Tatort Kita-Küche
Von Manuela Müller
Die Kindergartenköchin Germaine Colditz serviert Pommes und Nuggets, weil Kostümfest ist. Das Essen löst im Internet einen Shitstorm aus - sie fürchtet um ihren Job. Warum sie zur Heldin ihrer Branche werden könnte.
Germaine Colditz steht vier Uhr morgens auf. Sie duscht, manchmal raucht sie eine. Um die Zeit hat sie keinen Hunger.
Ihr Skoda Fabia ist vierzehn Jahre alt. Es ist kaum Verkehr, wenn sie gegen fünf die neun Kilometer zur "Burg Farbenklecks" fährt. Das ist der Kindergarten in Chemnitz, in dem Germaine Colditz mit Pommes und Nuggets ein Erdbeben ausgelöst hat.
Sie arbeitet dort als Köchin. Sie ist jeden Morgen die erste, seit fünf Jahren. Eine 50 Jahre alte Frau, die kaum auffällt. Schwarze Arbeitsbluse, schwarze Hose, schwarze Schürze, schwarze Sneakers. Das halblange, braune Haar hält ein himmelblauer Haarreifen. Sie muss ihren Namen immer buchstabieren: Germaine. Ihre Mutter habe sie Jermaine nennen wollen, wie Michael Jacksons Bruder, was das Standesamt nicht erlaubt habe.
Die Stelle im Kindergarten sei der schönste Arbeitsplatz, den sie in über dreißig Jahren hatte.
Am 1. November feiert die "Burg Farbenklecks" Halloween. Die achtzig Kinder tanzen als Hexen und Geister verkleidet zu Kindermusik durch den Vormittag, und dann bringt Germaine Colditz Nuggets und Pommes. Ausgerechnet Fritten.
Am selben Abend postet der frühere Foodwatch-Chef Martin Rücker ein Foto auf Twitter. Darauf sieht man vier Nuggets auf Pommes, die es, so schreibt Rücker, in einer Chemnitzer Kita als Hauptgang gegeben habe. Darunter steht sein Kommentar: "Ein Verbrechen an Kindern und Eltern. Warum lassen wir das zu?" Das Foto löst einen bundesweiten Shitstorm aus.
Germaine Colditz ist nicht auf Twitter. Deshalb dauert es drei Tage, bis sie davon erfährt. Der Tatort des Pommes-und-Nuggets-Verbrechens von Altchemnitz hat weiße, hellgrau marmorierte Fliesen.
Die Minions, die überall kleben, haben die Erzieherinnen hindekoriert, als die Köchin einmal krank war. Ihr kamen vor Freude fast die Tränen damals. Seit die Kinder die Minions auf ihren Socken entdeckt hatten, wussten alle, dass Germaine die kleinen, gelben Figuren mit den hellblauen Latzhosen gut findet. Die Kinder haben ihr Minion-Figuren aus Überraschungseiern geschenkt.
Sie arbeitet allein in der Küche. Angestellt ist sie bei Cowerk. Die Cowerk-Köche versorgen täglich mehrere hundert Kinder und Senioren.
Der Cowerk-Speiseplan beginnt nach acht Wochen von vorn. Er gilt überall, wo die Firma Versorgungsverträge laufen hat. Ein paar Gerichte hat Germaine Colditz auf ihren Kindergarten zugeschnitten, zusammen mit der "Farbenklecks"-Chefin. Zum Beispiel kocht sie statt Erbsensuppe Kartoffelsuppe oder Reiseintopf. Den Gemüseeintopf püriert sie ab und zu, weil die Erzieherinnen beobachtet haben, dass die Kinder Püriertes eher essen als Stückchen. Aber psychologisch sei es gut, wenn sie hin und wieder die Stückchen auf dem Teller sehen.
Auch an Halloween hat sie improvisiert. Germaine Colditz sollte ein Essen zubereiten, mit dem niemand sein Kostüm bekleckert. Das ist schwierig. Es gibt nicht viel, womit sich kleine Kinder nicht bekleckern. Also Pommes und Nuggets. Die Kinder freuen sich, die Erzieherinnen irgendwie auch. Es waren nicht die ersten Fritten. Zweimal im Jahr, an Halloween und Fasching, gibt es das als Fingerfood.
Ein paar Tage später kommt morgens eine Kindergärtnerin in die Küche und zeigt ihr die Zeitung. Sie liest die Schlagzeile, den bundesweiten Shitstorm, und sieht das Foto von Twitter. Sie erkennt die leere Eispackung, in der das Essen lag. Eine Portion hatte sie an Halloween in die Eisdose gepackt und den Eltern eines kranken Kindes mitgegeben.
Sie liest, dass der Foodwatch-Mann das Menü als Verbrechen bezeichnet. Rücker packt alles, was in der Kinderernährung schiefläuft, in dieses Foto. Er hat ein Buch geschrieben über die Folgen der Ernährungspolitik für Kinder. Es heißt: "Ihr macht uns krank".
Essen in Kindergärten und Schulen war schon immer heikel. Als Kind fand Germaine es scheußlich, wenn im Kartoffelbrei schwarze Klümpchen steckten. Deshalb sucht sie die schwarzen Punkte heraus, wenn sie Kartoffelbrei serviert. Dann nimmt sie den Löffel, beugt sich über den Topf und sucht.
Sie kocht nach den Regeln der DGE, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Das heißt, das Gemüse und den Fisch darf sie nicht weglassen. Seit der Coronakrise und dem Ukrainekrieg wird Küchenarbeit immer teurer. Zehn Liter Öl kosten jetzt 27 Euro statt zwölf Euro. Es ist nicht nur das Öl.
Germaine Colditz ist nun hineingeschlittert, mitten in die Branchenkrise. Ausgerechnet einer der wenigen Kindergärten, in denen vor Ort gekocht wird, dient als Beispiel für schlechtes Essen. Die meisten Kitas werden von Kleintransportern aus Großküchen beliefert.
Ausgerechnet ein Kindergarten mit Vollversorgung, das heißt Frühstück, Mittag und Vesper.
Ausgerechnet eine Köchin mit dreißig Jahren Berufserfahrung. Germaine Colditz kochte im Mercure-Hotel. Sie und ihr Vater hatten früher auch mal eine Gaststätte, die sie aufgeben mussten, weil nichts hängengeblieben sei.
Kurz vor der Wende hat sie im Interhotel Kongress Köchin gelernt. Sie wollte Pionierleiterin werden, die Frau für das Kinderfreizeitprogramm in der DDR. Sportwettbewerbe veranstalten und basteln, daran hatte sie gedacht. Sie habe nie eine Absage bekommen und nie eine Zusage. Weil dann die meisten Lehrstellen besetzt waren, ging sie in die Hotelküche. So wurde Germaine Colditz, das Mädchen aus Karl-Marx-Stadt, zur Köchin.
Sie hat durchgesetzt, dass sie Obst und Gemüse für den Kindergarten selbst einkaufen darf. "Ich will die Ware sehen", sagt sie. Im Aldi kauft sie manchmal vier Kilo Weintrauben, sechs Kilo Bananen und zehn Gurken, die sie im Skoda quer durch die Stadt fährt.
Als sie das Foto in der Zeitung sieht, lässt sie sich nicht anmerken, wie sehr sie das berührt. Nach der Arbeit meldet sie sich bei Twitter an und heult. Sie rechnet mit dem Schlimmsten. Man könnte sie kündigen, glaubt sie.
Rücker hält den Namen der Kita geheim in seinem Tweet, sodass die ganze Branche und die Stadt Chemnitz als Träger vieler Kindertagesstätten spekuliert, wo die Fritten serviert wurden. Germaine Colditz ruft ihren Chef an, "das war ich, Chef". Fritten standen nirgendwo auf dem Speiseplan. Sie existierten nur in ihrer Küche und auf den Tellern der kleinen Gespenster.
Vier Wochen nach dem Skandalessen steht sie zwischen den Minions. Im Radio läuft "Like a Virgin" von Madonna, aber das überplärrt der Pürierstab, der die Größe eines Handstaubsaugers hat. Fünfzehn Kilo Kartoffeln muss sie zu Brei häckseln und stampfen. Es sollen keine Stückchen drin sein, weil die Kinder Klumpen nicht mögen. Das ist ihr Anspruch. Dass sich niemand über Stückchen und schwarze Pünktchen beschwert.
"Kinder sind wenigstens ehrlich", sagt Germaine Colditz. Sie findet das gut. Ehrliche kleine Menschen. Lea habe im Freundebuch stehen, was sie nicht mag, sei der Zitronenfisch im Kindergarten. Morgens, wenn Germaine die Kinder trifft, fragen sie, was es mittags zu Essen gibt. Manchmal sagen sie igitt. Kochfisch, Kaisergemüse, Brokkoli. Das mögen die wenigsten. Ein Mädchen habe gesagt, die braunen Nudeln soll sie nicht mehr kochen. Das waren Vollkornnudeln, das muss auch sein, wegen der Gesundheit.
"Wenn sich eine Gesellschaft gesund entwickeln soll, geht das beim Essen los", sagt Carsten Schreiber. Schreiber ist beim Cowerk für die Kitaversorgung zuständig, gelernter Koch und der Chef von Germaine Colditz. Sie duzen sich. Ab und zu kommt er vorbei, aber eigentlich weiß er, dass im "Farbenklecks" wenig zu klären ist. Die Germaine, sagt Schreiber, hätte die Pommes nicht mitgeben sollen. Jemand muss das Essen in der Eispackung fotografiert und das Foto an Martin Rücker geschickt haben.
Nun, wo die Geschichte in der Welt ist, wollen alle das Beste daraus machen. Rücker ging es nie um die Köchin. Sie haben keinen Kontakt, die Köchin und der Autor. Er twittert: "Ich freue mich, dass nun für jeden erkennbar ist, dass Information plus Bild ... natürlich kein Fake waren. Damit können sich manche Gemüter wieder beruhigen ..."
Sie fühlen sich unerhört, die großen Küchen. Aufmerksamkeit suchen sie schon lange. Erst war Corona. "Wir haben Kindergärten mit fünf Kindern beliefert. Betriebswirtschaftlich hat hinten und vorn nichts gepasst, aber es war unser Auftrag", sagt Schreiber. Sie mussten die Preise erhöhen.
Ein Mitbewerber aus der Gemeinschaft der Caterer hat einen Elternbrief verschickt. Der Brief zählt fast dreißig Posten auf, die bezahlt werden müssen. Personal, Wasser, Gas, Miete, Autoreparaturen, Kredite, GEZ, Versicherungen. Er rechnet am Beispiel des Frühstücks. Es kostet 80 Cent brutto, minus Mehrwertsteuer bleiben 67 Cent netto. Davon: 26 Cent Essensgeld. Der Rest: Lohnkosten, Betriebskosten.
Im Herbst zogen viele Küchen noch einmal an. Sie hätten keine Wahl gehabt, sagt Schreiber. Aber jedes Mal, wenn sie erhöhen, verlieren sie Kunden. Wenn sie Kunden verlieren, steigen die Nebenkosten für die anderen. Sie verlieren die nächsten. Im Kindergarten sei üblich, dass die Kinder Essen bekommen. In den Schulen bestellen die Familien, je älter die Kinder sind, immer seltener.
In der "Burg Farbenklecks" kostet alles, was Germaine Colditz kocht, seit Oktober fast ein Viertel mehr. Um so viel hat Cowerk erhöht. 7,50 Euro zahlen die Eltern für Frühstück, Mittag und Vesper. Macht bei einem Kind im Monat 150 Euro. In ihrer Firma rufen jetzt Eltern an und fragen, wie sie das bezahlen sollen. Ob es einen Zuschuss vom Staat gibt. Die Antwort ist einfach. Wer keinen Anspruch auf Transferleistungen hat, erhält kein Essensgeld. "Wir müssen Preise durchsetzen, von denen wir wissen, dass sie die Eltern in Schwierigkeiten bringen", sagt Schreiber.
Was müsste passieren? Kostenloses Schulessen halten viele für schwierig. In Berlin lässt sich beobachten, wie das laufen würde. Die Eltern melden ihre kranken Kinder nicht mehr vom Essen ab. Etliche Portionen landen im Müll. Die Caterer wünschen sich einen Zuschuss. Ein Euro Stütze pro Mahlzeit, so glaubt man, würde die Lage entspannen. Manche Caterer haben den Vorteil, dass das Personal an der Essensausgabe auf der Lohnliste der Kommunen steht. Das verschärft den Preisdruck auf die anderen.
"Ändert sich nichts, gibt es uns bald nicht mehr", sagt Schreiber. Vor allem Oberschulen und Gymnasien würden zunehmend unattraktiv.
Zu ihr kommen sie nicht, diese Probleme. Germaine Colditz soll einfach nur kochen. Die Küche ist ihre Küche. Als vor ein paar Wochen die Firma da war, die im Garten Bäume beschnitten hat, ließ sie an die Tanne vor dem Küchenfenster einen Eichhörnchen-Kobel hängen. Bisher sei immer ein Eichhörnchen eingezogen, wenn sie ein Haus aufgehängt hat. Vielleicht erleben sie hier alle ein kleines Wunder, sagt sie. Bei Facebook gibt es eine Eichhörnchen-Gruppe, in der sie Mitglied ist.
Heute wird es wenig zu mäkeln geben. Kartoffelbrei und Grillwürstchen mit Tomatensoße, als Nachtisch Gurkensalat. Das läuft. Sie kocht Extraportionen für Kinder mit Allergien.
Einmal habe der kleine Piet gefragt, ob sie mal wieder Klöße machen könne. Seine Mutter koche immer Spinatnudeln. Piet habe seine Portion mittags als letzter bekommen. "Ich habe ihm Klöße mit Soße gemacht. Wie der kleine Kerl gestrahlt hat", sagt Germaine Colditz. An ihrer Magnetwand klebt das Foto eines kleinen Jungen vor einem Teller mit Klößen.
Ein Drama braucht Helden. Dieses hat noch keinen. Mag sein, dass ihre Branche Gefallen an der Frittengeschichte auf Twitter findet. Die Arbeitsgemeinschaft der Chemnitzer Caterer hat eine Initiative für die warme Mahlzeit in der Schule gegründet, die "Rettet das Schulessen" heißt. Im Bundestag fordert eine Petition, dass Schulessen ein Kindergrundrecht wird. Germaine Colditz hat Nuggets mit Pommes serviert.