Pflege-Liveblog in der Klinik: 16 Stunden am Limit?

Von Peter-Pascal Portz

Immer mehr Patienten, zu wenig Personal: Seit Jahren gehen Pflegekräfte an ihre Grenzen. Wir begleiten ein Klinik-Team zwei Schichten lang und berichten, wie es vor Ort aussieht.

Pflege-Liveblog
Sascha Lotz/VRM

GROSS-GERAU. Liegt über dem deutschen Gesundheitssystem wirklich der Schatten einer akuten Personalkrise? Auf den Fluren der Krankenhäuser, an den Betten der Klinik-Stationen mangele es an Fachkräften, warnen Experten – weshalb die Pflegenden häufig über schlechte Arbeitsbedingungen klagen. "Derzeit können auf Allgemein- und Intensivstationen gut 22.000 Stellen nicht besetzt werden", erklärt etwa Dr. Gerald Gaß, der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft.

Pflegenotstand – was heißt das eigentlich konkret?

Für Patienten, für Pflegekräfte, aber auch für die Gesellschaft könnte diese Entwicklung weitreichende Folgen haben – sofern sie nicht gebremst werde. Aber welche? Wie dramatisch ist die Situation tatsächlich? Was droht der medizinischen Versorgung der Menschen, sollte sich das Problem verschärfen? Und was empfindet das Personal während der Arbeit? Diesen Fragen wollen wir auf den Grund gehen. Am Donnerstag begleiten wir 16 Stunden lang, von morgens um 6 bis abends um 22 Uhr, das Personal der Kreisklinik im südhessischen Groß-Gerau und berichten hier, unter diesen Worten, live von den Stationen.

22.10 Uhr: Schichtende

Nach über 16 Stunden endet an dieser Stelle unsere Live-Berichterstattung aus der Kreisklinik in Groß-Gerau. Sie haben Pflegekräfte kennengelernt, Experten gehört, Hintergründe erfahren. Wir hoffen, dass wir Ihnen das Thema Pflegenotstand näherbringen konnten.

22.03 Uhr: Der Anfang – und der Schluss

Mit Stationsleiterin Tanja Kownatzki hat vor 16 Stunden hier, auf der Chirurgie, dieser Liveblog begonnen – und genau hier wird er enden. Am Tresen, auf dem sich die Aktenordner mit den OPs türmten, an dem die Nachtschicht zur letzten Kaffeepause zusammensaß, an dem Kownatzki einen harten Tag mit viel Arbeit und zu wenig Leuten ankündigte. 16 Stunden später steht fest: Es war ein harter Tag. Nicht härter als andere, aber auch nicht lockerer. Das sind sie hier, auf allen Stationen, gewohnt.

Krankenpfleger Christian Kraus (26) läuft über den Gang. Er geht jetzt in den Nachtdienst, was ihn erwartet, kann er nicht sagen. "Man hat auf jeden Fall immer was zu tun", schildert er, "es gibt auch Nachtschichten, in denen man nur rennen muss". Und das nicht erst seit Corona oder seitdem die Chirurgie sich nachts auch um die Kinderchirurgie kümmert. Das mit dem Rennen, das sei schon Jahre so, sagt Kraus. Ein neuer Tag beginnt bald, ein neuer Kreislauf im Schichtsystem, in acht Stunden ist wieder 6 Uhr.

21.45 Uhr: Trotzdem droht der Stillstand

Die guten Momente jedoch, wie die bei Tzanan Erdogan, sie ändern nichts am grundlegenden Problem. Wenn man den Prognosen Glauben schenkt, wird die Pflegebedürftigkeit steigen, Pflege wird in Zukunft stärker gefragt sein denn je. Sollte sich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und in der Personalkrise aber nichts ändern, was hieße das? „Dann werden wir qualitativ stillstehen“, befürchtet Carsten Hermes, „alle Professionalität und Qualität, die wir uns erarbeitet haben, stagniert oder geht verloren. Stellen Sie sich vor: Wenn in einem Krankenhaus heute fünf Pflegekräfte kündigen, sind das oft mehr als 100 Berufsjahre Erfahrung, die plötzlich fehlen.“

Das jedoch geschieht in diesen Monaten. Was der medizinischen Versorgung der Menschen droht, darüber wollen Pflegeexperten, Krankenhäuser und -kassen nur ungern spekulieren. Doch sie müssen es tun. Wie auch eines: Lösungen finden für einen Zustand, der sich vor Jahren ankündigte und die Pflege heute einzwängt.

21.17 Uhr: Ein Tag des guten Gewissens

Aus der Dunkelheit der Zimmer dringt schwaches Stöhnen. Irgendwo, am Ende des Ganges, ruft eine Patientin einen Frauennamen. Die Schwester? Eine alte Freundin? Sogar die Tochter? Viele hier sind der Demenz verfallen. Die Türen stehen offen. Am Stationstresen wirft Schwester Tzanan (34) ihre letzten Blicke in die Unterlagen. Viertel nach Neun, gleich hat sie Feierabend. Ein stressiger Tag sei das gewesen, pustet sie durch, sie habe sich heute nur um die Pflege gekümmert. Positionieren, Essen anreichen, säubern. Im Takt. Die Chirurgie ist voll, die Betten sind belegt. Alle, fast 50.

Warum sie sich diesen Job antue, bei all der Belastung? "Ich kann mir nichts anderes vorstellen", schießt es aus Tzanan Erdogan hervor. "Das ist mein Traumberuf. Es macht Spaß, mit Menschen zu tun zu haben." Heute, sagt Erdogan um 21.20 Uhr, gehe sie mit einem guten Gewissen nach Hause. Das sei auch schon anders gewesen. Wenn es zu viel Arbeit war, um jeden angemessen zu pflegen, wenn einiges liegen bleiben musste. Heute weiß sie aber, dass die Patienten bestens versorgt sind. "Wenn man das Gewissen hat, hat man alles richtig gemacht."

Christine Vogler, die Präsidentin des DPR, spricht von diesem einen kleinen Moment im Alltag der Pflegenden, „der bedeutet: ‚Und es lohnt sich – wir sind stolz auf das, was wir tun‘“. Auch Dr. Gerald Gaß, der führende Kopf der DKG, betont: „Wir sind fest davon überzeugt, dass der Pflegeberuf grundsätzlich hervorragende berufliche Perspektiven bietet und es deshalb gute Chancen gibt, mehr junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen.“

21.04 Uhr: Wie kann sich die Pflege selbst verändern?

Mit der Personaluntergrenze gibt es da nur dieses eine Problem. Sie kann ausgesetzt werden – zum Beispiel im Falle hoher Patientenzahlen in Zeiten von Pandemien. Während Corona geschah das über Monate. Auch deshalb waren Pflegekräfte nach mit Schichten zugepackten Monaten so ausgelaugt. Grenzen. Überlastung. Erschöpfung. Es war der Funken für ein Pulverfass, dem seit Jahren die Explosion drohte – und dann krachte es.

Ideen haben sie in der Pflege zur Genüge, an Plänen wird permanent getüftelt. Es geht hier aber um genau das, was DGIIN-Mann Carsten Hermes meint, wenn er sagt, man könne etwas anstoßen – wenn eben Geld und Ressourcen flössen. Woher die kommen sollen? Aus den Töpfen der Nation, vom Bund also, betont Hermes. Schließlich stehe hier nichts anderes als die Gesundheit des Volkes auf dem Spiel.

20.48 Uhr: Die Intensivstation – wenige Zimmer, viel Arbeit

Auf der Groß-Gerauer Intensivstation werden gerade sechs Patienten behandelt, sieben Zimmer reihen sich hier aneinander. In der zweiten und dritten Pandemie-Welle lagen hinter den großen Schiebetüren meistens Corona-Fälle – aktuell gibt es keinen mehr. Morgen kann das schon wieder ganz anders sein. Das ist die Station, auf der auch Nelli Tropmann und Tony Zaruba im Moment Schicht haben. Sie versorgen Patienten momentan auf den Zimmern.

20.31 Uhr: So sind die Personaluntergrenzen

In der Kreisklinik kehrt Ruhe ein. Die Flure sind verwaist, viele Patienten schlafen. Gespenstische Stille. Jetzt beginnen sie, die ruhigen Stunden. Sollten am späten Abend oder in der Nacht keine Notfälle über die Teams hereinbrechen. Übrigens gelten in dieser Zeit auch andere Personaluntergrenzen. Weil, naturgemäß, weniger passiert.

Von Station zu Station sind die Untergrenzen verschieden. Auf der Intensivstation dürfen seit Februar 2021 am Tag maximal zwei Patienten von einem Pflegenden betreut werden, in der Inneren Medizin oder der Chirurgie dagegen sind es zum Beispiel zehn – in der Nachtschicht sogar 20 oder mehr. Kontrolliert werden soll die Einhaltung von unabhängigen Wirtschaftsprüfern. Wer verstößt, bekommt Strafen aufgedrückt. DIVI-Sprecher Schäfer fordert: „Auf eine Pflegekraft dürfen nicht zwei, sondern maximal 1,5 Patienten im Schnitt kommen. Die Personalschlüssel müssen verschärft werden.“

20.07 Uhr: Geräte, die ein Leben retten?

Das, was den Mann hinter der Schiebetür noch am Leben hält, sind die Maschinen. Eine chronische Lungenerkrankung lässt ihn nicht nur kaum atmen – er ist auch dement, kann nicht schlucken, sich kaum bewegen. "Bei ihm muss eigentlich alles übernommen werden", sagt Tony Zaruba (32), Intensivpfleger. Man weiß auch nicht, was er überhaupt noch alles wahrnimmt. Man weiß nicht, wie sich der medizinische Zustand entwickelt.

Zaruba, im Schutzkittel und mit Handschuhen, zieht die Tür auf. Er streicht dem Patienten die Decke vom Bauch, von oben strahlt weißes, steriles Licht. "Nicht erschrecken", ruft der Pfleger ihm zu, die rechte Hand des Mannes zuckt. Kaltes Desinfektionsspray. Der Patient braucht 24-Stunden-Intensivpflege. Tür schließen, unbeobachtet lassen – unmöglich. Bei der Personaldichte, meint Zaruba, sei das nicht einfach. "Was muss denn noch passieren?", fragt er und schiebt nach: "Wir Pflegekräfte organisieren uns eben leider auch nicht." Aber warum? Sind sie zu lieb? Zu gut? Ohne Zeit?

Wenn man sich den Patienten anschaut, stellt man sich als Beobachter unweigerlich die Frage: Muss das denn sein? Ein Leben an Geräten? Dieser Pflegeaufwand? Beurteilen mögen das andere. Sagt auch Zaruba. Was sich hier insgesamt ändern müsse, lasse sich kaum zusammenfassen. Mehr Azubis brauchen sie, mehr Mobilisierung – nicht mehr Geld. "Ein Großteil der Pflegekräfte ist sicher nicht darauf aus." Was eigentlich nötig sei: "Dass das ganze System grundlegend geändert wird", fordert Zaruba.

19.43 Uhr: Und das sind die Antworten

Vorab: Auf Frage drei, warum in den vergangenen Jahrzehnten – also nicht erst ab 2018 – so wenig getan wurde, obwohl die Pflege schlechten Bedingungen entgegensteuerte, hat das Ministerium nicht geantwortet. Ansonsten packt es ein Bündel an verabschiedeten Maßnahmen aus – Maßnahmen mit sehr langen, sperrigen Namen.

Sind diese Schritte nun das Allheilmittel bei der Bekämpfung der Personalkrise? Können, ja werden Gesetze den Pflegenotstand lösen?

Nein, sagt zum Beispiel Andreas Schäfer, gelernter Krankenpfleger und Sprecher der DIVI. „Personalgrenzen sind viel eher ein Schutz vor einer weiteren Eskalation. Wenn die Personalschlüssel noch schlechter werden, können wir die Patienten nicht mehr betreuen.“ Und das könnte im Umkehrschluss nicht nur eine höhere Sterblichkeitsrate bedeuten, sondern auch eine Menge ausgebrannter, abgearbeiteter Pflegekräfte.

19.17 Uhr: Unsere Fragen an das Bundesministerium

In den Zimmern der Groß-Gerauer Kreisklinik stehen 220 Pflegebetten – Covid-bedingt, durch Abstandsregeln und wegen zu schwacher Personaldecke können nur 120 belegt werden. Betten sind also da. Aber sollten weiter mehr Pflegende gehen, sollte die Krise die Branche noch enger einschnüren, was dann? "Dann müssen die Bettenkapazitäten wieder reduziert werden", meint die Assistenzärztin. Politische Entscheidungsträger werden heute von vielen hier angeprangert. Es fehle an einer Taktik, an Wissen, am roten Faden. Wie entkommt man dem Missstand?

18.38 Uhr: Ein mittelmäßiger, kein stressiger Tag

Ein paar Treppenstufen über Kerstin Schäfers Notaufnahme, Intensivstation. Noch einmal heute muss Nelli Tropmann (33) eine Kanüle setzen, dann zieht das Blut in die Spritze. "Achtung, nicht erschrecken!", hatte die Intensivpflegerin gewarnt. Die Patientin, deren Essen noch auf dem Tisch unter dem Fenster steht, zeigt keine Regung. Ihr leerer Blick geht zur Decke. Die Diagnose ist noch ungewiss, hier weiß bis jetzt niemand, an was genau sie eigentlich leidet.

Aus den Fluren im Hintergrund bimmelt das Alarmsignal. Immer und immer wieder. Wenn zum Beispiel Sauerstoffsättigung oder Blutdruck sinken, dann lärmt es los. Ein gängiges Geräusch auf der Intensivstation. "Ich gehe noch einmal ans Ohr", sagt Tropmann, "37,1. Wunderbar".

Heute ist auf der Station ein, na ja, mittelmäßiger Tag. Aber kein stressiger. Das heißt: "Man kann auch mal zwischendurch sitzen, was trinken oder gleich dokumentieren", erklärt Tropmann. "Man hat mehr Zeit für die Patienten."

Hätte sie drei sehr pflegeintensive Patienten statt nur zweien, erzählt sie, dann ginge das eigentlich gar nicht. Eine Assistenzärztin hinter dem Tresen meint: "Wir Ärzte brauchen die Pflegekräfte. Sie sehen alles am Patienten. Das Essen, die Medikamente." Ohne geht nicht.

18.12 Uhr: Wenn sich nichts bessert, dann...

Sollten sich die aktuellen Trends fortsetzen, wird die Zahl der Pflegekräfte und die der Krankenhausaufenthalte steigen – das Arbeitspensum bewältigen könnten die Pflegenden allerdings nicht. Heißt: Würde auf den Stationen alles so weiterlaufen, wie es im Moment ist – also ohne erhebliche Verbesserungen –, dann bräuchten die deutschen Krankenhäuser 2030 mehr als 60.000 Pflegekräfte mehr. „Solche Zahlen lassen sich nicht mit der „stillen Reserve“ oder mit einer Teilzeitreduktion ausgleichen“, weiß DKI-Vorstand Blum.

Aber wie sonst? Und wo will man diese Menge an Arbeitskräften ausgraben? Wenn sich die Situation der Pflegenden in den Krankenhäusern nicht ändert, warnen Experten seit Jahren, droht die medizinische Versorgung der Patienten bald gekappt zu werden. Nahezu alle betroffenen Parteien sehen dabei besonders einen Akteur in der Pflicht: die Politik.

17.35 Uhr: Ein Blick in die Innere Medizin

Eigentlich sieht es auf den Fluren so aus wie in jedem anderen Bereich – die einzige Besonderheit in der Inneren Medizin: Vor den Zimmern stehen Rollwägen mit Schutzkleidung und Desinfektionsmaterialien. Weil hier auch die Covid-Normalstation untergebracht ist. Die meisten der Patienten sind im fortgeschrittenen Alter, schwach, viele dement. Sie brauchen eine besonders aufwändige Pflege. Zeit und Kraft kostet das die Pflegenden. Es ist ein Knochenjob. Hier zum Beispiel war Schwester Katja von der Kinderchirurgie Stationsleitung, bevor sie ging.

17.11 Uhr: Notaufnahme, Mutter mit Kind

Es war ein Unfall. Mit Tempo 50, sagt die junge Frau aufgeregt, sei das Auto hinter ihr auf sie aufgefahren. Ungebremst, an der Ampel. Ein Fall für die Notaufnahme. "Ich weiß nicht, was passiert ist", erklärt die Mutter, "aber wir müssen das abchecken". In ihrer Stimme schwingt Sorge mit. Was, wenn die Tochter ein Schleudertrauma hat? Oder eine Verletzung, die sich nicht äußerlich zeigt? Die Assistenzärztin redet gut zu. Just dann klingelt es einmal laut durch die Station. "Für uns heißt das: Der nächste Krankenwagen kommt", seufzt Krankenpflegerin Kerstin Schäfer (49).

Schäfer steht am PC neben dem Behandlungsraum, tippt Daten ein, protokolliert. Bürokratie, ein Riesenklotz Arbeit für Pflegekräfte. Arbeit, die von der eigentlichen Pflege abhält. "Viel zu tun haben wir immer", sagt Schäfer. "Wir sind abgenutzt, jeder ist an seinem Limit." Und dennoch, die Frage, warum bleibt sie dem Beruf treu? "Er ist in meinem Herzen. Wenn Sie hier mal eine Auszeit haben, dann haben Sie Angst, dass in der Auszeit jemand anruft und es weitergeht. Aber das Gefühl, Gutes zu tun, bleibt." Der Dienst am Patienten, die Fürsorge, das halte aufrecht. Obwohl es oft Schlag auf Schlag geht, gerade in der Notaufnahme. Für viele andere, das zeigen die Zahlen, ist die Grenze überschritten.

Der Auftrag an das Gesundheitssystem ist klar definiert: Es muss personell aufgestockt werden, um Pfleger zu entlasten – und es müssen dringend Abwanderungen verhindert werden. Allein, wenn man sich die Entwicklungen in den Kliniken über die vergangenen Jahre betrachtet. Und die Prognosen für die Zukunft.

16.37 Uhr: Weshalb einige Pflegekräfte abwandern

Und welche Folgen haben die anstrengenden zwei Corona-Jahre für die Pflege?

Auch die DIVI hat 2019, also vor der Pandemie, und 2021 zwei Umfragen unter Intensiv-Pflegenden angestellt. Die Resultate: Fast alle befragten Pflegekräfte antworteten, dass sich Zustände extrem verschlechtert haben und dass die Personallücken mit Corona weiter aufgerissen sind. Weit über 90 Prozent fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.

Aus dieser Stimmung leitet sich ein für viele logischer, wenngleich besorgniserregender Schluss ab: Über ein Drittel des befragten Pflegepersonals plant, den Beruf zu verlassen. Viele tun das in diesen Monaten. Oder sie haben es längst getan. Nur wenige glauben, dass Krankenhäuser, Verbände, Krankenkassen oder politische Entscheidungsträger den Mangel an Pflegekräften aufheben können. Wie Dr. Gerald Gaß von der Deutschen Krankenhausgesellschaft bestätigt, haben „70 Prozent der Krankenhäuser nicht zuletzt aufgrund der Pandemiebelastungen auf den Intensivstationen Abwanderungen zu verzeichnen“.

16.01 Uhr: Die gute Geschichte

Am Nachmittag sind die Gänge leer. Eine ruhigere Phase, für die meisten. Im vierten Stock, Kinderchirurgie, kommt Katja Fröhlich (43) aus einem Patientenzimmer. Um ihren Hals hängt das Stethoskop, ein Lächeln erahnt man unter der Maske. Und ja, es gibt sie natürlich auch in Zeiten des Pflegenotstands, die guten Geschichten in den Kliniken.

Weil Kinder eine andere Art der Versorgung brauchen, weil ihnen vor allem Gespräche guttun, weil Zuneigung hier die grundlegende Pflege ist. Auf Schwester Katjas Brust klebt eine pinke Eule. "Für den allerbesten Service" steht auf einer bunten Malerei hinter ihr, ein Geschenk der kleinen Patienten. "Hier kann ich guten Gewissens nach Hause gehen und weiß, der Patient ist gut versorgt", erzählt sie hinter dem Tresen.

Dass sie allerdings hier arbeitet, dahinter steckt auch ein anderer Grund: Vor zwei Wochen erst wechselte Schwester Katja hausintern die Stelle. Davor war sie Stationsleitung auf der Inneren Medizin. Zehn-Stunden-Schichten, Dienstpläne zuhause schreiben – so ging das jahrelang. Corona ließ sie einen Punkt erreichen, an dem es kein einfaches "Weiter so" gab, sagt sie. "Das hat mich an die Grenzen gebracht. Ich konnte meine Leute irgendwann nicht mehr motivieren." Und das hört man an diesem Tag oft: Ohne den Teamzusammenhalt unter den Kollegen wären einige Stationen unter der Belastung längst zusammengebrochen. "In 25 Jahren hab' ich das erste Mal an mich gedacht."

Stichwort Corona. In der Öffentlichkeit kursierte immer wieder dieses eine Bild. Während der Hochphasen der Pandemie wurde es auf die Pflegenden projiziert, ganz egal, ob sie sich selbst so wahrgenommen haben oder nicht. Es war das Bild der Soldaten, die an vorderster Front gegen eine gesellschaftliche Bedrohung kämpfen. Soldaten, die Pflegenden. Front, die Intensiv- und Beatmungsstationen. Man dürfe dem Virus keine Chance lassen, hieß es.

Natürlich kam der Pflegenotstand nicht erst 2020 – gerade seitdem aber hat er sich verschärft. Der Blick der Menschen richtete sich in die Krankenhäuser. Und die Pflegekräfte? Sie taten ihren Dienst, sie waren da. Obwohl sich die Situation als Brandherd entpuppte, weil der Aufwand stieg, sich der Frust bahnbrach. Für die Pflegenden gab es kein Ventil. Sie fraßen vieles in sich hinein.

Dass gerade sie dann harsche Kritik einstecken müssen, „wenn sie eine Impfpflicht ausschließlich für ihren Berufsstand kritisch betrachten und auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung und eine gemeinsame Impfpflicht hinweisen“, meint DPR-Präsidentin Christine Vogler, sei inakzeptabel. "Das war das i-Tüpfelchen", berichtet auch Schwester Katja.

15.24 Uhr: Wer finanziert eigentlich die Pflege?

Wenn über die großen Mängel diskutiert wird, geht es meistens und vor allem auch ums Geld. Finanzierung ist das, was vieles ermöglicht – und das, woran vieles scheitert. Krankenhäuser, und mit ihnen die Pflegekräfte, sind eingebettet in ein duales Finanzierungssystem: Einerseits sind die Länder dazu verpflichtet, Geld in die Kliniken zu buttern, andererseits kommen die Krankenkassen für die Betriebskosten auf. Unter anderem für das Gehalt der Pflegenden. Dabei hakt es an vielen Stellen. „Leider ist die Länderfinanzierung nicht gesetzlich festgelegt, sodass sich die Länder zunehmend ihrer Verantwortung entzogen haben. Hier ist es Aufgabe der Politik, diesen Missstand zu beheben“, erklärt zum Beispiel der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Das System birgt Gefahren und Risiken – und für die Pflege bleibt oft kein Geld.

14.57 Uhr: Von der Selbstverständlichkeit der Pflege

Die Demenz ist weit fortgeschritten. "Wollen Sie was trinken?", fragt Schwester Natalia die ältere Frau, sie versteht nicht. "Ob sie was trinken wollen?", wiederholt die Pflegerin lauter. Schwester Natalia (25) sagt das nicht ausfällig – sie sagt es nett und ruhig. Als spräche sie mit einem Kind. Dann stützt sie die Frau. Bett hochfahren, verschieben. Mit der Kollegin, braunes Hemd, blaue Handschuhe, hebt sie die Patientin an. Eins, zwei, drei, "super!" Dann hält sie der Dame das Wasserglas. "Aber ich will doch gar nichts trinken", sagt sie bestimmend, reißt die Augen auf. Und Schwester Natalia setzt ab.

Gerade in diesen Momenten wird eigentlich deutlich, wie wichtig, ja wie selbstverständlich die Pflege für die Alten und die Schwachen ist. Und es ist vor allem das, warum eine Pflegekraft den Beruf überhaupt erlernt hat – um zu helfen.

Natürlich bleibt, im Hinblick auf die moralischen Grundsätze, auch die Sache mit der Anerkennung. Als in der Hochphase der Corona-Pandemie die Intensivbetten der Kliniken überliefen, man die Pflegenden zu Märtyrern im Kampf gegen das Virus erklärte, wurde mal vom Balkon herab für sie geklatscht, mal gab es ein Sträußchen Lavendel, mal eine nette Bonuszahlung. Das alles mag aufmerksam gewesen sein – den Pflegenotstand aufgeweicht aber hat das mitnichten. „Die Art und Weise, wie mit und vor allem über die professionell Pflegenden gesprochen wird, ist unwürdig, das muss sich verändern“, rügt DPR-Präsidentin Christine Vogler.

Pflegekräfte stehen im Gesundheitswesen im Fokus, seit Corona mehr denn je – zu entscheiden aber haben sie nichts, sie werden kaum in eine Lösungsfindung eingebunden. Verantwortung übertragen, das große Stichwort. Man betrachte zum Beispiel den Corona-Expertenstab. 19 vom Bund einberufene Wissenschaftler, im Interesse der Arbeitsfähigkeit nicht mehr. Dieser Rat diskutiert entscheidende Empfehlungen zur Bekämpfung der Pandemie – die dann an Regierung und Länder weitergereicht werden. Eine Pflegekraft in diesem Gremium sucht man vergebens. Wieso?

Wir haben dem Bundesministerium für Gesundheit und, nach dessen Verweis an das Bundeskanzleramt, der Regierung die Frage gestellt: Warum genau werden Pflegekräfte nicht aktiv in übergeordneten Gremien – wie den Corona-Expertenstab – eingebunden?

14.05 Uhr: Es gilt, Feuer zu löschen

Auf den Visiten, sagt Esther Hüttermann in einer kurzen Sprechstundenpause, zeige sich der Pflegenotstand am Bett eigentlich ständig. Zum Beispiel so: Wenn man einem Patienten morgens den Blasenkatheter rausnehmen könne, er aber acht Stunden warten müsse, "dann sehen Sie, wo das Problem liegt."

Für eine Operation könne man die Kosten ganz einfach herunterrechnen. "Ich kann Ihnen sagen, was eine Minute für einen Privatversicherten kostet", meint die Ärztin. Aber was kostet eigentlich Pflege pro Minute? Das kann niemand so richtig beziffern.

Eines der großen Probleme dieser Zeit, mahnt Andreas Schäfer, sei, dass die Menschen eben auch nicht wüssten, was Pflege überhaupt tut. Was fernab der Betten passiert, auf den Fluren und in den abgeschotteten Räumen der Stationen. Lässt sich Pflege reduzieren auf Verbände anlegen, Kanülen setzen und Menschen von Fäkalien säubern?

Bei der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz DIVI, ist Schäfer Sprecher der Sektion Pflegeforschung und -qualität. Wenn sich die Politik in der Branche umhört, Kongresse gehalten werden, sitzt er – wie Kollege Hermes – mit am Tisch. Viele, betont der gelernte Krankenpfleger, hätten eine falsche Vorstellung vom Beruf. Deshalb werde er von Teilen der Gesellschaft stiefmütterlich behandelt.

Gelingt das, könnten Dienstpläne verlässlich gestopft werden. Die Pflege könnte besser planen, sich auf das Wesentliche konzentrieren, freier und flexibler sein. Das Personal hätte mehr Zeit und Kraft für die Pflege.

Doch warum geschieht das nicht? Weil keine Verwaltungsstrukturen existieren, über die so etwas koordiniert wird. Sämtliche Berufe organisieren sich mittels Kammern und Verbänden – für die Pflege aber gibt es eigentlich nichts. In Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sitzen die einzigen beiden Landespflegekammern in ganz Deutschland. Das war’s.

Dabei sind es vor allem solche Institutionen, die Qualität wahren oder verbindliche Standards setzen sollen. „Uns fehlt es an Berufskammern, die schauen, was in der Ausbildung gemacht werden muss und was der Bedarf ist. So etwas ist nicht nur für das Pflegepersonal selbst nötig – sondern auch, um den Schutz der Patienten zu gewährleisten“, so Schäfer. Kollege Hermes sagt: „Einen Grund für den Pflegenotstand müssen wir uns von der Pflege leider auch selbst ankreiden: den schwachen Organisationsgrad.“

Es tragen nicht einzig und allein andere die Schuld, wissen beide.

13.48 Uhr: Was den Pflegenotstand befeuert

Wer nach den Gründen dieser Realität fragt, wird ad hoc keine Antworten bekommen. Ja, keine bekommen können. Denn die Causa Pflegenotstand reicht so tief in das Gesundheitswesen und ist so verzweigt, dass selbst Fachleute mittlerweile den Überblick verlieren können. Auslöser wie extreme Einsparungen in der Pflege oder abschreckende Arbeitsbedingungen sind das eine – daneben aber türmt sich eine Reihe von Faktoren wie eine schwarze Wand vor der Branche auf.

Problematisch: Diese Umstände befeuern sich gegenseitig. Man weiß kaum, wo man ansetzen soll. Sie alle führen aber immer wieder zum ursprünglichen Missstand – dass es in den Kliniken zu wenige Pflegekräfte für die steigende Anzahl an Patienten gibt.

Es lässt sich nicht leicht erklären, in welchem Maße die aufgeführten Faktoren für den Pflegenotstand verantwortlich sind. Dafür fehlen einfach Daten. Die Experten der Berufsverbände aber sind sich einig: Irgendwie ziehen alle Punkte Auswirkungen nach sich. Zum Beispiel das Thema Bürokratie. Je länger sich eine Pflegekraft während der Schicht der Verwaltung widmen muss, desto weniger Zeit bleibt für die tatsächliche Pflege des Patienten. Der Zeitdruck wächst, die Belastung steigt.

„Jede neu gewählte Regierung schreibt sich den Abbau der Bürokratie auf die Fahne, am Ende wird es aber immer mehr“, erklärt Dr. Karl Blum, Vorstand des DKI. „Jede Pflegekraft ist pro Schicht mit bis zu zwei Stunden administrativer Arbeit beschäftigt.“

13.15 Uhr: Die langen Listen der Station

Übergabe auf der Inneren Medizin, Schichtwechsel. Bunt markierte Zettel liegen auf den Tischen, prüfende Blicke wandern umher. Das Stationsteam sitzt im Zimmer hinter dem Tresen – und verliest die Patientennotizen. Für jeden einzelnen. "Auf der Neun steht die Stuhlprobe noch aus." "Frau W. kann das Essen auch mal selbständig probieren." "Herr W. hat heute Nacht ein paar Ausflüge gestartet und ist irgendwann in der 13 gelandet." "Beim Essen wird Herrn M. immer schwarz vor Augen, er hat die Querschnittslähmung."

Es ist ein routiniertes Runterrattern von Dingen, die vielen ein mulmiges Gefühl in den Magen treiben würden. Lang sind die Listen, die Vorträge der Pflegenden scheinen kein Ende zu nehmen. So viele Patienten, sechs Pflegekräfte. Man nimmt es hier mittlerweile mit einer Seelenruhe. Was soll man sonst tun? "Man kann die Pflege nicht in dem Maß erfüllen, wie es unser Anspruch ist", sagt Schwester Nicole.

13.10 Uhr: Den „toten Punkt“ längst überwunden

Christine Vogler (52) ist die Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR). Im Interview benennt sie, was die skizzierten Personallöcher angeht, eine konkrete Zahl: Heute, so Vogler, fehlten in den Krankenhäusern der Republik etwa 100.000 Pflegekräfte – um jeden Patienten angemessen versorgen zu können. Aktuell arbeiten ungefähr 350.000 Vollzeit-Pflegende in den Kliniken.

Es habe ihn mal gegeben, den „toten Punkt“, den Zustand größter Ermüdung, sagt Vogler – angekommen sei der Berufsstand mittlerweile weit darunter. In Sphären, in denen viele resignieren. Und selbst jetzt sei sich die Bevölkerung noch nicht darüber im Klaren, dass ohne eine wertige Pflege in Zukunft das Gesundheitssystem ermattet.

Ernst scheint die Lage. Man muss die Frage stellen: Wie konnte es so weit kommen – und wie kann das in einem Sozialstaat wie Deutschland überhaupt passieren?

13.04 Uhr: Akkordarbeit am Pflegebett

Seit Jahren sind die finanziellen als auch personellen Voraussetzungen in Krankenhäusern alles andere als ausreichend – gemessen am Ideal einer sehr guten Fürsorge. Und das endet an einem Punkt, wo Pflegende dem extremen Stress, dem sie ausgesetzt sind, oft nicht mehr standhalten können. Das Gefühl überkommt sie, dass Pflege kein Akt der Hilfe und der sozialen Wohlfahrt mehr ist – sondern dass sie, die Pflegenden, Akkordarbeit leisten. Einem Schuften an den Fließbändern einer Fabrik gleich. Viele zermürbt das.

Was auch dieser Punkt nur unterstützt: die sinkenden Liege- und Aufenthaltszeiten in den Kliniken. Sie tun das Übrige, um Pflegekräfte an die Grenzen des Aushaltbaren zu bringen. „Immer mehr Patienten werden in kürzerer Zeit durch das Krankenhaus geschleust“, erklärt Dr. Karl Blum, der Vorstand des DKI. Mehr Gepflegte, weniger Zeit – das heißt: mehr Stress, mehr Aufwand. Und ein höherer Personalbedarf.

12.33 Uhr: Herr E. macht Sorgen

"Herr E., gehen Sie mal ein Stück hoch." Die Worte sind laut und klar, aber Herr E. kann nicht. Herr E. hat keine Kraft. "Versuchen Sie's", sagt Schwester Nicole noch einmal. Alles, was Herr E. aber hervorbringt, ist ein gequältes Stöhnen. Der ältere Herr liegt hier schon eine ganze Weile, niemand weiß, ob er die Station überhaupt noch einmal verlassen wird. Wegen "mehrerer Geschichten", wie Schwester Nicole (31) sagt.

Herr E. läuft zu mit Wasser. Das blockiert die Atmung, an den Knien brechen Wunden auf. Mit zwei Kolleginnen muss Schwester Nicole Herrn E. heben und umkleiden, Infusionen anschließen, den schlaffen Körper drehen. Ein Kraftakt. Eigentlich bräuchte Herr E. mehr Pflegezeit, mehr Fürsorge – geben aber kann sie ihm hier niemand. "Wir müssen priorisieren, welche Patienten wir zuerst behandeln können", erklärt Schwester Nicole Hedderich auf dem Flur. Im Dienst sind auf der Inneren Medizin neben ihr gerade nur noch sechs weitere Kräfte. Bei 47 Patienten.

11.45 Uhr: Zeit zum Durchatmen

Nichts los im Krankenhaus? Durch die Gänge der Chirurgie hasten zur Mittagszeit wenige Pflegende, keine Betten werden durchgeschoben, anders als in den Morgenstunden. Auch das ist Klinik-Alltag. Der Vormittag gehört der Patientenpflege auf den Zimmern, man richtet für das Mittagessen, Besucher sind in Corona-Zeiten ohnehin verboten. Für die Pflegekräfte bedeutet das: Es ist auch mal Zeit zum Durchatmen – oder um sich um die bürokratischen Hürden zu kümmern, um die Dokumentation. Schreibarbeit frisst große Teile der Arbeitszeit.

11.10 Uhr: Pflege, die Zitronenpresse

Es sind dunkle Worte, die man an diesem Vormittag in der Groß-Gerauer Wilhelm-Seipp-Straße hört. Was aber sagen Experten zum Pflegenotstand? Wie schätzen sie die Situation ein? Ein Anruf in Bonn. Hier lebt und arbeitet Carsten Hermes. Als gelernter Krankenpfleger hat der 44-Jährige jahrzehntelange Erfahrung im Beruf, in allen möglichen Bereichen. Heute ist er als Dozent vor allem in der Ausbildung junger Fachkräfte tätig – und als Sprecher der Sektion Pflege der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, kurz DGIIN. Hermes ist einer derer, die die Interessen der Pflegenden überall vertreten. Besonders gegenüber der Politik.

Ausgepresst wie Zitronen. Hermes will nichts beschönigen. Und er gebraucht deutliche Worte.

10.48 Uhr: „Satt oder sauber“ statt „satt und sauber“

Im hinteren Teil des Erdgeschosses öffnet sich die Tür. Zentrale Notaufnahme, grelles Licht. Beate Wiegmann (56) tritt hervor, sie zieht sich die Haube von den Haaren, holt Luft. Eigentlich, sagt sie, habe sie sich heute nicht zu den Zuständen auf den Stationen äußern wollen. Aber sie könne nicht anders. Sei immer direkt. "Früher hieß es bei uns 'satt und sauber', heute heißt es nur noch 'satt oder sauber'", bricht es aus ihr heraus. Für beides sei eigentlich keine Zeit mehr. Sie spricht vom "psychischen Druck", davon, "von der Politik nicht gehört zu werden". Und von großen Teilen der jüngeren Generation, die die harten Bandagen des Berufs nicht mehr aushalten – und gehen.

Wiegmann räumt aber auch ein: "Je stressiger es wird, desto mehr muss man sich bemühen, sich nicht anzumaulen." Meistens klappt das hier unten ganz gut – weil jeder für jeden einstehe.

10.23 Uhr: Mindestens 22.000 nicht besetzte Stellen

Nun, was zeigen diese Trends, die auf den Grafiken unten sichtbar werden? Die Anzahl der Patienten steigt stetig – wie übrigens auch die der Pflegenden. Alles kein Problem also, passt doch. Oder?

Nicht ganz. Ab Mitte der 1990er bis Ende der 2000er Jahre wurden in Krankenhäusern massiv Pflegestellen reduziert, während die Zahl der Patienten unbeirrt in die Höhe schnellte. Trotz der Rekrutierung von Fachkräften lässt sich eine so riesige, über ein Jahrzehnt aufgerissene Lücke nicht kurzerhand stopfen. Die Krise hat sich in einem Notstand verfestigt – der sich Jahr für Jahr verschärft. Auf Anfrage der VRM antwortet Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender des Dachverbands Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG): „Derzeit können Krankenhäuser auf Allgemein- und Intensivstationen gut 22.000 Stellen nicht besetzen.“ Die Dunkelziffer aber, so Gaß, falle höher aus – weil einige Arbeitsbereiche von Krankenhäusern in der Rechnung gar nicht berücksichtigt worden seien.

Was macht das mit den Pflegekräften? Was richtet das mit den Menschen an, die sich zur Frühschicht schleppen und wissen, was sie heute erwartet? Und wie ist die Gemütslage in den Gängen der Kliniken?

9.53 Uhr: Der „Marathon“-Läufer

Rachid Jabri rennt. "In der Pflege", sagt er, "muss man einfach schnell laufen." Weil der Stress so groß sei, "weil wir zu viel zu tun haben". Im Minutentakt rollen Patientenbetten durch den Flur der Chirurgie, Jabri (51) packt einen Sack Wäsche, knüllt ihn am einen Ende zusammen, wirft ihn in den Container. Dann räumt er ein Tablett mit Essensresten ab, überzieht ein benutztes Bett mit steriler Plastikfolie. Immer eins nach dem andern. Und dann rennt er wieder. Während durch die Gänge der Chirurgie alte, gebrechliche Menschen schlurfen.

Seit über 30 Jahren ist Jabri in der Pflege und an der Kreisklinik jetzt Krankenpflegehelfer – er erledigt die Jobs, die die Pflegenden wegen der immensen Belastung und der hohen Zahl an Patienten nicht übernehmen können. Betten schieben, abräumen, die Wäsche. Was nicht heißt, dass es weniger hart ist. Rachid Jabri, die gute Seele auf der Station, rennt permanent. Er muss. "Wir leben mit dem Stress. Darauf sind wir vorbereitet", meint er. "Aber ich sage, wie es ist: Wenn Sie das mit nach Hause nehmen, tut das irgendwann am Herzen weh. Wer nicht topfit ist und empfindlich, der hält das nicht lange aus." Mehrere von Jabris Freunden haben die Pflege bereits verlassen. Gekündigt. Sie haben es nicht geschafft.

9.15 Uhr: Und die Patientenzahlen steigen und steigen

Man muss nicht stundenlang wissenschaftliche Abhandlungen oder Expertisen wälzen, um das Problem und dessen Tragweite zu erkennen. Ein Blick in die jährlich aktualisierte Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamts reicht da schon – und der belegt: Die Personalkrise überraschte die Pflege, Krankenhäuser und die Gesellschaft nicht aus dem Nichts, nicht urplötzlich. Sie bahnte sich über Jahre hinweg an.

8.35 Uhr: Schwester Claudia und die Wut

Dicke Beatmungsschläuche. Hinter der großen Glasscheibe saugt der Patient, ein alter Mann, schwer die Luft ein, sein Blick geht ins Leere. Er hängt an Geräten. Keiminfektion, die Diagnose. So aber sieht das in vielen der sieben Zimmer aus, hier auf der Intensivstation. Viele Maschinen, viele Kabel. Einige Patienten werden nur überwacht – andere am Leben gehalten. Schwester Claudia (53) streift sich den gelben Schutzkittel über die Arme und schiebt die Tür auf. Dann fängt sie an, den Mann umzulagern. Um Druckstellen zu verhindern. Beine hoch, Körper drehen, Kopf richten.

Mit einer Kollegin versorgt sie hier gerade sieben Intensivpatienten. Ob das überhaupt funktioniere? "Selbst, wenn nicht – was haben Sie für eine Wahl?", fragt Schwester Claudia. Dann kommt die Wut, die Empörung. "Der Patient dort drüben, der braucht eigentlich regelmäßig viel Zuwendung, über die nötige Pflege hinaus. Ich kann sie ihm aber nicht immer geben", sagt sie. "Das macht einen nur wütend." In ruhigen Momenten, wie in diesem jetzt, könne sie mal ein paar Minuten reden. Durchatmen. Das aber kann schnell kippen. Weil alles durchgetaktet ist, der Mitarbeiterstamm ausgedünnt sei. "Personaluntergrenzen hat sich jemand ausgedacht, der noch nie in der Pflege gearbeitet hat." Und die Lage werde immer schlimmer.

Schlechte Arbeitsbedingungen, prekäre Zustände, die ausufernde Belastung – im Zusammenhang mit dem Pflegenotstand in Kliniken gehen die Klagen vor allem und immer wieder in diese eine Richtung. Die Pflegenden sind erschöpft, durch die Corona-Pandemie mehr denn je. Sie können nicht mehr. Schieben Frust. Es ist eine Dauerschleife, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt.

8.02 Uhr: Was ein Experte zum Pflegenotstand sagt

Als Forschungseinrichtung beschäftigt sich das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) mit Sitz in Düsseldorf ständig mit den drängenden Fragen: Wie äußert sich der Pflegenotstand auf den Stationen? Was sind die konkreten Probleme, die zu diesem Missstand und zu Abwanderungen aus der Pflege führen? Und wie ließe sich die Entwicklung überhaupt bremsen?

7.40 Uhr: „Kann man nicht kurzfristig lösen“

"Moment mal, haben Sie kurz für ein, zwei Fragen?" Thomas Berck hält inne. Er steht vor der wuchtigen Schiebetür zur Intensivstation, grünes Hemd, grüne Hosen. Berck ist der Leiter der Intensiv- und Anästhesiepflege. In ein paar Minuten muss er, als einzige Kraft, zwei Operationssäle parallel managen – und er arbeitet hier den Berg an OP-Akten ab, die Tanja Kownatzki am frühen Morgen auf dem Tisch gestapelt hat. "Zum Beispiel jetzt, da fehlt uns eine Arbeitskraft", antwortet Berck auf die Frage, wie die Lage auf seiner Station ist. "Wir bräuchten einfach mehr Pflegende, aber so ein Problem kann man nicht kurzfristig lösen." Er entschuldigt sich, er müsse los, die Zeit drängt.

7.08 Uhr: Achtung, infektiös!

Zwei Etagen tiefer schiebt eine Pflegerin ein Patientenbett über den Gang vor der Intensivstation. Schutz-Overall, Haube auf dem Kopf, Handschuhe. Der Frau im Bett ragen Plastikschläuche aus der Nase, sie wirkt abwesend, ihre Haut ist bleich. "Achtung, die Patientin ist Covid-infektiös", mahnt die Pflegerin und zieht vorbei. Ein surreales Bild, in diesen Zeiten.

6.35 Uhr: Pflegenotstand, was ist das?

Die Szene am frühen Morgen, zwischen Kaffeetassen und Aktenbergen, führt vor, was in den Kliniken Deutschlands das Problem ist: die anhaltende Personalkrise, auch Pflegenotstand genannt.

Wie ein Schatten legt sich der Begriff über das deutsche Gesundheitssystem und seine Krankenhäuser. Seit Jahren. Ganz einfach ausgedrückt bedeutet das: In den Kliniken gibt es nicht genügend Personal, um alle Patienten gebührend pflegen zu können. Und trotzdem geht es immer weiter. Irgendwie.

6 Uhr: Die Schicht bricht an, „da muss man durch“

Im dritten Stock beginnt der frühe Morgen mit einem Schlag. Tanja Kownatzki und ihre Kolleginnen sitzen noch bei einem Kaffee zusammen, aber sie wissen, was die nächste Schicht erwartet. "Das erste, was man sieht, wenn man hier ankommt, ist der Stapel an OPs", sagt Kownatzki (42) und zeigt auf einen Turm von Aktenboxen hinter sich. Allein heute stehen zehn an - das heißt ab jetzt für den Frühdienst: Arbeit, Arbeit, Arbeit. "Ja, es könnte weniger sein", meint Kownatzki und nickt. "Aber da müssen wir durch." Sie sind hier hart im Nehmen.

Noch ist es einigermaßen ruhig auf der Chirurgie. Unten, am Ende des Flurs, ruft ein Patient wirre Worte durch den Gang, Tagesgeschäft. Die große Hürde, vor der das Team der Stationsleiterin steht: Eigentlich hat es zu wenige Pflegekräfte für die Zahl der Patienten. In den Betten der Chirurgie liegen gerade fast 50. Ein Ausnahmefall. Pro Schicht kann das Team allerdings nur drei examinierte Pflegekräfte einsetzen, mehr geht nicht. Es sind schwere Tage, doch so ist das seit Jahren, nicht erst seit Corona. Manchmal kommt auf 20 Patienten gerade eine Pflegekraft. "Da ist man auch mal kaputt und kriecht abends ans Auto, am nächsten Tag aber ist das wieder gut", sagt Kownatzki und steht auf. Schichtwechsel.