Gustavs letzter Gang
von Judith von Plato
300 Bratwürste, 25 Kilo Gulasch, 30 Kilo Hackfleisch. Das und viel mehr soll aus Gustav werden. Dafür wird der 350-Kilo-Bulle aus Krielow geschlachtet. Vom Leben und Sterben eines Bullen in Brandenburg.
Das Neonlicht ist grün. Die Wände sind grün. Der glatte Fußboden ist grün. Das Licht soll der Beruhigung dienen. Der Beruhigung der Tiere, sagen die Menschen. Gustav steht in einem roten Transporter, der direkt an dem Hintereingang des Hauses in Görzke parkt. Die Gittertür des Wagens ist geöffnet, aber Gustav kommt nicht heraus. Aus dem Transporter hinaus führt nur ein Weg: durch den grünen Raum hindurch in den Schlachtraum
Gustav ist zwei Jahre alt und 350 Kilo schwer. Er ist ein Bulle aus Krielow. An diesem Mittwoch wird er geschlachtet. Seine ist eine von rund 28.700 jährlichen Schlachtungen von Rindern in Brandenburg. So viele zählte 2020 das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Vor dreißig Jahren waren es noch über 153.000.
Unter Bullen
Zwei Stunden früher und 55 Kilometer von dem Schlachthof entfernt liegt der Nebel über den Feldern von Krielow. Noch ist es ruhig auf dem Landwirtschaftsbetrieb von Marco Hintze. Eine Katze leckt säuberlich ihre Pfote. Im Stall kauen die Bullen gemächlich vor sich hin. Gustav ist einer von ihnen. Ein paar Meter weiter parkt ein roter Transporter. Von ihm führt eine Rampe direkt in den Stall.
Der 49-Jährige Marco Hintze mit Latzhose und Käppi betritt den Stall. Seinen Mitarbeiter Dieter Krause hat er im Schlepptau. Ihre Augen sind auf Gustav gerichtet. Ihn wollen sie auf den Laster verfrachten. Warum Gustav? Weil er gut gefressen hat der Gustav. Er ist gerade der schwerste von Hintzes Bullen. Der Appetit – sein eigener und der der Menschen – wird ihm zum Verhängnis.
Die Bullen werden unruhig. Mit seinem dunklen kastanienbraunen Fell hebt sich Gustav von seinen Stallgenossen ab. Er rennt – so weit es eben geht in dem Stall. „Der hat mir nie verziehen, dass ich ihn kastriert habe“, erklärt Hintze Gustavs Unruhe.
Vom Stall auf den Schlachthof
Gustav mischt sich unter die anderen Bullen. Ein hoffnungsloser Versuch, dem gelassenen, routinierten Bauern zu entkommen. Erst wird Hintze ihn separieren. Dann wird er ihn auf den Transporter treiben und die 55 Kilometer über die unebene Autobahn und noch unebenere Landstraßen zur Metzgerei Zimmermann tuckern.
Auf dem Beifahrersitz liegen die notwendigen Dokumente: Gustavs Rinderpass – ein unspektakuläres blau-weißes Din-A-5-Blatt. „Der Personalausweis für Rinder“, scherzt Hintze. Und eine Auflistung dessen, was aus Gustav werden soll: 300 Bratwürste, 25 Kilo Gulasch, 45 Kilo Braten, 30 Kilo Hackfleisch, 20 Kilo Rouladen, ein paar Gläser Leberwurst. Die Liste ist lang. Auf der Rückbank des kleinen LKW stapeln sich graue Plastikboxen – für die Reste von Gustav, die die Hunde in den nächsten Tagen fressen werden.
Regionales Schlachten mit EU-Zulassung
Ankunft bei der Metzgerei Zimmermann und Sohn. Wie Hintzes Bauernhof ist sie ein Familienbetrieb. 1890 gründeten die Zimmermanns sie und führen sie inzwischen in sechster Generation. Ein Vorzeigebetrieb. Sohn Zimmermann gewann 2019 sogar den Nachhaltigkeitspreis des Kreistages von Potsdam-Mittelmark für sein Konzept, Plastikmüll zu reduzieren. Als eine der wenigen in der Region hat die Schlachterei eine Zulassung der Europäischen Union. Diese ist Voraussetzung dafür, dass Hintze Gustavs Einzelteile verkaufen darf.
Ein Handwerksgeselle winkt Hintze heran, weist den Transporter ein. Sein Kollege steht bereits hinter der Absperrung in dem grünen Durchgangsraum. Marco Hintze schlüpft noch schnell aus seinen Arbeitsschuhen in Gummistiefel. An ihnen haftet das Blut nicht so hartnäckig. Dann öffnet Hintze das Gitter zur Ladefläche. Der Schlachtergeselle wartet. Unter der Gummi- und der Metallschürze ist er ganz in weiß gekleidet. Nur die Gummistiefel sind grün wie der Raum.
Hinter ihm steht Gordon Mählis, Tierarzt im Auftrag des Landkreises. Sie beide blicken hochkonzentriert zu dem riesigen Bullen, der sich weigert, die Ladefläche zu verlassen. Irgendwann mit viel Zutun seines Bauern poltert Gustav die Rampe hinunter. Der Startschuss für die Experten. Sie rennen los. Alle wissen, was sie zu tun haben. Hinter Gustav wird die Metallbox verriegelt. Der Gang durch den grünen Raum war sein letzter.
Der grüne Raum
Die Metallbox ist so eng, dass er sich kaum bewegen kann. Er versucht es trotzdem. Er wirft sich gegen das Metall. Sein Körper kracht. Die Box hält. Natürlich. Jede Woche hält sie drei bis vier Rindern stand, die hier geschlachtet werden.
Neben den Rindern schlachtet das Familienunternehmen 50 Schweine wöchentlich. Der größte Schlachtbetrieb Deutschlands, Tönnies, tötet und zerlegt, dem Tierarzt zufolge, täglich rund 20.000 Schweine und jährlich 420.000 Rinder.
Jetzt geht es schnell. Ein Schuss in den Kopf mit der Betäubungspistole, einem Bolzenschussgerät, das direkt ins Gehirn eindringt. Doktor Mählis überprüft Gustavs Pupillen. Er ist betäubt. Das Zucken, erklärt er, liegt an den Nervenbahnen, die noch aktiv sind, nicht daran, dass er noch bei Bewusstsein wäre.
Dann sticht der Geselle mit dem Messer in die Kehle. Während er und sein Kollege den Kopf abtrennen, Gustav an einem Bein aufhängen, die dampfende Blutlache wegkärchern, ihn häuten, ausnehmen und zweiteilen, erklärt Doktor Mählis. Er erklärt, dass nur die Hinterbeine zucken dürften, kein anderes Körperteil, sonst habe die Betäubung nicht gewirkt.
Tierschutz beim Schlachten?
Er erzählt, wie er Schlachthoftierarzt wurde: „Ich habe meine Doktorarbeit über Tierschutz geschrieben. Viele verstehen deshalb nicht, dass ich hier arbeite. Aber gerade beim Schlachten ist Tierschutz notwendig und möglich.“ Tiere beim Töten schützen.
Was klingt wie ein Paradox, ist für den 31-Jährigen aus der Region wichtig. Immer wieder verweist er auf die Großschlachtbetriebe. Die Massenbetäubung durch Gas, die Verletzungen der Tiere durch Massenpaniken, die schlechtbezahlten Arbeitskräfte, die ihre Frustration an den Tieren ausließen. „Hier ist den Fleischern noch bewusst, dass die Tiere Lebewesen sind und dass wir sie mit Demut behandeln müssen.“ Fleisch isst er trotzdem kaum.
Gustav hängt mittlerweile in größeren Teilen am Haken. Der Arzt untersucht dessen Gesundheit: topfit. 14 Tage wird der Bulle nun in einer Kühlkammer „reifen“ – für das besondere Aroma. Bauer Hintze freut sich: „Wie im Bilderbuch hat das funktioniert.“ Während er die Boxen mit dem Hundefutter zusammenpackt, kärchern die Gesellen die letzten Blutreste von Gustav weg. Bald schon wird der glatte Fußboden wieder in frischem Grün erstrahlen.