Dissoziative Identitätsstörung: Die WG im eigenen Kopf

von Lea Hellbach

Zwei oder mehr Identitäten, die sich einen Körper teilen: Elena Löffler erzählt von einem langen Korridor mit Türen an den Seiten. Fiona, Amelie, Sophie oder Tessa – alle haben dort ein eigenes Zimmer. Auch Gemeinschaftsräume gibt es, in denen man sich trifft und Entscheidungen diskutiert oder über den Alltag spricht. Doch der Korridor mit den vielen Zimmern existiert in der realen Welt nicht. Er befindet sich in Elenas Kopf.

Das Digitalprojekt „Dissoziative Identitätsstörung: Die WG im eigenen Kopf“ begleitet die Betroffene Elena und zeigt das Leben mit der Krankheit. Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) – früher auch unter dem Namen Multiple Persönlichkeitsstörung bekannt – ist eine psychische Erkrankung, bei der die sich entwickelnden Persönlichkeitszustände durch schwerwiegende und wiederkehrende Traumata in früher Kindheit abgespalten werden. 

Neben persönlichen Einblicken in Elenas Welt und ihre Geschichte, die mit verschiedenen multimedialen Tools (Video, Foto und interaktive Elemente) dargestellt wurden, zeigt das Projekt, wie die Krankheit entsteht, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt und mit welchen Problemen Betroffene zu kämpfen haben. Ebenfalls werden die verschiedenen Ansätze der klassischen Medizin und der Arbeit von Psychotherapeuten dargelegt.

Ziel des Projektes ist es unter anderem, die Erkrankung der Öffentlichkeit vorzustellen und mit Vorurteilen aus Film und Fernsehen aufzuräumen. Aber es soll ebenfalls zeigen, dass ein normales und glückliches Leben auch mit einer solchen schwerwiegenden psychischen Störung möglich ist.

Collage Türen
privat

Ein langer Korridor mit vielen Türen an den Seiten. Jeder hat dort sein eigenes Zimmer. Auch Gemeinschaftsräume gibt es, in denen man sich trifft und Entscheidungen diskutiert oder über den Alltag spricht. Doch der Korridor mit den vielen Zimmern existiert in der realen Welt nicht. Er befindet sich in Elena Löfflers Kopf.

Elena, wie sie sich in der Uni, auf der Arbeit oder in den sozialen Netzwerken nennt, hat die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) – früher auch Multiple Persönlichkeitsstörung genannt. „Aber Elena existiert eigentlich gar nicht mehr“, sagt Fiona. Fiona ist eine Identität in dem multiplen System – genau wie Amelie, Sophie oder Tessa. Alle zusammen nennen sie sich die „Ellis“ – abgeleitet von Elena. „Also, es gab mal eine Persönlichkeit namens Elena, aber vor rund einem Jahr ist sie verschwunden.“

Wie viele Identitäten genau in ihrem Kopf existieren, weiß Fiona nicht. So hätte sie eine ganze Liste mit Namen, auf denen sie versucht habe, alle aufzuschreiben, doch auch diese sei unvollständig. „Es sind einfach zu viele“, sagt sie. „Früher haben wir gedacht, wir seien acht Persönlichkeiten. Wir wollten einfach nicht wahrhaben, dass wir viel mehr sind.“ Fiona ist momentan der Host des Systems und somit am häufigsten präsent. „Aber ich bin auf keinen Fall die Hauptperson“, erzählt sie.

Doch was versteht man eigentlich unter einer Dissoziativen Identitätsstörung? Die DIS ist eine psychische Erkrankung, bei der die sich entwickelnden Persönlichkeitszustände durch schwerwiegende und wiederkehrende Traumata in früher Kindheit abgespalten werden. Dabei handle es sich um eine „Bewältigungs- und Überlebensstrategie“ des Gehirns, um die kaum aushaltbaren Gewalt- und Noterfahrungen bewältigen zu können, so Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin Susanne Gorini-Bockius aus Wiesbaden. Bei diesen Traumata handelt es sich meist um psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt, die bis zum Alter von maximal fünf bis sechs Jahren passieren müsse, um eine DIS zu verursachen, sagt Gorini-Bockius.

„Die Krankheit wird nicht durch ein einzelnes Missbrauchserlebnis ausgelöst, sondern wenn Betroffene in der Kindheit lange Zeit schwerer Misshandlung und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang spielt zum Teil auch rituelle Gewalt, also systematische Gewalt und Manipulation in sektenartigen Gruppierungen, eine Rolle“, sagt auch Dr. Hauke Wiegand, Oberarzt an der Universitätsmedizin Mainz. Die Krankheit sei dadurch charakterisiert, dass Betroffene keine Kontinuität in ihrem Identitätserleben und Erinnerungslücken für bestimmte Handlungen und Erlebnisse haben, sagt Wiegand. Manche Identitäten sind ausschließlich beim Erleben von Traumata präsent, andere nur für den Alltag zuständig, sodass Funktionsfähigkeit und Unauffälligkeit nach außen trotz anhaltender Traumatisierung möglich sind. Wie viele Identitäten Betroffene haben, ist unterschiedlich.

Anfang 2018 haben die Ellis die Diagnose DIS erhalten. Fiona und das gesamte multiple System haben in ihrer Kindheit schwere Traumata erlebt, die ihre Persönlichkeit gespalten haben. Doch bis zu ihrer Diagnose und dem darauffolgenden Aufarbeiten mit ihrer Therapeutin hätten sie sich nicht an die Erlebnisse erinnern können, erzählt Fiona. Ein häufiges Symptom von DIS-Patienten ist es, dass sie für traumatische Erlebnisse eine Amnesie entwickeln. „So war das bei uns auch“, sagt Fiona.

Die Diagnose DIS bedeutete also, dass in der Kindheit der Ellis viele traumatische Ereignisse haben stattfinden müssen. Genau das sei es gewesen, was ihr Angst gemacht habe, erzählt Fiona: „Ich war total zerrissen.“ Noch heute haben die Ellis nicht alles aus ihrer Kindheit aufarbeiten können und darüber sprechen wollen sie ebenfalls nicht. Immer wieder erleben sie jedoch Flashbacks und Schmerzerinnerungen aus ihrer Kindheit. Während ihrer Therapie habe sich zusätzlich herausgestellt, dass die Ellis noch immer im Umfeld der Täter gelebt haben. „Ich hatte auch immer blaue Flecken. Ich konnte mich aber nicht erinnern, woher die kommen. Nach der Diagnose konnte ich es mir dann erklären“, sagt Fiona. Heute wohnen sie in einer anderen Stadt. „Ich hoffe, dass wir jetzt sicher sind.“

Schon Jahre zuvor seien sie in psychiatrische Behandlung gekommen. Damals wegen selbstverletzendem Verhalten und Essstörungen. „Wir konnten uns nicht erklären, was mit uns los war. Wir haben gedacht, das Leben sei perfekt. Aber wir waren einfach nur traurig, ohne uns das erklären zu können“, so Fiona. An die Selbstverletzung selbst konnten sich die Ellis im Nachhinein nicht erinnern, sagt sie. „Manchmal bin ich aufgewacht und hatte Verbrennungen.“ Später stellte sich heraus, dass es eine bestimmte Persönlichkeit war, die dem Körper die Verletzungen zugefügt habe. Vor rund drei Jahren haben sie alle mit der Selbstverletzung aufgehört. Wie viele DIS-Patienten erhielten auch die Ellis im Vorfeld verschiedene Diagnosen. So seien ihnen die Borderline-Persönlichkeitsstörung oder auch mehrere Psychosen attestiert worden.

Während eines stationären Aufenthalts in einer Traumaklinik haben sie dann erfahren, dass sie „viele sind“. „Ich habe das gar nicht angenommen und mich sofort entlassen“, erzählt Fiona. Doch als auch ihre Therapeutin ihnen die Diagnose bestätigte, mussten sie sich langsam mit dem Gedanken anfreunden. „Auf der einen Seite waren wir erleichtert, da die Diagnose so viel erklärt hat. Es hat so vieles einfach Sinn ergeben.“

Damit ein multiples System funktionieren kann, ist es wichtig, dass die Zusammenarbeit zwischen den Identitäten immer weiter gestärkt wird. Gerade am Anfang sei es Fiona und den anderen allerdings sehr schwergefallen, zu kommunizieren, erzählt sie. „Wir haben dann angefangen, alles aufzuschreiben. Was wir den ganzen Tag gemacht haben oder was wir in der Therapie besprochen haben.“ Da bei den restlichen Identitäten meist eine Amnesie herrscht, wenn beispielsweise Fiona die Kontrolle übernimmt, konnte man so immer nachlesen, was in den vergangenen Stunden geschehen ist.

„Wir können mittlerweile aber auch im Innen mit den anderen sprechen oder bekommen es mit, wenn jemand etwas sagt und seine Meinung zu etwas preisgibt.“ Und das komme gar nicht so selten vor – in ihrem Kopf herrsche immer Kommunikation, sagt Fiona.

Vor allem die Konzentration falle den Ellis oft schwer. „Es ist ja wie ein Radio, welches die ganze Zeit in deinem Kopf läuft“, sagt sie. In ihrer Therapie arbeiten Fiona und die anderen nun an der Stärkung ihrer Kommunikation. Für diese gibt es auf dem Korridor der Ellis sogar eigene Gemeinschaftsräume, erzählt Fiona.

Wenn ein anderer Anteil vorne ist und Fiona eine Amnesie für diesen Zeitraum erleidet, kann sie mittlerweile dank der Arbeit in ihrer Therapie, in ihrem Innen „nachfragen“, was in der Zeit passiert ist. „Je nachdem, ob mich die Persönlichkeit mag, sagt sie mir das dann auch“, erklärt Fiona. Denn auch wenn sich die Anteile einen Körper teilen, verstehen sie sich untereinander nicht immer gleich gut. So werde zwar viel untereinander besprochen und diskutiert, aber längst nicht alles. „Das wäre schön“, sagt Fiona lachend.

Neben einem eigenen Charakter habe jede Persönlichkeit eine eigene Handschrift, eine eigene Art zu sprechen und eine andere Klangfarbe der Stimme. „In der Schule beispielsweise haben mir meine Lehrer manchmal nicht geglaubt, dass wirklich ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Weil wir alle verschiedene Handschriften haben“, erinnert sie sich lachend. „Auch unsere Uniaufzeichnungen und unser Tagebuch bestehen aus ganz vielen verschiedenen Handschriften“, sagt Fiona.

„Manche von uns sind zum Beispiel auch Linkshänder und wenn dann jemand im Co-Bewusstsein ist, ist es manchmal auch möglich, mit zwei Händen gleichzeitig zu malen“, erzählt Fiona. Co-Bewusstsein bedeutet, dass ein Anteil mitbekommen kann, was passiert, auch wenn ein anderer Anteil gerade vorne ist – wenn dieser es zulässt. Man könne sich das so vorstellen, dass die Tür auf dem Korridor, die ins Außen beziehungsweise nach vorne führt, nicht vollends geschlossen sondern offen ist. Zwar geht nur eine Persönlichkeit hindurch, ein anderer Anteil kann aber durch die Tür schauen und sieht, was passiert. Gerade beim Malen gebe es jedoch auch große Unterschiede zwischen den Identitäten. So könnten einige gar nicht malen, manche malten jedoch auch in anderen Stilen, erzählt Fiona.

Aber auch weitere Unterschiede können bei den Ellis beobachtet werden. „Wir haben zum Beispiel Kontaktlinsen in drei verschiedenen Stärken“, erzählt Fiona. „Wir waren damals echt oft beim Optiker und jedes Mal gab es ein anderes Ergebnis.“ Diplom-Psychologin Susanne Gorini-Bockius erklärt dieses Phänomen damit, dass die unterschiedlichen Identitäten einen unterschiedlichen Stresspegel hätten. Dadurch gebe es auch einen höheren beziehungsweise niedrigeren Adrenalinspiegel. Dieser führe dazu, dass sich die Spannung der kleinen Muskeln an der Linse des Auges verändere und sich somit auch die Form der Linse verändere. Dadurch kann eine Sehunschärfe entstehen. Bei dieser Erklärung handle es sich allerdings nur um Annahmen, sagt Gorini-Bockius. Laut Dr. Hauke Wiegand gebe es zu solchen Phänomenen allerdings keine medizinischen Untersuchungen.

Auch wenn es DIS-Patienten gebe, die nicht ohne Hilfe am aktiven Leben teilnehmen können, haben die meisten Betroffenen durchaus einen Job, ein Studium oder eine Ausbildung. Auch die Ellis studieren Kunsttherapie und arbeiteten längere Zeit im Rettungsdient. Mittlerweile hätten sie einen neuen Job, erzählt Fiona. Ihre Krankheit mache sie dabei allerdings nicht zum Thema.

„Die meisten Menschen merken gar nicht, dass wir eine DIS haben, wenn ich mich zusammenreiße“, sagt Fiona. Zwar laufen sie immer wieder Gefahr bei Einkäufen oder in der Uni Triggern zu begegnen, die einen Switch oder einen Flashback auslösen, trotzdem meide sie die meisten Orte nicht. „Triggern kann man überall begegnen“, sagt Fiona. Ein Trigger ist ein Schlüsselreiz, der beispielsweise einen Switch oder einen Flashback auslösen kann. Betroffene haben dabei ein durch den Trigger ausgelöstes plötzliches, intensives Wiedererleben eines vergangenen Erlebnisses oder früherer Gefühlszustände. Das kann so stark sein, dass die Person unfähig ist, sie als Erinnerung zu erkennen. So kann beispielsweise Spielzeug Kinderanteile triggern.

„Einkaufen ist etwas kompliziert", sagt Fiona. „Wenn wir früher einkaufen gegangen sind, habe ich alles eingepackt. Wenn es dann einen Switch gab, hat die andere Persönlichkeit alles wieder ausgepackt und nur das in den Wagen getan, was sie wollte.“ Heute hätten sie eine Strategie entwickelt, um den Einkauf etwas entspannter zu gestalten, erzählt sie. „Ich schreibe dann eine Einkaufsliste und lege sie für ein bis zwei Stunden auf den Tisch. Dann kann jeder etwas dazuschreiben.“ Gebe es dann im Supermarkt einen Switch, wisse sie trotzdem, was sie einkaufen soll.

DIS-Patienten können es schwer haben, neue Menschen kennenzulernen oder Freunde zu finden. Oft herrscht Scham, Angst vor Ablehnung oder Übergriffen und Unsicherheit. Viele versuchen deshalb, unauffällig zu bleiben und ihre Erkrankung für sich zu behalten. Die Ellis hätten allerdings weniger Probleme, Freunde zu finden, sagt Fiona. Sie gehen heute offen mit ihrer Erkrankung um und verstecken sich nicht mehr. Auch eine langjährige Beziehung habe Fiona bis vor kurzem noch geführt. "Wenn jemand das nicht akzeptiert, dann möchte ich auch nicht mit demjenigen befreundet sein." Deshalb haben die Ellis auch keine Angst vor den Reaktionen. Nur auf der Arbeit und in der Uni wüssten wenige über ihre Erkrankung Bescheid.

Viele, die Fiona und die anderen neu kennenlernen, wüssten jedoch erst einmal gar nicht, was die DIS überhaupt ist. „Die können damit gar nichts anfangen“, sagt Fiona. Angst als Reaktion auf ihre Krankheit habe sie bisher allerdings nicht erlebt.

Nur nach Therapiesitzungen habe sie Probleme, die Wechsel der Identitäten in den Griff zu bekommen. „Bei der Therapie wechselt es manchmal im Sekundentakt. Danach ist es dann oft schwierig, es wieder zu kontrollieren“, so Fiona. Dies liege vor allem daran, dass die Sitzungen eine enorme psychische Belastung für das System seien.

Betroffene von DIS berichten häufig davon, dass es schwer sei, einen Therapeuten zu finden, der sich mit der Krankheit auskennt, die richtige Diagnose stellt und sich der Behandlung auch annehmen möchte. „Es gibt zu wenig Traumatherapeuten“, sagt auch Diplom-Psychologin Susanne Gorini-Bockius.

Bei der Therapie sei zunächst eine Alltagsstabilisierung wichtig, bevor mit einer Traumaverarbeitung begonnen werden könne, sagt Gorini-Bockius. „Jeder Anteil hat seine eigene Interpretation des Geschehenen“, so die Psychologin. Deshalb sei es wichtig für den Therapeuten, diese Sichtweisen zu verstehen. Zusätzlich müssten die Patienten an einer wiederholten Realitätsprüfung, an der Versicherung der therapeutischen Beziehung und der Vermeidung von Triggern arbeiten. Aber auch Emotionsregulation, Selbstversorgung und die Unterscheidung von Realität und Vergangenheit seien wichtige Themen. „Wichtig ist, dass das System unter anderem versteht: ‚Das, was damals passiert ist, betraf uns alle.‘ Und dass das System durch die Traumaverarbeitung begreift, dass es vorbei ist“, sagt Gorini-Bockius.

Dr. Hauke Wiegand ergänzt von einem weiteren Therapieansatz, der aktuell in den Niederlanden erprobt werde. Dabei stünde vor allem eine Expositionstherapie des Traumas im Mittelpunkt. Darüber hinaus versuche die Therapeutin gemeinsam mit den Betroffenen herauszufinden, welche Funktionen für das Überleben die verschiedenen Identitätszustände in der Kindheit der Betroffenen gehabt hätten und warum diese heutzutage nicht mehr erforderlich und eventuell für ein normales Leben sogar schädlich seien. Dies gehe allerdings nur, wenn Betroffene nicht mehr im Umfeld der Täter seien. Da es für beide Therapieansätze jedoch noch keine ausreichenden Studien für die Wirksamkeit gebe, hätten beide ihre Berechtigung, sagt Wiegand. In einigen Therapieansätzen werde es zusätzlich als schädlich angesehen, wenn Patienten in der Wir-Form sprechen, sagt Wiegand. Denn dadurch könne eine Sonderrolle oder Abgrenzung in der Gesellschaft entstehen. Auch die Universitätsmedizin Mainz verfolge diesen Ansatz.

Auch wenn die Ellis während ihrer Arbeit und ihrem Studium nicht offen mit ihrer Krankheit umgehen, wüssten ihre Freunde und ihr Umfeld alle über ihre Störung Bescheid. Denn sie möchten sich nicht mehr verstecken. Deshalb versuchen die Ellis, die Störung in der Öffentlichkeit bekannter zu machen und darüber aufzuklären. „Wir wollen zeigen, dass DIS gar nicht so spektakulär ist, wie es beispielsweise manchmal in Filmen dargestellt wird.“

Denn schon lange ist das Thema DIS in Film und Fernsehen angekommen. Meist werden Betroffene in Filmen als gefährliche und unberechenbare Figuren dargestellt, die nicht selten als Mörder in Erscheinung treten. Gerade der 2017 erschienene Film „Split“ des amerikanischen Regisseurs M. Night Shyamalan sorgte für Kritik bei Betroffenen. In dem Film entführt die Figur des Kevin Wendel Crumb (James McAvoy) drei junge Mädchen. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass Kevin an DIS leidet und 24 Identitäten hat. Doch Betroffene von DIS sind keine Psychopaten. Genau das nahm auch die amerikanische Psychologin Dr. Michelle Stevens, die selbst von der Störung betroffen ist, zum Anlass, ihren Unmut zu Filmen wie "Split" in einem offenen Brief an Shyamalan kundzutun.

Dabei möchte die Amerikanerin darauf aufmerksam machen, dass DIS eine „echte psychische Krankheit ist, die Millionen von echten Menschen betrifft“. Die Darstellung der Krankheit in der Filmindustrie sei ihr deshalb schon lange ein Dorn im Auge. So seien „mörderische multiple Systeme“ in Hollywood schon längst zu einem eigenen Genre geworden.

Auch die Internationale Trauma-Fachgesellschaft (ISSTD) äußerte sich kritisch zu Shyamalans Werk und machte Bedenken deutlich, die Darstellung treibe diejenigen weiter an den Rand der Gesellschaft, „die bereits täglich mit dem Gewicht der Stigmatisierung zu kämpfen haben“. Auch Fiona hat den Film gesehen und fand ihn nicht sonderlich gut, sagt sie. Normalerweise schauen die Ellis sich Filme, die DIS behandeln, allerdings gar nicht erst an.

Für Betroffene sei es außerdem immer noch schwer, Anlaufstellen und Hilfe zu bekommen. Zusammen mit ihrer besten Freundin Nicky Stegemann gründeten die Ellis unter anderem deshalb die Stiftung WIRbelkind, die sich für Betroffene von ritueller Gewalt und DIS einsetzt.

Ihr Ziel dabei sei es, die noch zu großen Lücken im Hilfesystem auszufüllen, zu informieren, das Unaussprechliche auszusprechen und dadurch Tätern ihre Macht zu nehmen. Für WIRbelkind selbst wünschen sie sich, dass ihr Team wachse und sie immer mehr Menschen fänden, die gemeinsam mit ihnen ihre Vision umsetzen wollen. Dabei hoffen sie auf Helfer mit eigener Erfahrungsgeschichte sowie ausgebildete Fachkräfte, damit sie zukünftig eine eigene Hilfestelle bilden können und ihr Aufgabenfeld über die Weitervermittlung hinaus gehen kann.

Selbstverletzung:

Unter selbstverletzendem Verhalten versteht man Handlungen, die gezielt dem eigenen Körper Schaden zufügen sollen. Dieses Verhalten ist jedoch klar von suizidalem Verhalten zu unterscheiden. Die häufigste Form der Selbstverletzung ist das Zufügen von Schnittverletzungen.

Schizophrenie:

Die Schizophrenie ist eine schwere, in vielen Fällen aber auch gut behandelbare psychische Erkrankung. Anders als bei der DIS spielen in der Behandlung auch Medikamente eine wichtige Rolle.  In akuten Phasen der Schizophrenie haben Betroffene sehr fremd anmutende Wahnvorstellungen, die von akustischen Halluzinationen und anderen Wahrnehmungsstörungen begleitet werden können. Dabei leiden Betroffene häufig an einem Verfolgungswahn, hören kommentierende oder zu Handlungen auffordernde, quälende Stimmen und beziehen Ereignisse auf sich, die gar nichts mit ihnen zu tun haben.

„Die Schizophrenie ist leider immer noch eine häufige Fehldiagnose für die DIS, aber auch für die Borderline-Störung“, sagt Dr. Hauke Wiegand. Es gebe aber deutliche Unterschiede: So käme es bei der DIS (und auch Borderline-Störung) nicht zu dem sehr fremd anmutenden Wahnerleben. Bei allen drei Störungen könne es zum Hören von Stimmen kommen, welche für andere nicht wahrnehmbar seien. Patienten mit DIS oder Borderline-Störung berichten aber, dass die Stimmen aus dem eigenen Kopf kommen und zum Beispiel quälende Selbstabwertungen laut hörbar werden. Bei Patienten mit Schizophrenie würden als fremd erlebte Stimmen von außen wahrgenommen.

Für alle drei Störungen seien traumatische Kindheitserfahrungen ein Risikofaktor, sagt Wiegand. Für eine Schizophrenie bestünde aber zudem ein hohes Risiko durch genetische Vorbelastung – also Vererbung – oder auch ausgeprägten Cannabis-Konsum in der Endphase des Jugendalters.

Borderline-Störung:

Auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) handelt es sich um ein schwerwiegendes psychiatrisches Krankheitsbild. „Die Unterscheidung der BPS von der DIS ist schwieriger. Es gibt auch einen nicht kleinen Anteil von Patienten, die beide Erkrankungen haben“, sagt Dr. Hauke Wiegand. Borderline-Patienten leiden unter der Unfähigkeit, ihre inneren gefühlsmäßigen Zustände zu kontrollieren. Dabei sind es vor allem unangenehme Spannungszustände und ein chronisches Gefühl von Leere, die von den Patienten häufig als unerträglich empfunden werden. Dabei können auch intensiv auftretende Emotionen wie übermäßige Wut, Schuld, Scham, Ohnmacht, Selbstverachtung und extreme Angst vor Zuneigung und vor dem Verlassenwerden bei Betroffenen auftreten.

Deshalb entwickeln Patienten oft bestimmte Strategien zur kurzfristigen Linderung des Leidens. Eine dieser Strategien kann Selbstverletzung sein, aber auch der Konsum von Drogen oder gefährliche Verhaltensweisen. Wiederkehrende Suiziddrohungen, -andeutungen oder -versuche aus diesem selbstabwertenden Erleben und aus Verzweiflung über unerträgliche Gefühlszustände heraus können ebenfalls zum Krankheitsbild der Betroffenen gehören. Auch BPS-Patienten durchleben rasch wechselnde Zustände von Identität, Emotionen und Bewertungen, allerdings seien diese laut Wiegand anders als bei DIS-Betroffenen nicht „dissoziiert“, also nicht im Erleben und Erinnern voneinander abgetrennt. Betroffene können sich also zum Beispiel an ihre Motivation für eine Handlung erinnern.

Wie bei der DIS haben auch BPS-Patienten häufig sexuelle und/oder körperliche Gewalterfahrungen und/oder schwere Vernachlässigung in ihrer Kindheit erlebt.