. 1942 war ja noch alles relativ ruhig.

Wie war damals der Zustand der Gebäude?

Viele waren frisch saniert. Mein Vater als Installateur hat zum Beispiel WCs eingebaut. Davor gab es Plumpsklos und teilweise sehr einfache Kücheneinrichtungen mit Spülstein und einem Loch in der Mitte für den Abfluss. Wir haben Wasserleitungen neu installiert und Abflüsse, dazu Kohleheizungen und Ofenrohre.

Was hat man in der Freizeit gemacht?

Wir haben oft Hausaufgaben gemacht und sind zum Musikunterricht, aber selten ins Kino oder Theater. Mein Vater war Vorstand im Männerturnverein und in der Flaschnerinnung, da gab es abends oft Versammlungen. Wir als Familie sind häufiger in die benachbarten Wirtschaften zum Essen gegangen. „Kundschaft essen“ hat man dazu gesagt. Das lief auf Gegenseitigkeit. An sich ist man abends oft zuhause geblieben oder ging in die Sporthalle an der Schlossrealschule. Und die Männer sind natürlich auch zum Kegeln.

Und an den Wochenenden?

Da waren wir oft am Sportplatz mit meinem Vater – außer wenn er gerade mal wieder arbeiten musste, was öfter vorkam. Außerdem besuchten wir öfters meinen toten Bruder am Friedhof. Oder die Verwandten in Kirchheim/Teck.

Wie hat man denn Männer getroffen?

In der Schule waren Jungen und Mädchen ja getrennt. Aber es gab Tanzschulen, ich war auch bei einer angemeldet. Das erste Treffen war aber auch gleich das letzte, danach kamen die Bomben. Für die Jugend war es danach aus. 1942 war ich noch nicht 18 und für die Tanzschule zu jung. Aber meine Mutter war recht großzügig, und so kamen einige Kumpels aus der Nachbarschaft gern zu uns in die Wohnung. Meine Mutter hat denen Brote geschmiert, und wir haben in unserer Wohnung gespielt. So kam ich schon mit Jungs in Kontakt.

Gab es Sachen, die Sie vermisst haben als junge Frau?

Wir sind nicht groß ins Kino oder so. Da war schon gar keine Zeit, weil wir Kundschaft essen gehen mussten oder zum Sportverein. Es wurde eben viel ins Geschäft gesteckt.

Man konnte auch kaum etwas einkaufen. 1942 gab es für ganz viele Güter ja Bezugsscheine.

Das galt nicht zuletzt für Ausgebombte. Am schlimmsten war es für meinen Vater. Der brauchte orthopädische Schuhe, und er musste mit der Technischen Nothilfe nach den Bombengriffen regelmäßig arbeiten. Bei anderen Geschäften war es so, dass man mit denen getauscht hat, wenn die Kunden bei uns waren, zum Beispiel mit dem Tabakgeschäft an der Ecke Reuchlin-/Rotebühlstraße.

Lassen Sie uns zum Schluss über den Alltag sprechen und so tun, als würde ich 1942 durch Stuttgart-West spazieren. Diesen Mann, der hier auf dem Foto über die Schwabstraße läuft, würde ich den grüßen?

Nein, den kennen Sie ja nicht. Man hat sich ja nicht gekannt. Gegrüßt hat man nur die Menschen, die man gekannt hat.

Und wenn doch, würde er Schwäbisch sprechen?

Früher hat man Schwäbisch geschwätzt. Hochdeutsch hat man geredet, wenn man etwas Besseres sein wollte. Wir haben Hochdeutsch gekonnt, aber wir waren Schwaben, und das wollten wir zeigen. Wir haben ein gepflegtes Schwäbisch gesprochen. Aber vergessen Sie nicht: wenn einer in Ostheim gelebt hat, hatte der wahrscheinlich einen anderen Dialekt als wir im Westen.

Das heißt, ich wäre nicht nach Heslach gegangen?

Höchstens ins Stadtbad. Ansonsten ist das ja ein ganz anderer Stadtteil mit ganz anderen Leuten. Wir sind eher zur Elisabethenanlage gegangen. Da war ja alles so schön weitläufig verglichen mit den engen Straßen.

Hatte der Westen damals schon so eine eigene Identität?

Der Osten hat nicht zu uns gehört, da haben die ärmeren Schichten gewohnt. Die ganz Reichen haben oben auf der Höhe gewohnt, Richtung Killesberg, und hier im Westen hat die Mittelschicht gewohnt.

Wenn ich Sie damals gefragt hätte: Was ist denn das Tollste an Stuttgart-West? Was hätten Sie gesagt?

Der Feuersee, mit den Schwänen und Fischen drin. Auf dem Feuersee habe ich das Schlittschuhlaufen gelernt.

Sind Sie noch ab und zu im Westen?

Nein, aber ich kenne mich da schon gut aus. Die Häuser sind ja teilweise noch dieselben. Aber ich habe keinen echten Bezug mehr. Der Westen ist meine Kindheit, in der Schwabstraße hat mein Berufsleben angefangen. Aber das ist lange her. 1965 sind wir nach Vaihingen gezogen, und ich lebe jetzt bereits seit 22 Jahren im Augustinum in Riedenberg.

Erinnerungsprotokoll einer Zeitzeugin:
Und plötzlich ist alles kaputt

Stuttgart - 1942 ist die Welt für mich noch in Ordnung. Ich bin damals vier Jahre alt und habe deshalb nur bruchstückhafte Erinnerungen an diese Zeit. Meine Eltern und ich wohnen damals in der Katzensteigstraße in Bad Cannstatt. Das Haus hat einen schönen Garten, 1942 kommt meine Schwester zur Welt. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob wir auf dem hier gezeigten Foto tatsächlich zu sehen sind. Von der Größe der Kinder her passen würde es aber, und ich gehe damals auch noch nicht in den Kindergarten.

Im ersten Stock wohnt damals die Familie Ganter mit ihren zwei Söhnen, die beide älter sind. Ich spiele mit ihnen auf dem Wäsche-Trockenplatz eine Art Tennis. Unter dem Dach wohnt eine ältere Dame. Ihr Sohn ist Rennfahrer, deshalb hängen viele Fotos von Motorrädern an der Wand. Manchmal bringe ich ihr Blumen aus dem Garten.

Immer wieder besuchen wir die Großeltern in der Cannstatter Innenstadt. Die Eltern meiner Mutter leben an der Ecke Spreuergasse-Helfergasse. Vom Wohnzimmer im ersten Stock sieht man auf eine große Schmiede. Da kann sehe ich immer wieder zu, wie Hufeisen geschmiedet werden. Unweit davon stehen das Elternhaus meines Vaters und mehrere Gartenhäuschen. Das alles wird im Krieg von den Bomben zerstört.

So auch unser Haus in der Katzensteigstraße. Während eines Fliegerangriffs 1943 sind wir im Keller, als das Haus einen Bombentreffer abbekommt. Der Phosphor läuft die Treppe hinunter. Wir können uns nur durch die Waschküche zum Wäschetrockenplatz retten und fliehen über einen Zaun in den Keller der Familie Wölfle. Sie bespritzen die Wände immer wieder mit Wasser, wegen der Hitze von den brennenden Häusern.

Als Kind erinnert man sich ja an teilweise bemerkenswerte Details. In dieser Bombennacht habe ich bei der Flucht in den Keller der Nachbarsfamilie einen Schuh verloren. Meine Mutter hat das in der Nacht gar nicht mitbekommen, weil sie mich und meine einjährige Schwester gerettet hat.

Am Morgen nach den Angriffen schauen wir von der anderen Straßenseite nach unserem Haus. Ein Heizkörper hängt in der Luft. Im Erdgeschoss, wo eine Bank mit meinen Stofftieren darauf gestanden hat, lodern noch die Flammen. Wir können nichts mehr retten und gehen zu den Großeltern in die Spreuergasse. Aber auch ihr Haus ist in dieser Nacht zerstört worden, sie können nur noch ein paar Möbel und Wäsche retten. Meine Oma ist nach diesem Schock zeitlebens gelähmt.

Wir wohnen danach in verschiedenen Wohnungen, darunter eine im Hallschlag ohne Bad, die Küche ohne Backofen. Ich muss zum ersten Mal in den Kindergarten und muss in der Ecke stehen, weil ich hungrig aus meiner Vesperdose nasche, obwohl das Essen gemeinsam eingenommen wird.

Später ziehen meine Mutter, meine Schwester und ich nach Hinterbüchelberg bei Aalen, wo wir vor den Bomben in Sicherheit sind. Mein Vater bleibt in Stuttgart, weil er bei Mahle arbeitet, und besucht uns regelmäßig. Nach dem Krieg bin ich mit meinen Eltern nie wieder dorthin gefahren.

Der Krieg im Stadtbild:
Erst die Bunker, dann die Bomben

Stuttgart - Vielleicht sind die Stuttgarter 1942 froh, dass sie ihre Plätze wiederhaben. Marktplatz, Wilhelmsplatz, Marien- und Diakonissenplatz sind nach langer Bauzeit endlich wieder begehbar. Nun befinden sich darunter teils riesige Bunkeranlagen, deren meterdicke Betonwände Hunderte Insassen gegen Bombenangriffe schützen sollen.

Die Anlagen sind das Ergebnis eines gewaltigen, 1940 angeschobenen Bauprogramms. Die laut Reichsluftschutzgesetz als „Luftschutzort I. Ordnung“ geltende Industriestadt Stuttgart wird lange vor Kriegsbeginn als Ziel gegnerischer Luftangriffe ausgemacht. Ehe darunter Bunker entstehen, werden 1935 auf den großen Plätzen rot angestrichene Blechbomben ausgestellt. „Luftschutz tut Not“ steht auf den hölzernen Sockeln. Das will kaum einer glauben. Die Attrappen seien belächelt worden, erinnert sich der Autor des Buchs „Stuttgart im Luftkrieg“, Heinz Bardua.

Dabei hat der erste Luftangriff auf Stuttgart schon zwanzig Jahre zuvor stattgefunden. Am 22. September 1915 werfen vier französische Flugzeuge Bomben ab. Sieben Menschen und ein Pferd sterben, mehrere Gebäude rund um den heutigen Rotebühlplatz werden beschädigt. Das Deutsche Reich greift derweil mehr als hundert Mal mit Flugzeugen und Zeppelinen die britische Hauptstadt London an.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickeln alle Staaten ihren Luftschutz. Sie errichten Flakstellungen, bauen Jagdflugzeuge – und Schutzräume: Hoch- und Tiefbunker, aber auch in den Berg gegrabene Stollen oder knapp unter der Oberfläche verlaufende Deckungsgräben sollen die Bevölkerung schützen. Auch Keller von privaten Wohnhäusern dienen als Rückzugsraum. Dafür werden auf rund 27 Kilometern Länge Durchgänge zwischen den Häusern geschaffen, schreibt der Verein „Schutzbauten Stuttgart“ auf seiner Website.

Tausende betonierte Schutzbauten entstehen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. In Stuttgart ist bis 1942 ein Großteil der insgesamt 45 Bunker und mit Beton befestigten Stollen fertiggestellt. Wie sehr diese Bauten damals das Stadtbild prägen, zeigt sich im Bestand der Fotos, die wir für unser Projekt „Stuttgart 1942“ auswerten.

Der größte und stets sichtbare Schutzraum ist 1942 der Wagenburgtunnel. Hier lagert seit dem Frühsommer die Schillerstatue vom Schillerplatz, zudem finden bei Angriffen Tausende Schutz – ebenso wie seit 1944 im Schwabtunnel. Immer wieder ragen Schilder mit rotem Pfeil auf gelbem Grund ins Straßenbild hinein: „Zum öffentlichen Luftschutzraum“. Dorthin flüchten sich Passanten, wenn die Sirenen heulen und feindliche Flieger näherkommen.

Wer genau schaut, sieht auf den großen Plätzen der Stadt Treppen, die in die unterirdischen Bunker führen, daneben meist kleine Lüftungsschächte. Ebenfalls sichtbar sind die Splitterschutzblöcke aus Beton vor zahllosen Kellerfenster, im Volksmund auch „Hundehütte“ genannt. Weiße, bei Dunkelheit leuchtende Pfeile weisen den Weg in private Luftschutzkeller („LSR“), Lüftungsschächte und Notausgänge sind bis heute an den Deckeln mit der Aufschrift „Mannesmann-Luftschutz“ erkennbar. Im Radio wird 1942 schon regelmäßig durchgegeben, wo feindliche Flieger unterwegs sind.

Eine ganze Stadt wird befestigt, der Luftkrieg rückt sichtbar näher. Dennoch hätten viele Stuttgarterinnen und Stuttgart diese Atmosphäre zumindest 1942 noch nicht als beklemmend wahrgenommen, ist Norbert Prothmann von der „Forschungsgruppe Untertage“ überzeugt. Bunker seien bei einer Art Tag der offenen Tür präsentiert worden. „Kinder durften bei Flakstellungen auf die Kanone sitzen und haben einen Pudding bekommen. Man hat all diese Maßnahmen nicht versteckt, der Luftkrieg waren in den Köpfen präsent“, so Prothmann.

Stuttgart begrüßt die Bunker. Nicht, weil man sie als hübsch empfindet, zumal die besonders markanten Hochbunker von 1941 an nicht mehr wie ursprünglich vom Architekten Paul Bonatz vorgesehen mit Stein verkleidet werden. „Vielmehr hat man diesen Bauwerken vertraut“, sagt Norbert Prothmann. 1,60 Meter dicke Stahlbetonwände, „das ist damals die Verkörperung von Sicherheit, nicht zuletzt im Vergleich zum eigenen Keller“.

1942 kann sich kaum einer ausmalen, wie oft die Sirenen bis Kriegsende heulen und wie oft das nackte Leben daran hängt, dass der Beton standhält – während draußen die Stadt kaputtgeht. Zumal die Schutzplätze lange nicht ausreichen. Wer zu spät kommt, den lässt der zuständige Bunkerwart einfach nicht mehr ein.

Die härteste Tür der Welt ist die, an der über Leben und Tod entschieden wird. In Stuttgart ist das von 1942 an immer öfter der Fall. In der zweiten Kriegshälfte graben die Stuttgarter deshalb ihre eigenen Schutzräume. Stollengemeinschaften treiben mindestens 300 private Pionierstollen in die Hänge.

Es ist diese existenzielle Not, die man auch nach 80 Jahren noch in den Bunkern spürt – sofern man hineinkommt. Der Stadtverwaltung sind sie inzwischen eher lästig. Die „Forschungsgruppe Untertage“ und „Schutzbauten Stuttgart“ bieten dagegen Führungen und hervorragend recherchierte Websites zum Thema an.

Gastronomie 1942:
Als das Essen aus dem Automaten kam

Stuttgart - Am Jahresende wird Inventur gemacht. Theo Rösslein vom Café Marstall in der Königstraße 1 hat am 31. Dezember 1942 noch 48 Tortenböden, 330 Kilo Würfelzucker und 16 Kilo Bittermandeln. Auch Schokolade? „Kein Vorrat.“ Über Bohnenkaffee und schwarzen Tee verfügte der Cafetier zuletzt 1939. Ei darf seit 1940 nicht mehr in sichtbarer Form, etwa als Frühstücksei, serviert werden. Stattdessen verwendet Rösslein Milei, ein Ersatzprodukt auf Molkebasis.

„Man hat gelernt, mit der Mangelwirtschaft zu arbeiten“, sagt Stefan Rösslein, Enkel des Kaffeehausgründers und seit 1959 Betreiber des Café Königsbau. Seine Mutter stammte aus der Kaffeerösterei Fritsch. Da werde schon noch was zu holen gewesen sein, vermutet Rösslein.

Als kleiner Bub, erzählt der heute 80-Jährige, ist er jeden Sonntag im überfüllten Café: „Die Leute hatten Heißhunger auf Süßes und haben dafür ihre Lebensmittelmarken gegeben. Unsere Buttercremetorten waren berühmt.“ Butter wird auf der Reichsfettkarte neben Margarine separat aufgeführt und rationiert wie alles Lebensnotwendige.

Laut Statistischem Jahrbuch werden den Stuttgartern 1942 pro Tag 95 Gramm Brot, 13 Gramm Fleisch sowie zehn Gramm Fett und Zucker zugeteilt: insgesamt 1500 Kalorien, die erste und einzige Ernährungskrise im Krieg, schreibt der Stadtarchivleiter Roland Müller in seiner Dissertation über Stuttgart in der NS-Zeit. Längst sind fleischlose Tage vorgeschrieben. In den Gaststätten gibt es montags und donnerstags „Feldküchentage“ mit vegetarischem Stammessen. Wenn es Fleisch gibt, wird alles verwendet: Kuheuter für einen würzigen Eintopf, Rindermilz für ein Haschee. Erst zu Weihnachten gibt es wieder 2000 Kalorien pro Kopf.

Trotz Mangel floriert die Gastronomie, Personal wird dringend gesucht, Theo Rösslein vom Café Marstall steigert seinen Umsatz 1943 sogar. Im Jahr darauf endet die Buchhaltung: Unter dem 26. Juli steht „nachts Total-Fliegerschaden“.

Zu Kriegsbeginn gibt es in Stuttgart 1274 Gastronomiebetriebe und knapp 8000 Beschäftigte aus. Noch 1942 füllen die Restaurants, Bars, Cafés, Hotels und Pensionen im Branchenverzeichnis viele Seiten. Darunter bis heute bekannte Namen wie die Arche in der Bärenstraße, das Ketterer in der Marienstraße oder das Café Stöckle in der Johannesstraße. Es gibt damals noch den Goldenen Ochsen in der Hauptstätter Straße, wo Friedrich Schiller gern einkehrte, auch ein Strandcafé am Max-Eyth-See, die Höhengaststätte Schönblick am Weißenhof sowie Brauereigststätten von Schwabenbräu, Hofbräu, Dinkelacker, Wulle und Sanwald, meist im rustikalen Einheitsstil.

Zu den beliebtesten Adressen gehören Dörr‘s Schnellgaststätten. „Mein Großvater Wilhelm Dörr hat 1920 die erste Schnellgaststätte „Königs-Automat“ im Wilhelmsbau gegründet. Das hatte er sich in Amerika, aber auch bei Aschinger in Berlin abgeguckt“, erzählt die Enkelin Doris Radmann, 85. Es gibt belegte Brote aus dem Automaten. Der Erfolg berechtigt zu weiteren Gründungen: am Stöckach, in der Königstraße, am Charlottenplatz.

 „Hier bekommt man für möglichst wenig Geld das denkbar Beste“, rühmt das Magazin „Stuttgarter Leben“ 1940. Berühmt ist Dörrs Weinangebot aus dem eigenen Großkeller. Doris Radmann erinnert sich: „Dörrs vier Töchter sind aus der Schule gekommen, Ranzen runter und mitarbeiten, um die Automaten zu füllen.“

Eine der Töchter ist Doris Radmanns Mutter Elsa. Sie heiratet den Gastronomen des Wilhelma-Restaurants, Hermann Rommel. In der Schulstraße eröffnen sie eine Schnellgaststätte mit feinem Restaurant im ersten Stock, viele Geschäftsleute aus der Innenstadt kehren hier ein. Hermann Rommel ist als Vizepräsident der Gauwirtschaftskammer für die Verteilung der Lebensmittelmarken an die Wirtskollegen zuständig. Ja, ihr Vater sei Nationalsozialist gewesen, sagt Doris Radmann: „Der einzige in der Familie.“ Nach dem Bombenangriff vom Juli 1944 bleibt vom Lokal in der Schulstraße nur der Hausschlüssel übrig.

Gute Erinnerungen an die Stuttgarter Gastronomie hat der Holländer Martinus van Berg. Er ist 1942 bis 1945 zwangsweise als Lastwagenfahrer eingesetzt. Sein Nachlass liegt im Stadtarchiv: Er habe viel Freundlichkeit erlebt, „Schwaben sind keine Deutschen.“ Der Arbeitgeber duldet van den Bergs lockere Haltung, man steckt ihm Trinkgelder und Geschenke zu.

Am Wochenende macht er mit Freunden Ausflüge und geht essen – am liebsten ins Lokal „Ebnisee“ in der Senefelderstraße, wo sonntags schwarz für sie mitgekocht wird. Auf einem Foto vor dem Lokaleingang sieht man Schilder von Coca-Cola und Dinkelacker, darunter eines mit Hakenkreuz und der Aufschrift „Hier verkehrt der Nationalsozialist“.

Schon 1943 ist vieles anders: Luxusrestaurants und Bars werden geschlossen. Das Personal muss an die Front, Lustbarkeiten sind nicht mehr zu vertreten. Der Fremdenverkehr kommt fast zum Erliegen, Hotels werden als Lazarette und Sanatorien für Soldaten genutzt. Als der Krieg zu Ende ist, liegen 24 von 34 Innenstadthotels in Trümmern.

Und doch geht es weiter. Die Schnellgaststätten erleben eine Renaissance, angetrieben unter anderem von Elsa Rommel, geborene Dörr. Ihre Tochter Doris Radmann führt bis 1973 führt mit ihrem Mann die Gastronomie im Fernsehturm und versorgt 16 Sommer lang die Festspielgäste in Bayreuth. Das 1944 ausgebombte Café der Familie Rösslein eröffnet nach dem Abriss des Marstallgebäudes 1958 im Königsbau neu.

Sie steht heute noch:
Die Geschichte einer Litfaßsäule

Stuttgart - Es ist ein Kampf zwischen Wirtschaft und Ästhetik: Die einen wollen den Handel wieder ankurbeln, Wähler gewinnen oder für ihre Produkte werben. Andere stören sich an zerfetzten Papierbögen, die sich nach einem Regenguss zum Boden neigen. „Machen schon die physischen Trümmer einen schmerzvollen Eindruck, umso mehr diese Plakate an den Trümmern und deren Grundstücke. Woher haben sie übrigens bei der Papierknappheit so viel Papier?“, schreibt ein Stuttgarter Rechtsanwalt kurz nach Kriegsende an die Stadtverwaltung.

1948 gibt es in Stuttgart mehr als 100 Anzeigen wegen illegalen Plakatierens. Sechs Jahr davor gelten die Regeln der NS-Herrscher. Mit der Machtübernahme gründen sie den Werberat der deutschen Wirtschaft – eine Institution des Propagandaministerium, die regelmäßig Vorschriften für Reklame veröffentlicht. 1934 wird beschlossen, dass in jedem Ort eine Plakatsäule pro 1000 Einwohner stehen muss. Zwangsweise wachsen in der Folge Werbeflächen aus dem Asphalt.

Eine davon steht an der Ecke Alexander-/Etzelstraße. Sie wird 1942 von einem der Fotografen festgehalten, die den Bestand für unser Projekt „Stuttgart 1942“ erstellten. Der Zement überdauert den Zweiten Weltkrieg, die Säule steht bis heute an dieser Stelle. Die Werbung darauf hat sich allerdings verändert: 1942 wird für Mineralwasser aus der Gottlieb-Daimler-Quelle und seine heilende Wirkung geworben – heute für vegetarische Chicken Nuggets und Kondome.

Im Dritten Reich floriert das Geschäft mit der Werbung so sehr, dass Klebstoff knapp wird. 1935 wendet sich das Süddeutsche Plakatierungs- und Reklamebüro mahnend an seine Mitarbeiter: Der Kleisterverbrauch sei ungeheuer groß und daher solle mit Kleistermehl sparsam umgegangen werden.

Werbung ist auch an anderen Stellen präsent. Im Schwimmbad wird für Badeanzüge, Sonnencreme und Sportgeschäfte geworben. In den Stuttgarter Straßenbahnen kleben Fenstertransparente an den Scheiben, die sehenswerte Orte in Stuttgart zeigten und an Haltestellen stehen Uhrensäulen mit Werbeflächen. Selbst der Cannstatter Schlachthof verkauft freie Flächen an Reklameunternehmen.

Viel geworben wird um 1942 zudem für den Fremdenverkehr. In einer Reisebeilage der Propagandazeitung „NS-Kurier“ heißt es: „Wehe den Daheimgebliebenen, ich warne die Saboteure der Reisezeit.“ Daneben eine ganze Seite mit Werbeanzeigen für Destinationen wie den Welzheimer Wald oder Herrenberg.

Selbst kleinere Ortschaften lassen damals Flyer drucken – darunter Plieningen, der Prospekt lagert in mehreren Varianten im Stuttgarter Stadtarchiv. „Plieningen Hohenheim – der schöngelegene Filderort“, titelt die finale Version. Auf der zweiten Seite steht ein Gedicht über die Filder, das offenbar einige Korrekturrunden hinter sich hat. Ein Sekretär des Bürgermeisters regt an, es vor dem Abdruck „einem Plieninger Lehrer vorzulegen, der eine etwas poetische Ader hat.“

Schon vor Kriegsende beschweren sich immer mehr Menschen über die massiven Plakatsäulen in Wohngebieten und Plakattafeln mitten in der Landschaft, Anwohner klagen über unerlaubten Anschlag am Gartenzaun. Schließlich verbietet der Werberat Reklame in freier Landschaft, an Landstraßen und Bahnstrecken.

Kurz darauf kapituliert Deutschland, der Werberat wird aufgelöst. Die Werbebranche ist damit weitgehend unreguliert, Plakatanschlag wird bald wieder zum Problem. Schließlich entscheidet die Stadtverwaltung, dass der Reklameanschlag an Säulen, Tafeln und auf öffentlichen Plätzen vom Ordnungsamt abgesegnet werden muss – so ist es bis heute.

Die Litfaßsäule an der Alexanderstraße hat all das überdauert. Eine dicke Papierschicht zeugt von ihrer Beständigkeit. Den Kampf zwischen Wirtschaft und Ästhetik hat die Zeit entschieden.

Essay zur Visual History:
Wie schaut man Fotos aus der Nazizeit „richtig“ an?

Stuttgart - Essays über historische Fotos beginnen selten mit Interna aus der Eventplanung. Dennoch ist die folgende Episode aus dem Sommer 2020 ein guter Anlass, um über unser Verhältnis zu Bildern aus der Nazizeit nachzudenken.

Die Fotos aus dem Stadtarchiv, die mit dem Projekt „Stuttgart 1942“ verwertet werden, sollten im November bei der Einkaufsnacht „S-City leuchtet“ zu sehen sein. Die Veranstalterin des Shoppingevents, die City-Initiative Stuttgart, ließ ein Konzept für die Bildpräsentation erstellen und fragte Händler, Banken und andere Institutionen an, ob sie mitmachen. Man würde, so die Hoffnung, neue Zielgruppen erreichen und diese zum Nachdenken über die Stadt und ihre Entwicklung bewegen. Der einzigartige Bestand zeigt schließlich eine Stadt, die in den Bombennächten 1943ff. und während des anschließenden Wiederaufbaus in großen Teilen verschwunden ist.

Dass man von der Idee abkam, hatte letztlich fachliche Gründe. Man bekommt diese Fotos nur mit viel (Kon-)Text wirklich zum Sprechen, und wenn die Menschen eigentlich zum Shoppen unterwegs sind, stört so etwas wohl eher. Bemerkenswert, und daher dieser Einblick in die Interna, war allerdings der Nazismusverdacht, mit dem das Projekt konfrontiert wurde. Eine Einzelhändlerin, vorab wegen einer Kooperation angesprochen, schrieb einen Brandbrief an die Ratsfraktionen, die sich teilweise in beredtes Schweigen hüllten, teilweise widersprachen. Dem SWR hatte auch jemand Bescheid gesagt. Nazibilder anlässlich der Einkaufsnacht? Das wäre doch ein hübscher Skandal am Abend vor der Oberbürgermeisterwahl. Schließlich entstanden die Bilder unter den Bedingungen der Naziherrschaft, wohl in Vorbereitung eines Stadtumbaus nach dem erhofften „Endsieg“. Unser Verhältnis zu den 80 Jahre alten Fotos muss also offenbar grundlegend geklärt werden, zumal derzeit die letzten Beiträge unseres Projekts erscheinen.

Was sagen uns also die Bilder aus dem Jahr 1942 über unser heutiges Leben, die heutige Stadt? Wie viel Nazismus steckt in diesen Fotos? Wie muss man sie betrachten, um über jegliche Vorwürfe erhaben zu sein? Ein guter Ansprechpartner für diese Frage ist Gerhard Paul. Er steht wie kaum ein Zweiter für die „Visual History“, die Geschichte anhand der Bilder erforscht – so wie unsere Redaktion ausgehend von den 1942er-Bildern Fragestellungen und Berichterstattung entwickelt hat. Der Kieler Historiker kann zumindest vordergründig nichts spezifisch Nationalsozialistisches auf den Bildern erkennen. „Parteigebäude und Hakenkreuze waren damals im Stadtbild nicht typisch“, sagt Paul – auch wenn die im Geschichtsunterricht gezeigten Propagandabilder einen anderen Eindruck erwecken mögen.

Der Krieg ist auf den Stuttgarter Bildern so fern wie die damaligen Schlachtfelder. Bis zum Beginn der Flächenbombardements in jenem Jahr sei im Deutschen Reich eine gewisse Normalität prägend gewesen, sagt Gerhard Paul. Das sei auch fotografiert worden: „Das Regime wollte Ruhe garantieren. An der Heimatfront sollte es still sein.“

Nun sind die Bilder für „Stuttgart 1942“ im Auftrag des Stadtmessungsamts entstanden und waren nie zur Veröffentlichung bestimmt. Weil sie viele Alltagsszenen einfangen und ein verlorenes Stadtbild dokumentieren, sind sie aus heutiger Sicht trotzdem veröffentlichungswürdig. Was aber sieht man auf diesen Fotos eigentlich – und was nicht?

Ein urbanes Idyll seien Städte wie Stuttgart jedenfalls nicht gewesen, sagt Gerhard Paul. Zwar sieht man kaum Autos auf der Straße, stattdessen spielende Kinder. Doch Fotos haben keine Tonspur. Nicht nur die wenigen Kraftfahrzeuge waren damals laut, sondern auch Hinterhofwerkstätten, alte Maschinen sowie Fahrräder, die mangels Gummi oftmals auf Felgen übers Kopfsteinpflaster rollten. Angenehm gerochen hat es auch nicht überall. Die Menschen hatten wenig zu essen, es fehlte an vielem, Tanzen war nicht erlaubt, und sonntags fuhren keine Busse. Die Bilder zeigen eine „ungeheure Normalität“, die man sich heute so kaum mehr vorstellen kann – auch, weil die Fotos nur einen (Bild-)Ausschnitt der damaligen Alltagserfahrung erfassen.

Zumal auch jene Normalität, unsere Berichterstattung hat es immer wieder aufgezeigt, just in diesem vom Stadtarchivdirektor Roland Müller so bezeichneten „Jahr der Eskalation“ brüchig wird. An der Oberfläche wirkt vieles normal: Geschäfte haben geöffnet, Straßenbahnen fahren, man sieht Menschen auf der Straße. Und doch sind etliche Waren rationiert; die jungen Männer kämpfen an der Front, und fast immer blickt man in angespannte Gesichter. Wie es hinter den Fassaden und in den Menschen ausgesehen hat, können die Fotos nicht zeigen.

Natürlich haben, als die Fotografen auf den Auslöser drückten, deutsche Soldaten anderswo Kriegsverbrechen und Massenmorde begangen; die letzte große Juden­deportation aus Stuttgart fand kurz vor Beginn der Fotoaktion statt. Dass die Bilder in einer insgesamt schrecklichen Zeit entstanden sind, steht außer Frage. Und doch wäre es ein Fehler, das Toxische dieser Jahre auf die Bilder zu projizieren. Sie sind in ihren historischen Kontext eingewoben. Gerade deshalb sollten sie betrachtet werden – auch weil wir diese Fotos ganz anders anschauen (können), als es damals vorgesehen und vorstellbar war.

Die Bilder fordern uns heraus, zum Beispiel zu ästhetischen Urteilen. „Die Stadt war früher schöner“ ist eines, das oft ausgesprochen wird. Auf den Fotos wandelt man durch ein Stuttgart-West voller Altbauten, durch das Bohnenviertel im Originalzustand und sieht rund um den Marktplatz jahrhundertealte Bausubstanz. Solche Bilder erzeugen oft Nostalgie, gerade in Städten wie Stuttgart, wo seit 1945 radikal modern gebaut und die autogerechte Stadt Realität wurde.

Beides gefällt heute vielen Menschen nicht mehr. Zwar wird in Stuttgart anders als in Frankfurt oder Berlin keine Altstadt neu oder ein Schloss wieder errichtet. Dafür plant die Stadt den Rückbau der B 14. Auch im Kleinen will man heute lieber weniger Autos auf den Straßen sehen, man denke an Initiativen wie die Wanderbaumallee oder die Parklets in den Innenstadtbezirken. Fast scheint es, als wären die quasi autofreien Straßen von Stuttgart 1942 das Vorbild für diesen neuerlichen Städteumbau.

Die Grünen im Stadtrat erwähnen „Stuttgart 1942“ in einem Antrag, der eine „neue Erinnerungskultur“ fordert – damit klar wird, „an was wir uns gerne erinnern wollen und was wir nicht vergessen dürfen“. So etwas mündet kaum in konkrete Politikvorschläge. Aber darüber sprechen ist allemal drin. Unterzeichnet hat den Antrag unter anderem der Fraktionsvorsitzende Andreas Winter. Die Debatte über die 1942er-Bilder bei der Einkaufsnacht hat auch ihn und seine Mitstreiter im Rat erreicht. Zwar kann es Erinnerungskultur sein, die einkaufende Masse auf der Königstraße mit solchen Fotos zu konfrontieren. „Als schmückendes Beiwerk zu einer Konsumveranstaltung sind sie aber nicht geeignet“, glaubt Winter.

Diskussionsbedarf gebe es dennoch. „Heute stört uns vieles von dem, was nach 1942 kam: Lärm und Gestank, zu viel Autoverkehr, zugeparkte Gehwege und so weiter“, sagt Winter. Die Bilder von 1942 seien ein guter Anlass, um über Stuttgarts Geschichte und Entwicklung zu sprechen. Deshalb müsse man mit dem städtebaulichen Wettbewerb zum Rückbau der Stadtautobahn B 14 noch lange nicht exakt den damaligen Zustand wiederherstellen.

Zwar zeigen die Bilder heute geradezu Unvorstellbares, etwa eine Gruppe von Mädchen, die unbeschwert über die Hauptstätter Straße schlendert. Die für den Ausbau zur Stadtautobahn nötige Breite hatte die Verkehrsachse aber schon damals. Straßenbahnen rollten Richtung Neckartor, seinerzeit bereits ein Verkehrsknotenpunkt. Die Autos, die auf den gewaltigen Verkehrsachsen unterwegs sein sollten, wurden kriegsbedingt nicht gebaut oder waren von der Wehrmacht requiriert. Und doch kann man sich mit den Bildern vorstellen, wie es wäre, wenn die Straßen so wie damals den Kindern gehören würden und nicht dem motorisierten Individualverkehr.

Von diesen Bildern geht auch deshalb so viel imaginative Kraft aus, weil man die Stadt darauf durchaus erkennt und die Unterschiede zum heutigen Zustand deutlich hervortreten. Der Vergleich von damaligem Abbild und heutiger Realität regt zum Nachdenken und Diskutieren an.

Walter Ercolino tut das eifrig, nicht nur beruflich als Leiter des Popbüros. Zur Stuttgarter Erinnerungskultur trägt er auch auf Facebook bei – zum Beispiel wenn er die Frage stellt, ob die Serie „Stuttgart 1942“ nicht zu viel „Nostalgiegedudel“ erzeugt, wo doch in diesem Jahr die letzten Stuttgarter Juden deportiert wurden. Daran müsse man doch vor allem erinnern.

„Man kann keinem, der damals zehn war, vorwerfen, dass er ein Nazi war“, sagt Ercolino. Und doch zeigten die Bilder einen Alltag, „der durchdrungen war von Dingen, die für die Leute damals wohl keine Rolle gespielt haben“ – etwa Naziideologie und die in ihrem Geiste begangenen Verbrechen. „Das zeigen diese Bilder nicht. Auf ihnen ist eine Leere“, findet Ercolino. Und: „Viele wissen, was damals passiert ist. Aber man sollte nicht davon ausgehen, dass das in allen Köpfen ist.“

Die Kunst ist, diesen Kontext dazuzuschreiben und trotzdem den Alltag der Menschen damals so zu lesen, wie sie ihn selbst empfunden haben mögen. „Diese Bilder in Schaufenstern zu zeigen wäre schon eine Provokation“, findet Ercolino. Vor allem müssten sie einmal öffentlich ausgestellt werden. „Facebook ist das falsche Medium für einen Austausch“, glaubt er. Das zeigten die vielen Kommentare, die lobten, wie hübsch Stuttgart 1942 gewesen sei. „Ich sehe auf den Bildern nicht nur Schönes“, sagt Ercolino.

„Stuttgart 1942“ soll nicht das Erinnerungswürdige aus den Geschichtsbüchern gegen das Banale auf den Fotos ausspielen, sondern beides vereinen. Themen, die man etwa in der Ausstellung im Hotel Silber findet, wurden neben all jene Fragen gestellt, auf die kaum jemand spontan die Antwort kennt: Wo haben die Leute eingekauftwas haben sie gegessenwie kamen sie von A nach B? Das Banale von damals ist heute interessant, weil es 80 Jahre später manchmal fast schon exotisch wirkt.

Die ethnografischen Exkursionen in den Stuttgarter Alltag 1942 sind kein „Ja, aber“-Annex zu den schlimmen Umständen dieser Zeit. Die Menschen lebten auch an der noch friedlichen Heimatfront kein fröhliches Leben. Aber eben auch nicht immer das exakte Gegenteil davon. Wann sollte man dafür sensibler sein als nach einem Jahr Pandemie, in der sich auch unser Alltag permanent verändert? Die Umstände lassen sich nicht mit denen des Jahres 1942 vergleichen. Doch die Betrachtung des Alltags und die Diskussion über die kleineren und größeren Dinge, die unser Leben bestimmen – das alles kann man mit den Bildern von 1942 üben.