Zwei Jahre Corona - und wir haben wenig verstanden
Von Jakob Simmank
Die Pandemie hat vieles offengelegt. Wie verletzlich wir sind, wie hilflos die Politik. Noch schlimmer aber: wie verzerrt unser Blick auf Gesundheit ist.
Ich beginne diesen Text während einer Zwangspause. Anfang Februar 2022 habe ich mich angesteckt. Während mein Körper von dem Virus geschwächt ist, das die Welt seit zwei Jahren lahmlegt, ruht meine Arbeit als Pandemie-Berichterstatter.
Ich pendle von Couch zu Bett und versuche, meine Frau nicht anzustecken. Wir schlafen in unterschiedlichen Zimmern, ich laufe mit Maske durch den Flur. Einmal, als ich duschen gehe, vergesse ich fast, sie auszuziehen. Das Virus beschäftigt meinen Körper, schenkt meinem Geist Ruhe und erlaubt mir, einen Schritt zurückzutreten.
Nach ein paar Tagen mit der Krankheit aber wird mir klar, dass ich mich als Wissenschaftsjournalist schon vor Monaten aus vielen Debatten zurückgezogen habe.
Die Corona-Nachrichten rauschen an mir vorbei. Christian Drosten soll den Ursprung der Pandemie verschleiert haben, lese ich. Bild-Journalisten fliegen nach Stockholm und trinken – Freedom Day! – Bier in einer Kneipe, so als ginge das nicht auch in Berlin. Statt einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Corona-Politik werden, so scheint es mir, Skandale produziert. Es geht kaum um die Frage, auf die es eigentlich ankommt: Wie gehen wir mit einem Virus um, das noch auf Jahre Leid anrichten wird? Stattdessen drehen sich die Nachrichten um ungeschickt hingeworfene Zahlen des Gesundheitsministers ("Wieder bis zu 500 Tote pro Tag").
Vor genau zwei Jahren beschlossen Bund und Länder den ersten Lockdown. Schon seit Monaten sind Fragen rund um Corona tagespolitische Fragen. Für einen Wissenschaftsjournalisten wie mich ist inzwischen in diesen Diskussionen nicht mehr viel zu holen.
Die Pandemie ist in den zwei Jahren zu einem Thema geworden, das polarisiert. Viele Bürgerinnen, Politiker und selbst Expertinnen haben sich in ihrem Lager eingerichtet. Die einen reden sich ein, dass Ansteckungen kein Problem mehr sind, weil in der Endemie alles gut sein wird. Die anderen fordern, jeden Fall von Long Covid und jeden Corona-Toten zu verhindern, koste es, was es wolle. Auf Twitter werde ich inzwischen von beiden Seiten attackiert.
Es stört mich nicht, dass diese Pandemie politisiert wird. Es ist eigentlich genau richtig. Die Wissenschaft hat geliefert, etwa Tests und Impfstoffe, die erstaunlich gut vor schwerer Krankheit schützen, aber auch Wissen darüber, wie Corona übertragen wird. Mit diesem Wissen und diesen Werkzeugen muss nun Politik gemacht werden. Es müssen schwere Fragen beantwortet werden, wie: Wie viele Tote nehmen wir in Kauf, um individuelle Freiheiten zuzulassen? Und ist eine Impfpflicht gerechtfertigt?
Was mich aber stört, ist die Schnappatmung der Tagespolitik. Dass im Lärm und der Reflexartigkeit der Diskurse die essenziellen Fragen verloren zu gehen scheinen. Allem voran die Frage, wie wir denn auf lange Frist mit diesem Erreger umgehen wollen.
Ich muss an ein Interview denken, das ich vor einem Jahr mit dem Medizinhistoriker Mark Honigsbaum geführt habe. Honigsbaum hat über die Spanische Grippe geschrieben und die Aids-Pandemie, über Zika und die Affenpocken. Honigsbaum ist der Chronist der Pandemien des 20. Jahrhunderts. Ihm geht es nicht um Medizin allein, sondern immer darum, wie ein Virus eine Gesellschaft verändert, auf die es trifft.
In unserem Gespräch traf Honigsbaum eine begriffliche Unterscheidung, an die ich seitdem oft denken muss: zwischen Notfall und Krise. Nach Notfällen könnten Gesellschaften meist schnell wieder zum alten Normalzustand zurückkehren, sagte er. Der Ebola-Ausbruch 2014/15 in Westafrika sei für die Welt ein solcher Notfall gewesen. Damals breitete sich das Ebola-Virus erstmals massiv über Ländergrenzen aus, noch dazu in einer Region mit denkbar schwachen Gesundheitssystemen. Mehr als zehntausend Menschen starben, aber als die Welt – zu spät – entschieden eingriff, konnte die Situation unter Kontrolle gebracht werden (The Lancet: Moon et al., 2015).
Krisen hingegen "verlangen von uns, dass wir Normalität neu definieren und mit der Vergangenheit brechen", sagte mir Honigsbaum. Und Covid-19, da war sich Honigsbaum sicher, sei kein Notfall. Sondern eine Krise auf allen Ebenen: der medizinischen, der sozialen, der politischen, der kulturellen und der ökonomischen.
In anderen Worten: Sehr vieles wird nach Corona anders sein als vorher.
Ich glaube, Honigsbaum hat recht. Wenn der Ebola-Ausbruch dem Bruch eines einzelnen Dammes im Kampf gegen epidemische Erreger glich, dann ist die Covid-19-Pandemie ein Anstieg des Meeresspiegels. Überall auf der Welt wurden die Dämme überspült. Es reicht also nicht, neue Dämme zu bauen. Wir müssen ganz neu über Hochwasserschutz nachdenken. Die Corona-Pandemie ist kein Notfall, den wir einfach hinter uns lassen können. Stattdessen sollten wir versuchen, zu verstehen, was uns diese Pandemie lehren kann. Was wir in Zukunft anders machen sollten.
Tatsächlich gibt es so viele Baustellen, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Man könnte damit beginnen, dass wir auch zwei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie viel schlechtere Daten haben als etwa Großbritannien. Wir haben bis heute keine repräsentative Stichprobenstudie, die uns ein akkurates Bild über die Infektionslage liefert. Und wir können nicht in Echtzeit sagen, wie viele Menschen mit oder wegen Corona ins Krankenhaus kommen. Man könnte auch aufzählen, dass es den größten Teil der Pandemie über keine einheitlichen Regeln gab, keine systematische wissenschaftliche Politikberatung – und die kleinsten Dinge ("Dürfen Kosmetikerinnen jetzt wieder aufmachen?") auf höchster politischer Ebene, bei der Ministerpräsidentenkonferenz, entschieden wurden, was furchtbar ineffizient war.
Aber genau das möchte ich nicht. Denn eine endlose Liste an Versäumnissen zu erstellen, hieße, die Corona-Pandemie wie einen Notfall zu behandeln und nicht wie die grundlegende Krise, die sie ist.
Stattdessen will ich zeigen, dass die Corona-Krise offenbart hat, wie verzerrt unser Blick auf Gesundheit ist. Wir begreifen Gesundheit als Privatsache und verlieren dabei aus dem Blick, wie sehr es die Gesellschaft ist, die die Bedingungen schafft, unter denen Menschen gesund sind oder krank werden. Das macht uns auch blind dafür, wie sehr Einkommen und sozialer Status sich darauf auswirken, ob Menschen gesund oder krank sind – in einer Pandemie und darüber hinaus. Und schließlich hat die Corona-Krise uns auch gezeigt, wie sehr es eine Gemeinschaftsaufgabe ist, das Wissen zu schaffen, das uns hilft, Gesundheitskrisen zu bewältigen.
Wenn Individualmedizin an ihre Grenzen stößt
Im Januar 2020, Stunden bevor der erste deutsche Corona-Fall aus Oberbayern gemeldet wurde, sechs Wochen bevor Deutschland in den Lockdown ging, telefonierte ich mit dem Vizepräsidenten des Robert Koch-Instituts, Lars Schaade. Deutschland sei gut auf das neue Coronavirus vorbereitet, sagte er. Es gebe Pandemiepläne, Tests stünden bereit, die wichtigsten Stellen seien miteinander in Kontakt, die Meldeketten klar.
Ich bin mir im Rückblick sicher, dass Lars Schaade nicht versuchte, zu beschwichtigen. Er glaubte, was er sagte. Und ich wollte ihm glauben. Schaade kannte genau wie ich wissenschaftliche Indizes, die Ländern wie Deutschland und den USA bescheinigten, gut auf Epidemien und Pandemien vorbereitet zu sein.
Und in gewisser Weise behielt Schaade recht. Um auf Honigsbaums Unterscheidung zurückzukommen: Auf einen Notfall war Deutschland, wie übrigens weite Teile der Welt, gut vorbereitet. Es gelang, den ersten Corona-Ausbruch beim Automobilzulieferer Webasto binnen Tagen einzudämmen. Die Gesundheitsämter machten Kontaktpersonen rasend schnell ausfindig, Labore werteten Tests binnen weniger Stunden aus, Patienten wurden isoliert und behandelt. Die ersten Infektionsketten in Deutschland waren gebrochen.
Doch schon einen Monat später war die Lage eine andere. Mit den Menschen, die infiziert aus dem Skiurlaub zurückkamen und Karneval feierten, begann die unkontrollierte Ausbreitung des Virus. Die Krise, die bis heute geblieben ist. Und auf die war Deutschland im März 2020 nicht vorbereitet.
Über weite Teile der Pandemie waren viele Gesundheitsämter überfordert. Sie kümmerten sich fast ausschließlich um die Kontaktnachverfolgung. Sie brachen unter einer Flut neuer Fälle zusammen. Sie kamen gar nicht zu Aufgaben, die in der Pandemie wichtig gewesen wären: Sie untersuchten keine Schulkinder, sie prüften keine Hygiene- oder Lebensbedingungen in Pflegeheimen. Sie gingen nicht direkt zu denen, die eine Aufklärung über Corona – und später die Impfung – besonders nötig hatten, beispielsweise nicht deutschsprachige, ärmere Menschen.
Die Pandemie ist ein perfektes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Individualmedizin an ihre Grenzen stößt. Ob Menschen gesund sind oder krank, hängt davon ab, ob sie beim Arzt möglichst schnell die richtige Behandlung bekommen. Genauso stark aber wirkt sich aus, wie ihre Umwelt sich auf ihre Gesundheit auswirkt.
Man kann sich die deutsche Gesellschaft in der Pandemie wie einen einzelnen Patienten vorstellen. Wenn dieser Patient mit einem gefährlichen Virus konfrontiert ist, geht es nicht nur darum, ob er bei einem schweren Verlauf die richtigen Medikamente bekommt und bei einem sehr schweren Verlauf einen Platz auf der Intensivstation. Es geht auch darum, wie dieser Mensch lebt: Kann er in seinem Alltag Abstand zu anderen Menschen halten? Hat er gute Informationen über die Impfung bekommen – oder wurde er Opfer von falschen Informationen? Versteht er die Sprache, in der wir über die Pandemie sprechen?
Natürlich erinnere ich mich auch an die Welle der Solidarität, die in den ersten Wochen Deutschland erfasste. An das Klatschen für die Pflegekräfte auf den Balkonen. Den unbedingten Willen der meisten Menschen, nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch Fremde und ihre Liebsten, die sie nicht anstecken wollten.
Viele haben sich das über die zwei Jahre bewahrt: die Fürsorge für andere, das Verständnis für die x-te Absage wegen eines dezenten Halskratzens, das Ringen um sichere Weihnachten, das Zuhausebleiben um der anderen willen – das war und ist eine stille, freiwillige, gewaltige kollektive Leistung.
Sie beruhte auf der Erkenntnis, dass das eigene Verhalten im Falle Coronas gesundheitliche Konsequenzen für andere haben kann. Der Großteil der Corona-Maßnahmen – von der Kontaktnachverfolgung über Maskentragen bis hin zum Selbsttesten – folgte zwar einer Public-Health-Logik: Es ging weniger um den einzelnen und mehr um die Gesundheit aller.
Doch dabei blieb es. Obwohl es auf der Hand lag, gingen die meisten Menschen den gedanklich nächsten Schritt nicht: Dass unsere Umwelt entscheidend darüber mitbestimmt, wie krank oder gesund wir sind. Und auch die Medizin in Deutschland tut sich bis heute damit schwer. Dabei gibt es unzählige wissenschaftliche Studien, die das seit Jahrzehnten belegen.
Nehmen wir als Beispiel einen starken Risikofaktor für einen schweren Covid-Verlauf: schweres Übergewicht. Übergewicht entsteht, wenn Menschen – mit einer Veranlagung dafür – sich schlecht ernähren und zu wenig bewegen. Global steigt der Anteil übergewichtiger Menschen erst seit einigen Jahrzehnten. In den USA gehen die Adipositas-Kurven seit den Siebzigern steil nach oben. Genau zu dem Zeitpunkt, als sich das, was Wissenschaftler Essensumwelt nennen, drastisch veränderte: Die Zahl der Restaurants und Fast-Food-Läden nahm zu, kleine Nachbarschaftssupermärkte, sogenannte Convenience Stores, oft vollgestopft mit Süßigkeiten, Chips und Fertigprodukten, setzten sich durch (zum Beispiel Obesity Research: Jeffery & Utter, 2003).
Diese Essensumwelt und die hohe Rate an Übergewicht und anderen Zivilisationskrankheiten in den Vereinigten Staaten dürfte dazu beigetragen haben, dass dort mehr Menschen in der Pandemie starben als in jedem anderen entwickelten Land. Das gilt auch für Kinder. In den Vereinigten Staaten sind fast 20 Prozent der Kinder adipös, also schwer übergewichtig, in Deutschland liegt die Rate im mittleren einstelligen Prozentbereich.
Es ist aber nicht allein die Essensumwelt. Wer sich eine Wohnung in zentraler Stadtlage nicht leisten kann, muss den Stress des langen Pendelns ertragen. Wer einen sicheren Fahrradweg zur Arbeit hat, bewegt sich mehr und lebt gesünder. Auch, ob man einen Arzt in seiner Nähe hat oder weit fahren muss, spielt eine Rolle. In der Pandemie berichteten viele Klinikärzte, dass kritisch kranke Patienten zu spät Hilfe gesucht haben – das dürfte ihre Überlebenschance verschlechtert haben.
In ärmeren Vierteln und auf dem Land kommen mehr Einwohner auf einen Arzt als in reichen Gegenden. Dabei sind es oft die ärmeren Patientinnen und Patienten, die kränker sind und deshalb häufiger zum Arzt müssten.
All das zeigt: Gesundheit ist etwas, das wir als Gesellschaft formen. Politische Entscheidungen, betreffen sie nun Stadtplanung oder Schulessen, können Menschen gesünder machen – oder kränker.
Medizin muss bedeuten, Menschen zu helfen, gesund zu leben und Krankheiten vorzubeugen. Es geht um die richtige Ansprache. Es geht um Stadtteilmedizin und einen klaren Blick für Lebensumstände. Es geht auch um Vorsorgeangebote, die sich wirklich an alle Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen richten und – Stichwort Yoga – nicht allein an diejenigen, die sowieso schon gesünder sind als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Auf der Hamburger Veddel leben sie 15 Jahre kürzer
Erstaunlich glimpflich war Deutschland durch die erste Welle der Pandemie gekommen. Stolz und Hoffnung hatten sich breitgemacht. Der Sommer war gekommen und mit ihm die ersten Rückschläge. Im Juni 2020 erlebte Deutschland einen seiner bisher größten Corona-Ausbrüche. Binnen Tagen steckten sich mehrere Hundert Arbeiter beim Fleischkonzern Tönnies an, die Bundeswehr schickte Sanitätssoldaten, um die Unterkünfte der Leiharbeiter herum wurden Bauzäune aufgebaut, im Landkreis Gütersloh schlossen wieder Kitas und Schulen.
Es gibt Videos aus den Schlachtfabriken von Tönnies: offizielle und nicht offizielle. In den offiziellen stehen Menschen, die Masken über Mund und Nase, mit reichlich Abstand zueinander am Fließband und zerschneiden Schweinehälften. In einem inoffiziellen Video, das ein Arbeiter mit seinem Smartphone aufnahm, sieht man Hunderte Arbeiter bei der Mittagspause an langen Tischen, das Geschirr klirrt, über den Lärm wird hinweg geschrien.
Ob das Video, wie der Konzern behauptet, aus dem März 2020 stammt, bevor die Corona-Maßnahmen in Kraft traten, oder kurz vor dem Ausbruch aufgenommen wurde, ist nicht entscheidend. Es ist vollkommen klar, unter welch schlechten Bedingungen Arbeiter in der Fleischindustrie, oft Leiharbeiter aus Rumänien, arbeiten und leben: Sie schlafen auf engstem Raum, in teils baufälligen und schimmeligen Häusern. Es sind perfekte Bedingungen für ansteckende Krankheiten.
Wer über die gesellschaftliche Dimension der Gesundheit nachdenkt, landet schnell bei sozialen Fragen. Ob es in einem Pflegeheim genügend und ausgebildetes Personal gab, dürfte in vielen Fällen mit darüber entschieden haben, wie viele der Bewohner sich mit Corona ansteckten und verstarben. Und wer es sich nicht leisten konnte, auf der Arbeit zu fehlen, etwa aus Angst vor Kündigung, ging auch mit Halsschmerzen arbeiten – und steckte im Zweifel seine Kolleginnen an.
Schon früh zeigten Analysen aus den USA und Großbritannien, dass ungebildete und ärmere Menschen – ob nun Langzeitarbeitslose oder essenzielle Arbeitskräfte, zu denen auch die Tönnies-Mitarbeiter gehörten – häufiger und schwerer an Covid-19 erkrankten (schon bei der Spanischen Grippe vor 100 Jahren starben ärmere Menschen häufiger, zum Beispiel American Journal of Epidemiology: Bengtsson et al., 2018). Sie litten gesundheitlich wohl auch stärker unter den Maßnahmen.
Die Annahme, dass vor dem Virus alle gleich sind, sagte sich schön dahin, sie war aber ganz offensichtlich falsch.
Die Pandemie wies auf eine fundamentale Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft hin: Wer Geld hat, lebt im Schnitt länger – viel länger. Ein Papier des RKI aus dem Jahre 2019, das auf Daten des Sozio-oekonomische Panels fußt, schlüsselt das gut auf. Ein Mann, der weniger als 900 Euro Einkommen hat, lebt im Schnitt 8,6 Jahre kürzer als einer, der mehr als 2.250 Euro verdient. Bei Frauen beträgt der Unterschied 4,4 Jahre (Journal of Health Monitoring: Lampert et al., 2019). Die Wissenschaftler schrieben außerdem, "dass die sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung über die letzten 25 Jahre relativ stabil geblieben sind". Manches deute sogar darauf hin, dass die Unterschiede größer geworden seien.
In deutschen Großstädten sind die Unterschiede noch ausgeprägter. Daten der AOK zeigen etwa, dass Menschen, die auf der armen und stark migrantisch geprägten Hamburger Veddel wohnen, 15 Jahre kürzer leben als Bewohner des reichen Poppenbüttel. Wie genau diese Unterschiede zustande kommen, wie also der Sozialstatus auf Krankheit und Lebenserwartung wirkt, ist Gegenstand einer ganzen Forschungsrichtung. Man spricht etwas sperrig von den "sozialen Determinanten von Gesundheit".
Die Erkenntnisse aber stehen in einem krassen Kontrast zur Aufmerksamkeit, die dieses Thema bekommt. Wer Wahlprogramme liest, muss feststellen, dass die elementarste Form der Ungleichheit – wer überlebt, wer stirbt? – kaum benannt wird.
Wer hat die besten Chancen, alt zu werden? Das ist keine Frage für deutsche Wahlkämpfe. Dabei ist den Deutschen Gesundheit im Zweifel wichtiger als Familie und beruflicher Erfolg.
Daten aus den USA zeigen, dass Schwarze und Latinos deutlich häufiger an Corona sterben. Aus Deutschland gibt es keine Daten dazu, wie Corona bei Menschen mit Migrationsgeschichte verläuft. Sie zu erheben, sei auch gar nicht möglich, erklärte Gesundheitsminister Jens Spahn 2021.
Überhaupt finden viele, etwa das ZDF, die Debatte über Corona und Migrationshintergrund "heikel". Vielleicht aus der Angst davor, dass Rechte die Debatte für ihre rassistische Agenda nutzen (was etwa Erika Steinbach auch tat).
Aber ist die Debatte wirklich so heikel?
Zumindest zur Impfquote und -bereitschaft gibt es einige Anhaltspunkte. So erzählten mir im vergangenen halben Jahr mehrere Klinikärzte, dass sie den Eindruck hätten, Migranten seien seltener gegen Corona geimpft.
Eine mehrsprachige Befragung des RKI, die vor Kurzem erschien, deutet in die gleiche Richtung: Zwar gibt es nicht den einen Migranten, zu divers sind die verschiedenen Milieus. Trotzdem zeigt sich: Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland haben eine etwas geringere Impfquote. Der Unterschied aber lässt sich fast vollständig durch zwei Dinge erklären: erstens durch eine Sprachbarriere. So sind vor allem Menschen, die nicht Deutsch sprechen, seltener geimpft. Und zweitens durch Faktoren wie Bildung und Einkommen.
Am Ende landet man eben doch wieder bei sozialen Fragen. Und die bleiben ungelöst. Als Nico Dragano, der an der Uni Düsseldorf zu genau dem Thema forscht, im Juni vergangenen Jahres vom Gesundheitsausschuss befragt wurde, sagte er: Seines Wissens gebe es keine groß angelegte Strategie, um der "gesundheitlichen Chancengleichheit" näher zu kommen.
Ein einmaliger Akt des Wissenserwerbs
Je länger diese Pandemie sich hinzog, desto mehr vermeintliche Experten schuf sie. Wenn ich heute durch meine Twitter-Timeline scrolle, springen sie mir entgegen, die podcasttrainierten Pseudovirologen, Hobbyepidemiologen, Freizeitbiostatistiker und Public-Health-Quereinsteiger, die Studien posten und analysieren, über Virusanzuchttechniken schreiben und sich erstaunlich breitbeinig zur Virusevolution äußern (einem wirklich, wirklich komplexen Thema).
An manchen Tagen fühle ich mich von Besserwissern umzingelt. Es ist kein Heer, weil die Menschen nicht zusammenstehen, weil jeder selbst am besten Bescheid weiß, weil da wenig Platz ist für Kameraderie. Jeder kämpft für sich allein. In der Pandemie ist nicht nur Gesundheit zur Privatsache geworden, sondern anscheinend auch der Prozess, wie man zu wissenschaftlichen Urteilen kommt.
Und das ist ein großer Fehler.
Spulen wir noch einmal zwei Jahre zurück: Am Anfang der Pandemie stand ein einmaliger Akt des Wissenserwerbs. Von PCR-Tests über den R-Wert: Millionen Deutsche lernten binnen Wochen, am Abendbrottisch über Virologie und Epidemiologie zu sprechen. Einerseits war das ein emanzipatorischer Akt. Denn so wie kaum jemals zuvor mussten sich Experten und Regierung vor einer informierten Öffentlichkeit rechtfertigen. Nur ein Beispiel: Gesundheitsminister Karl Lauterbach wird auf Twitter regelmäßig darauf aufmerksam gemacht, wenn er mal wieder eine Studie geteilt hat, ihren Inhalt aber falsch oder schräg dargestellt hat.
Irgendwann aber schlug diese Ermächtigung um. Menschen begannen, "sich selbst ein Bild zu machen", was oft genug einfach daraus bestand, sich Evidenzschnipsel aus dem Netz zusammenzusuchen und zu einem, nun ja, seltsamen Bild zusammenzusetzen. Es entstanden Tausende Baukastenpandemiewelten, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben.
Ich muss hier, weil ich sonst falsch verstanden werde, eine wichtige Unterscheidung machen. Wir leben nicht in einer Expertokratie. Kein Experte darf sich anmaßen, besser als wir selbst zu wissen, was gut für uns ist. In einer Demokratie soll sich jeder äußern können. Ich verstehe wenig von Mietpreispolitik, trotzdem habe ich eine Meinung zum Mietendeckel. Eine Demokratie lebt davon, dass jeder, egal wie klug oder dumm, eine Meinung haben darf. Etwas technischer ausgedrückt: ein Werturteil. Das gilt für Professoren genau wie Analphabeten – und auch für eine Pandemie, natürlich.
Es ist legitim, die große Abwägung dieser Pandemie, die zwischen Freiheit und Sicherheit, anders zu treffen als die Mehrheit dieses Landes. Man darf der Meinung sein, dass wir viel weniger Maßnahmen gegen das Virus hätten ergreifen sollen, weil die individuelle Freiheit der vielen schwerer wiegt als der Schutz vulnerabler Menschen (man darf diese Meinung, so wie ich, aber auch für sozialdarwinistisch halten).
Es geht mir also nicht darum, Menschen dafür zu kritisieren, dass sie Werturteile vornehmen. Meine Kritik ist eine andere: Zu viele Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, nur durch sich selbst, ganz allein, zu einem treffenden Sachurteil zu kommen. Etwa selbst einschätzen zu können, wie die Chancen stehen, dass neue Virusvarianten gefährlicher sind als Omikron.
Viele der neugeborenen Experten haben nicht verstanden, dass in der heutigen Welt nicht mehr jeder alles wissen kann. Anders als vielleicht noch vor zweihundert Jahren, als Goethe sich als Universalgelehrter mit Botanik, Anatomie und Physik beschäftigte, kann es heute niemanden mehr geben, der das Wissen und die Methoden der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen wirklich durchdrungen hat, die man zur Bewältigung einer Pandemie braucht.
Wissenschaft ist extrem arbeitsteilig geworden, die meisten Wissenschaftler sind hyperspezialisiert. Wissen ist ein Gemeinschaftsprodukt, die Summe der Arbeit vieler einzelner Menschen. Das zu akzeptieren, heißt zu verstehen, dass es in der Arena der Wissensgesellschaft ausnahmslos nur bescheidene Plätze gibt.
Natürlich fällt das vielen schwer: normalen Bürgern, den sogenannten Selbst- oder Querdenkern. Aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tun sich bisweilen schwer damit, die Grenzen ihrer eigenen Kompetenzen zu akzeptieren. Immer wieder haben auch Experten jenseits ihres Fachgebiets zu forschen, zu sprechen und zu urteilen begonnen – und dabei Fehler begangen, etwa weil sie sich methodisch auf dünnem Eis bewegten. Etwas, das der Philosoph Nathan Ballantyne treffend "epistemic trespassing", epistemische Übergriffigkeit, nennt.
Nun dürfen all diese Überlegungen nicht dazu führen, dass niemand, der nicht selbst ein absoluter Experte ist, mehr kritisieren und urteilen darf. Was also ist ein guter Mittelweg?
Eigentlich lieben wir doch Fachmänner
Im Herbst vergangenen Jahres fiel mir ein Büchlein in die Hand, das hilft. Mutig denken heißt es, geschrieben hat es die Philosophin Marie-Luisa Frick. Sie problematisiert nicht das Selbstdenken per se, sondern seine Heroisierung.
Selbstdenken sei zweischneidig, schreibt Frick – und nicht per se aufgeklärt. Der "Imperativ 'Denke selbst' geht ins Leere, es sei denn, er fordert die Haltung selbst-reflexiven Denkens ein". Selbstdenken muss immer mit Selbstreflexion verbunden sein: Welche Kompetenzen und Kenntnisse habe ich, um gewisse Dinge zu verstehen? Und welche Beschränkungen, wenn es darum geht, etwas zu Ende zu denken? Um bestimmte Formen der Erkenntnis aus dem Ozean des Wissens (und der Unmenge an offen zugänglichen Quellen und Daten) zu schöpfen, braucht man die richtigen Werkzeuge.
Auch wenn sie dabei nicht allein ist, so ist die Querdenken-Bewegung doch das perfekte Beispiel für eine Gruppe, die genau das nicht tut. Viele der Querdenker sehen sich selbst als aufgeklärte Bürger, die anders als der Rest der Bevölkerung selbst denkt (und nicht schläft). Während man über ihre Werturteile durchaus streiten kann, kommen sie offensichtlich zu völlig falschen Sachurteilen (die wiederum wahrscheinlich von ihren Werturteilen geformt sind, was man in der Psychologie motivated cognition oder reasoning nennt).
Sie können nur zu Urteilen wie "Corona ist nur für ganz alte Menschen gefährlich!" oder "Wir haben diese Pandemie herbeigetestet!" kommen, weil ihnen die Selbstreflexion und damit auch das Eingeständnis ihrer beschränkten Urteilskraft fehlt.
Zu glauben, alles wissen zu können, ist nicht heroisch, sondern arrogant. Selbstdenken braucht Demut. So kommen wir in unserer überkomplexen Gesellschaft doch andauernd an die Grenzen dessen, was wir verstehen können. Wenn wir eine Autopanne haben, vertrauen wir dem ADAC oder der nächsten Werkstatt und die wenigsten Patientinnen und Patienten wollen die Kernspinaufnahmen ihres Rückens nach dem Radiologen noch einmal selbst befunden. Eigentlich lieben die Deutschen doch echte Fachmänner.
Und doch fällt es so vielen gerade in der Pandemie schwer, zu akzeptieren, dass ihre Einblicke beschränkt sind. Warum nur? Liegt es an dem flächendeckenden Corona-Halbwissen? Immerhin ist es oft Halbwissen, das Menschen zur gefährlichen Selbstüberschätzung verleitet. Oder ist es die Reaktion darauf, dass manche Maßnahmen die – so verhasste – Aura der Alternativlosigkeit umwehte und dass auch mancher Experte aus Wertdebatten Sachdebatten machte?
Ganz gewiss leben wir in einer Welt, die Selbstdarstellung, Individualität und Authentizität verlangt und belohnt. Und vorzugeben, alles besser zu wissen, ist eben auch eine Form des Umgangs mit der Ohnmacht, die die Überkomplexität der Welt und eben auch die Corona-Pandemie mit sich bringt. Nur ist das eben dysfunktional und führt, wie bei den Querdenkern zu beobachten, geradewegs zu Verschwörungserzählungen. Auch sie versprechen Halt – in einer vermeintlich haltlosen Welt.
Dabei kann auch die Demut vor dem eigenen Nichtwissen geradewegs ins Vertrauen in die Kompetenzen anderer führen. Es ist dieses Vertrauen, das uns Halt gibt und uns einen Umgang mit dieser Pandemie ermöglicht. (Interessanterweise sind in Ländern, in denen sich die Menschen vertrauen und es genug Impfstoff gibt, auch mehr Menschen geimpft, The Lancet: Bollyky et al., 2022). Und es liegt Trost darin, anzuerkennen, dass jeder für sich diese Pandemie – und überhaupt die Komplexität unserer Wissensgesellschaft – nur sehr bedingt durchdringen kann.
Auch das Verstehen und das Sprechen über diese Pandemie ist eine kollektive und gesellschaftliche Aufgabe.
Und hier schließt sich der Kreis zur Gesundheit als gesellschaftlichem Gut. Zwei Jahre nach dem ersten Lockdown scheint Corona immer stärker zur Privatsache zu werden. Das mag in gewisser Weise befreiend und richtig sein.
Gleichzeitig aber hält diese Pandemie Lehren für uns bereit, die wir gerne vergessen: dass Gesundheit durch unsere Umwelt mitbestimmt wird und Medizin deswegen immer auch Bevölkerungsmedizin und öffentliche Gesundheit umfassen muss.
Dass arme Menschen nicht nur von der Pandemie härter getroffen wurden, sondern überhaupt kürzer leben als reiche. Dass Gesundheit eine soziale Dimension hat.
Und schließlich zeigt uns diese Pandemie, dass Selbstdenken nur funktioniert, wenn man hinterfragt, wer man ist und was man wissen kann. In einer hyperspezialisierten Welt ist das oft genug weniger, als einem lieb sein kann.
Nach zwei Jahren Pandemie bin ich mir noch sicherer als zuvor: Ohne Vertrauen in andere Menschen kann unsere Gesellschaft nicht funktionieren.