Die Krisenmanagerin

Von Valerie Schönian

Geschieden, zwei Kinder, Teilzeitjob. Schon bisher musste sie kämpfen. Nun weiß sie nicht, wie sie Gas, Strom und Lebensmittel bezahlen soll. Warum immer noch so viele Alleinerziehende von Armut bedroht sind.

Die Krisenmanagerin
Victoria Jung

An einem Morgen im September vermengt sich in Sarah Bentners Küche die sehr neue mit der sehr alten Krise. Sarah Bentner, die in Wahrheit anders heißt, sitzt am Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Vor ihr liegen ihr Handy, ein Kugelschreiber und ein Brief von NEW Energie, ihrem Gasversorger. Das Handy hat sie auf laut gestellt. Man hört Warteschleifenmusik.

Um Sarah Bentner herum laufen zwei Katzen und ein Hund, vom Wohnzimmer her sind die Stimmen ihrer beiden kleinen Töchter zu hören. Sarah Bentner hat in der Nacht kaum geschlafen, sich mehrmals übergeben. Sie hat gegoogelt, was man tun soll, wenn man eine Lebensmittelvergiftung hat. »Bettruhe und ausschlafen«, hieß es. Da hat sie gelacht.

Der Brief von NEW Energie ist mehrere Seiten lang. »Preiserhöhung NEW Gas Grundversorgung zum 1.10.2022 – Ihr Tarifwechselangebot«, steht darin. Es geht um »§ 26 Energiesicherungsgesetz in Verbindung mit der Gaspreisanpassungsverordnung«, um eine Preisänderung »auf Grundlage von § 5 Abs 2 und § 5 GasGVV«. Weiter heißt es: »Bei einem jährlichen Verbrauch von beispielsweise 14.400 kWh er­geben sich daraus Mehrkosten von ca. 97,32 Euro im Monat.«

»Hallo, willkommen bei der NEW. Was kann ich für Sie tun?« Eine Frauenstimme.

»Bentner, schönen guten Tag. Ich habe den Informationsbrief zur Preiserhöhung von Ihnen erhalten und wollte mal fragen, was genau das denn für meine Summe monatlich bedeutet.«

Die Mitarbeiterin der NEW fragt nach Sarah Bentners Adresse, ihrem Ge­burts­datum, der Vertragskontonummer.

»So, dann gucken wir mal, aber auf den Cent genau werde ich Ihnen nicht sagen können, was die Erhöhung heißt.«

»Das ist nicht schlimm. Nur so, dass ich ungefähr weiß, wie teuer es wird.«

Ein kleines Mädchen in einem Tüllkleid, am Kopf einen angesteckten Zopf, kommt in den Raum, stellt sich neben Sarah Bentner: »Mama, kann ich einen Apfel?«

»Lea, du musst jetzt mal fünf Minuten warten«, sagt Sarah Bentner.

Und ins Telefon: »Das verstehe ich gerade nicht, können Sie mir das vielleicht noch mal ganz kurz erklären.«

Die Mitarbeiterin sagt, um eine Summe zu nennen, benötige sie den Zählerstand.

»Warten Sie, ich gehe kurz in den Keller.«

Sarah Bentner springt auf, läuft durch die Küche, durch den Flur, greift sich den Schlüssel, öffnet die Wohnungstür, läuft die Treppen hinunter, öffnet eine Tür, geht zum Zähler, hält das Handy wieder ans Ohr.

Kein Empfang mehr. Die Mitarbeiterin ist weg.

»Neeeiiin, ich raste aus.«

Millionen Menschen bekommen in diesen Tagen Briefe von ihren Energieversorgern. Das Gas wird teurer, der Strom. Und auch die Lebensmittel. Überall steigen die Preise und fressen das Geld. Das ist die neue Krise.

Es wäre jetzt wichtig, Reserven zu haben, gefestigt zu sein, ökonomisch gesehen, aber Sarah Bentner ist das nicht, und das hat mit einer anderen, einer sehr viel älteren Krise zu tun, die für Sarah Bentner vor anderthalb Jahren begann, als sie sich vom Vater ihrer Kinder trennte.

Wenn eine Ehe zerbricht, ist das eigentlich eine private Angelegenheit, so ähnlich, wie wenn man sich verliebt oder eine Freundschaft be­endet. In Deutschland aber hat diese private Sache für Mütter oft ausgeprägte finanzielle Folgen. Einer Frau mit Kindern, die eben noch dachte, sie stehe fest in der Mitte der Gesellschaft, kann es dann passieren, dass sie sich langsam, Stück für Stück, auf eine Trennungslinie zubewegt: die Schwelle zur Armut. Selbst dann, wenn diese Frau studiert hat und in ­einem ordentlichen Job arbeitet.

Sarah Bentner ist 33 Jahre alt, Sozialpädagogin und Mutter von Hanna, fünf Jahre alt, und Lea, drei Jahre alt. Für diesen Artikel hat sie sich über Wochen in ihrem Alltag begleiten lassen. Die ZEIT sprach nicht nur mit ihr, sondern auch mit Menschen aus ihrem Umfeld. Sarah Bentner hat Einblick gewährt in Kontoauszüge, Rechnungen und Briefe.

Mit ihren Töchtern lebt sie in einer ruhigen Ecke von Duisburg in einer Dreizimmerwohnung, in der es jeden Tag ein wenig anders aussieht. Buntstiftzeichnungen auf Papier erscheinen an den Wänden, Lego-Figuren, die gestern noch im Kinderzimmer standen, liegen auf einmal im Wohnzimmer, im Flur wächst ein Spielplatz aus Hockern und Brettern. Nur die beiden Taufkerzen der Mädchen im Bücherregal, die stehen immer da. Sarah Bentner sagt, sie habe nichts zu verbergen, aber sie wolle nicht, dass ihr Ex-Mann, der sich kaum um die Kinder kümmert, von diesem Artikel erfährt. Deshalb ist hier ihr Name ge­ändert, genau wie die Vor­namen ihrer beiden Kinder und einige Details.

»Hose oder Kleid?« Sarah Bentner sitzt auf einem Lederhocker im Wohnzimmer und zieht Lea das Nachthemd aus. Hanna steht daneben und schwingt ihren Hula-Hoop-Reifen. Es ist ein Dienstagmorgen im August, einen Monat vor dem Anruf beim Gasversorger. Lea greift zu einem Rock. Hanna geht ins Kinderzimmer und sucht nach einer Hose, die eine ist zu weit, die andere zu eng, Sarah Bentner sucht mit.

Sie hat wieder einen langen Tag vor sich. Am Vormittag muss sie mit den Mädchen in die neue Kita, damit sie sich dort langsam eingewöhnen können, danach wird sie arbeiten. Währenddessen wird Sarah Bentners Mutter sich um die Kinder kümmern, allerdings hat die Mutter nur ein paar Stunden Zeit. Sarah Bentner hat gerade erst in ihrem neuen Job angefangen, nun muss sie schon fragen, ob sie früher gehen darf.

Aber jetzt erst mal das Frühstück. Die beiden Mädchen setzen sich an den Tisch. In der Küche steht ein Wäschekorb mit trockenen Sachen. Auf einem Schrank liegt ein Stapel ungeöffneter Briefe. Sarah Bentner mixt einen Smoothie. Bananen, Nektarinen, Lein­samen. »Feenzaubersamen«, sagt sie.

Zweieinhalb Stunden später, nachdem sie mit Hanna in der Kita Murmeln gespielt und Lea versichert hat, dass sie auch ganz sicher nicht weggeht, wartet Sarah Bentner mit den Kindern an der Straße und wird nervös. Sie muss jetzt zur Arbeit, dringend. Ihre Mutter ist schon sieben Minuten zu spät. Dann, endlich, biegt der blaue Kleinwagen um die Ecke. Sarah Bentner verabschiedet sich. Hanna weint und klammert sich an ihr Bein: »Mama, wo gehst du hin?«

»Arbeiten, Schatz!« Hanna weint lauter, schreit, sie wolle kuscheln. »Immer musst du weg!« Sarah Bentner sagt, heute Abend könnten sie wieder kuscheln. Sie setzt Hanna ins Auto, dann Lea, die jetzt auch weint, weil Hanna weint. »Ich muss jetzt wirklich los, Schatz.« Sie wirft die Tür zu.

Man habe immer ein schlechtes Gewissen, sagt sie.

Sarah Bentner arbeitet in einem Wohnprojekt für Menschen mit Autismus, Angststörungen, Schizophrenie, Depressionen. Menschen, die stabil genug sind, um außerhalb einer Klinik zu leben, aber nicht so eigenständig, dass sie ihren Alltag allein meistern können. Sarah Bentner füllt mit ihnen Formulare aus, geht mit zum Einkaufen, begleitet sie zum Arzt. Sie mag ihre Arbeit, als diplomierter Sozialpädagogin im öffentlichen Dienst stehen ihr 3480 Euro brutto im Monat zu, damit liegt man zwar unter dem deutschen Durchschnittsgehalt von 4100 Euro, aber immer noch im Mittelfeld.

In Deutschland werden jedes Jahr Dutzende Statistiken zu Einkommen und Gehältern veröffentlicht. Sie tragen Namen wie Gehaltsreport, Vergütungsreport oder Ge­halts­check und geben Auskunft darüber, wie viel zum Beispiel eine Kinderärztin im Durchschnitt verdient, oder ein Lokführer, eine Physiotherapeutin, ein Bankkaufmann. Sieht man sich diese Statistiken an, wirkt es so, als hänge das Einkommen allein vom Beruf ab, vom Studienfach, von der Ausbildung. Solchen Sachen.

Das ist nicht verkehrt. Es gibt aber noch einen anderen Faktor, der darüber bestimmt, wie viel Geld eine Person zur Verfügung hat. Die Zeit. Wer nicht Vollzeit arbeiten kann, weil er oder sie sich auch noch um die Kinder kümmern muss und um den Haushalt, bekommt weniger Geld, obwohl da insgesamt, wenn man die bezahlte und die unbezahlte Arbeit addiert, am Ende der Woche nicht selten mehr Stunden zusammenkommen.

Bei Sarah Bentner zum Beispiel sieht der Tag so aus: Sie steht auf, gibt den Katzen ihr Futter, gibt dem Hund sein Futter und seine Medizin, geht mit dem Hund raus, macht den Kindern ihr Frühstück, fährt mit den Kindern in die Kita, fährt weiter zum Einkaufen oder direkt zur Arbeit, kümmert sich um ihre Klienten, kümmert sich danach wieder um ihre Kinder und dann auch noch um den Haushalt. Und weil sie sich um ihre Kinder und den Haushalt nicht genug kümmern könnte, wenn sie sich in Vollzeit um psychisch kranke Menschen kümmern würde, arbeitet sie in dem Wohnprojekt nur in Teilzeit, rund 60 Prozent. Deshalb verdient sie in Wahrheit gar nicht 3480 Euro brutto, sondern nur knapp 2000 Euro.

Damit ist schon einer der wichtigsten Gründe genannt, weshalb mehr als 40 Prozent der 2,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland unterhalb der Armutsschwelle leben und viele andere, wie Sarah Bentner, nicht weit entfernt sind von dieser Schwelle: Sie haben schlicht nicht genug Zeit, um Geld zu verdienen. Laut dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der ­Bundesregierung gibt es nur eine Bevölkerungsgruppe, bei der die sogenannte Armutsgefährdungsquote noch höher liegt: die Arbeitslosen.

60 Prozent Teilzeit, das sind bei Sarah Bentner 22,4 Stunden pro Woche. Eigentlich immer noch viel zu viel, weil sie zu Hause ständig das Gefühl hat, gegen die Uhr zu kämpfen.

Sie muss sich um eine Schule für Hanna kümmern und um einen Hortplatz nach der Schule.

Sie muss aufpassen, dass die Kinder sich nicht zu kalt anziehen oder zu warm. Dass sie an heißen Tagen Sonnencreme dabeihaben und an nassen Tagen Gummistiefel tragen.

Muss Streitereien um Einhorn-Löffel schlichten und für Gerechtigkeit beim Aufräumen sorgen.

Antworten haben, wenn die Katastrophe eintritt und eine Zauberkugel zerbricht oder bei ­Hanna zu viel Salz auf dem Ei ist.

Lea beruhigen, wenn sie sich vor Monstern im Flur fürchtet.

Daran denken, dass sie selbst noch zum Hautarzt muss und zum Orthopäden wegen ihrer Knie- und Rückenschmerzen, und die Kinder müssen zum Zahnarzt, und um den abgerissenen Seitenspiegel an ihrem Auto muss sie sich auch kümmern; den hat sie im Moment nur mit Pan­zer­tape angeklebt, um die 500 Euro Selbstbeteiligung im Schadensfall zu sparen.

Und natürlich die Wäsche machen. Sie sagt, das mache sie den ganzen Tag, trotzdem seien da ständig neue schmutzige Hosen und Socken. Sie sagt auch, so fühle sich ihr ganzes Leben an: wie der Wäscheberg, der niemals endet.

Der friedlichste Moment des Tages ist abends, wenn Sarah Bentner ihren Kindern vorliest. Lea sitzt rechts von ihr auf dem Sofa, mit wippendem Bein und gespanntem Blick, und Hanna links von ihr, den Kopf an ihrem Arm. Danach bringt Sarah Bentner die beiden ins Bett. »Ich liebe euch, meine kleinen Schätze. Bis morgen früh.« Es ist dann sieben Uhr oder halb acht. Sie räumt auf, reinigt das Katzenklo, geht mit dem Hund raus, macht Wäsche.

Dann legt sie sich schlafen.

4. August. Westdeutsche Zeitung: »Energiekrise: Preis-Schock für Kunden der NEW.«

10. August. Die Welt: »Kommt jetzt die Mega-Rezession?«

22. August. Die Talkshow hart aber fair stellt die Frage: »Kostenfalle Energie: Wie sollen wir das schaffen?«

31. August. In der Talkshow Markus Lanz warnt ein Wirtschaftsforscher vor der »sozialen Katastrophe«.

Man könnte denken, dass Sarah Bentner angesichts solcher Sätze längst in Panik geraten wäre, aber das stimmt nicht, denn sie weiß nichts von ihnen. Seit einem Jahr lese sie kaum noch Zeitung, schaue kaum noch Nachrichten, sagt sie. Auch dafür hat sie keine Zeit und keine Nerven. Nachrichten sind für sie ein entferntes Hintergrundrauschen, das sie kaum beachtet. Vielleicht hat das für sie manchmal auch etwas Gutes. Alleinerziehend sein funktioniert nur mit Verdrängung.

Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass sie den Mann kennenlernte, der heute ihr Ex-Mann ist, es war bei einem Abendessen bei einem gemeinsamen Freund. 24 war sie damals, er zwei Jahre älter. Der erste Kuss, die erste gemeinsame Wohnung, ein gemeinsames Leben. Ihr gefiel, dass ihm sein Beruf als Bauingenieur wichtig war, dass er immer zur Arbeit ging, sie mochte die Verlässlichkeit, die darin lag. Und dass er sie so fest in den Arm nahm.

Ihr selbst war lange nicht klar, wohin sie beruflich wollte, sie fing eine Ausbildung zur Hotelfachfrau an, brach ab, kellnerte in Bars, fing eine Ausbildung zur Erzieherin an, brach ab, schrieb sich dann an der Fachhochschule für Sozialpädagogik ein.

Als sie ihm von der Schwangerschaft erzählte, weinte er vor Freude. Sie heirateten, da hatte sie gerade ihr Studium abgeschlossen. Acht Monate nach Hannas Geburt war sie das zweite Mal schwanger. Damals begannen die Probleme. Er machte Überstunden, verdiente gut, aber spielte nicht mit Hanna, putzte nie das Bad, legte sich, sobald er nach Hause kam, auf die Couch. Als dann auch Lea auf der Welt war, wuchsen die Konflikte, dazu kamen die Pandemie, die geschlossenen Spielplätze.

Lea war ein Jahr alt, da suchte sich Sarah Bentner einen Job, ihre erste Stelle als Sozialpädagogin. Eine Flüchtlingsunter­kunft. Überfüllte Zimmer, verlassene Menschen, verstörte Kinder. Es belastete sie. Und die Pandemie hörte nicht auf, immer wieder schloss die Kita, und immer war sie es, die mit den Kindern zu Hause blieb, obwohl sie schon damals nur Teilzeit arbeitete. Wenn sie ihn fragte, ob nicht er sich mal um Hanna und Lea kümmern könne, sagte er, seine Kollegen würden sich dann über ihn lustig machen, weil das Frauenarbeit sei. Das ist ihre Version; sie wird von ihrer Mutter und einer Freundin bestätigt. Damals rief Sarah Bentner oft bei Freundinnen an und weinte: Sie halte das alles nicht mehr aus. Sie weinte auch, wenn sie neben ihm auf der Couch saß und sagte, sie sei unglücklich, es müsse sich etwas ändern.

Dann, an einem Samstag vor anderthalb Jahren, war Sarah Bentner wieder den ganzen Tag mit den Mädchen draußen, und er hatte wieder keine Lust gehabt mitzukommen. Putz wenigstens die Küche!, hatte sie gesagt. Als sie zurückkam, habe er auf der Couch gelegen, sie sei in die Küche gegangen, die noch immer schmutzig war. Da habe sie gesagt: Jetzt ist es genug.

Sie suchte eine neue Wohnung, aber welcher Vermieter will eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, zwei Katzen, einem Hund? Nur vier- oder fünfmal wurde sie zur Besichtigung zugelassen, da stand sie dann mit Dutzenden anderen Bewerbern. Schließlich erzählte ihr eine Freundin von einer Wohnung, die in ihrem Haus frei werde, am anderen Ende von Duisburg. Sie sah sie sich an, sagte sofort zu, obwohl sie eigentlich zu teuer war, und hatte Glück. Der Eigentümer akzeptierte sie als Mieterin.

Seitdem ist das ihr neues Leben: Sie arbeitet, kümmert sich um Hanna und Lea und versucht, ihr gebrochenes Herz zu heilen. Sie war beim Jugendamt, weil ihr Ex-Mann keine Anstalten machte, Zeit mit den Kindern zu verbringen. Am Ende verständigten sie sich schriftlich darauf, dass er die Mädchen wenigstens jedes zweite Wochenende zu sich nimmt. Oft bringt er sie dann zu seiner Mutter.

Die alte Kita, ihre alte Arbeitsstelle liegen eine halbe Stunde von der neuen Wohnung entfernt. Mehr als ein Jahr lang fuhr sie jeden Tag hin und her. Dann fand sie endlich einen neuen Job und neue Kitaplätze für die Mädchen. Aber sie muss sie schon um halb drei nachmittags abholen. Für eine längere Betreuungszeit steht sie auf der Warteliste. Vielleicht klappt es im nächsten Jahr.

Zu wenig Kitaplätze, zu wenig Betreuungszeit pro Platz, das ist ein weiterer Grund für die finanziellen Schwierigkeiten zahlreicher Alleinerziehender. Trotz des Ausbaus der Betreuungsmöglichkeiten in den vergangenen Jahren fehlen in Deutschland, vor allem im Westen, weiterhin viele Tausend Plätze für Kinder in Krippen und Kindergärten. Und das Problem ist seit Langem bekannt.

Zitat aus einem Artikel über Alleinerziehende in der Süddeutschen Zeitung, Dezember 1986: »Ob verwitwet, geschieden oder ledig – sie geraten in Not, sobald sie Schwäche zeigen.«

Veröffentlichung einer Studie des Bonner Familienministeriums zur Lage Alleinerziehender in der Bundesrepublik, September 1987: Die Autoren stellen einen »Rückzug in die soziale Isolation« fest. Man brauche endlich »ein ausreichendes ­Angebot an Möglichkeiten der Kinderbetreuung«.

Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion, August 1990: » Die Diskriminierung Alleinerziehender ist politisch gewollt!«, sagt eine Expertin von der Universität Hannover. »Seit einem Vierteljahrhundert referieren wir die gleichen Trends.« Geschehen sei nichts.

So geht es danach weiter. In Studien, Statistiken und Artikeln wird die schwierige Lage der Alleinerziehenden beschrieben, es wird viel geredet und gefordert, doch das Problem bleibt das gleiche. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung kam vor Kurzem in einer Analyse zu dem Schluss, dass sich, bezogen auf Westdeutschland, »das Armutsrisiko­ allein­erzie­hen­der Mütter seit den 1980er-Jahren nur wenig verändert hat«.

Man sieht es auch an den mittlerweile sechs Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. Die Passagen zu Alleinerziehenden darin ähneln ­einem Song, der in stets neuen Variationen seit zwei Jahrzehnten im Radio läuft. Als im Jahr 2001 der erste Bericht erscheint, klingt das so: Besonders alleinerziehende Frauen könnten »kein oder nur ein unzureichendes Erwerbseinkommen erzielen«. 2005, der zweite Bericht: »Mit dem Alleinerziehendenstatus tritt häufig eine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Haushalte ein.« 2017, Bericht Nummer fünf: »Haushalte von Alleinerziehenden und damit auch die darin lebenden Kinder sind (...) in nennenswertem Umfang von materieller Deprivation betroffen.« Und schließlich der vorerst letzte Bericht aus dem vergangenen Jahr: »Für Alleinerziehende mit kleinen Kindern bleibt es schwieriger, überhaupt erwerbstätig zu sein.«

Anfang September. Sarah Bentner sitzt am Steuer ihres Autos, die Mädchen hinter ihr auf der Rückbank. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und öffnet die Notizen-App. »Lasst mal zusammen überlegen, was Mama gleich noch einkaufen muss.« Währenddessen tippt sie in ihr Handy: Sprudel, Milch, Eier. »Joghurt!«, ruft Hanna.

»Da haste recht.«

»Smoothie!«, ruft Lea.

»Den können wir selbst machen.«

Sie fahren los. Sarah Bentner setzt die Kinder an der Kita ab, wo sie inzwischen allein bleiben können, dann fährt sie weiter zum nächsten Aldi.

Früher, in ihrem alten Leben, hat sie beim Einkaufen nie sonderlich auf den Preis geachtet. Sie fuhr zu Edeka, packte ein, was sie brauchte, meist griff sie zu Bio-Lebensmitteln. Nach der Trennung wechselte sie zu Aldi. Seit es mit der Inflation im Frühjahr so richtig ernst wurde, kauft sie auch dort nicht mehr bio.

Sie holt sich einen Einkaufswagen, betritt den Supermarkt, jetzt, am Vormittag, ist sie fast allein. Mit schnellen Schritten läuft sie die Regale entlang.

Sie packt ein:

Cola, 75 Cent.

Gurke, 99 Cent.

CO₂-Kartusche für die Sprudelmaschine, 5,75 Euro.

Toast, 1,29 Euro.

Eine Tafel Schokolade, 1,29 Euro.

Milch, 1,09 Euro.

Eier, 2,29 Euro.

Eine Pizza classico für sich selbst zum Mittagessen, 89 Cent.

Vor dem Kühlregal hält sie einen Sahne­joghurt länger in der Hand, der 39 Cent kostet. Dann stellt sie ihn wieder hin, geht weiter und packt eine Joghurt-Viererpackung ein, Frucht-Junior, 99 Cent.

Das Seltsame an der Inflation ist, dass man sie einerseits sehr exakt messen kann und andererseits niemand sie wirklich kennt. Das Statistische Bundesamt rechnet jeden Monat aus, um wie viel Prozent die Preise in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind. Im August lag der Wert bei 7,9 Prozent, so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr, bei den Nahrungsmitteln waren es sogar 16,6 Prozent. Aber das ist natürlich eine Durchschnittszahl. Manche Produkte sind noch viel teurer geworden, bei anderen ist der Preis fast gleich geblieben. Wenn Sarah Bentner es schaffen würde, aus den Regalen nur jene Sachen herauszuziehen, die heute kaum mehr kosten als vor einem Jahr, dann könnte ihr die Inflation zumindest im Lebensmittelbereich wenig anhaben. Aber woher soll sie wissen, welche Produkte das sind, sie ist kein Computer, und auf manche Dinge kann sie eben schlecht verzichten. Also versucht sie einfach, immer das Billigste zu nehmen, und hofft darauf, dass das Geld am Ende reicht.

Sie schiebt den Einkaufswagen zum Angebote-Regal, da geht sie immer vorbei, wenn sie hier ist. Sandalen zum Beispiel könne man bei Aldi »gut schießen«, sagt sie. An diesem Tag sind Töpfe im Angebot. Sie braucht dringend neue Töpfe. Aber 15,99 Euro? »Da warte ich bis Weihnachten.«

Neben ihrem Gehalt hat Sarah Bentner noch zwei weitere Geldquellen. Sie bekommt Kindergeld vom Staat, und sie bekommt Unterhalt von ihrem Ex-Mann. Früher hatten erwerbstätige Männer nach einer Scheidung sowohl Zahlungen für die Kinder als auch für ihre ehemalige Ehefrau zu leisten. Dies wurde im Jahr 2008 durch eine Reform des Unterhaltsgesetzes geändert. Seitdem muss nach dem dritten Geburtstag des jüngsten Kindes nicht mehr für die Frau gezahlt werden, nur noch für die Kinder.

Wie viel Unterhalt gezahlt werden soll, legt die sogenannte Düsseldorfer Tabelle fest. Sie orien­tiert sich zum einen am Gehalt des Mannes, zum anderen am sogenannten sächlichen Existenzminimum eines Kindes. Dieses soll »bei einfacher Lebenshaltung« den »erforderlichen Bedarf« decken. Dinge wie Kita-Gebühren, Schul­essen, Fahrräder, Gebühren für Sportvereine sind nicht berücksichtigt.

Trotzdem weigert sich laut einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts fast jeder fünfte unterhaltspflichtige Elternteil – so gut wie immer ist das der Mann –, so viel Unterhalt zu zahlen, wie er müsste. Und spätestens damit beginnt für viele Alleinerziehende eine ganz eigene Problematik: der Weg in die Bürokratie. Sie können in diesem Fall nämlich einen Unterhaltsvorschuss beantragen, der Staat springt dann für die Männer ein, die nicht zahlen. Eigentlich eine gute Sache. Ohnehin kann man nicht behaupten, im deutschen So­zial­staat gebe es für Alleinerziehende keine Hilfsangebote.

Nur ist es so: Für den Unterhaltsvorschuss ist das Jugendamt zuständig. Für den Kinderzuschlag, der bei besonders niedrigen Einkommen bezahlt werden kann, die Familien­kasse. Für das Wohngeld, das ebenfalls für Geringverdiener gedacht ist, die jeweilige Stadtverwaltung. Für das Arbeitslosengeld II, falls die Alleinerziehende­ keinen Job hat, das Jobcenter. Überall müssen die Frauen eigene Anträge stellen, oft auch persönlich ihr Schicksal ausbreiten. Ob sie die jeweilige Leistung tatsächlich bekommen, kann ihnen im Vorhinein niemand sagen, da sich die Bezugsgrenzen oft von Kommune zu Kommune unterscheiden – und auch noch gegenseitig beeinflussen.

So kann es passieren, dass ein Unterhaltsvorschuss genehmigt wird, aber dadurch dann ein Teil des Wohngelds wegfällt. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis: »Für die Familien selbst sind die komplizierten Regelungen nicht zu durchschauen.«

Sarah Bentner kommt bisher ohne Hilfe vom Amt aus. Ihr Ex-Mann überweist ihr jeden Monat mehr oder weniger die vorgesehene Summe. Wobei er davon die Hälfte des Kindergeldes abziehen darf, das auf Sarah Bentners Konto fließt. Unabhängig davon, ob er sich um die Kinder kümmert.

Allerdings gibt er an, neuerdings nur noch 2300 Euro netto zu verdienen, was doch recht seltsam ist. Denn erstens habe er, sagt Sarah Bentner, früher sehr viel mehr verdient. Und zweitens liegt diese Summe genau an der Grenze. Ab 2301 Euro würde er in die nächsthöhere Einstufungsgruppe fallen und müsste mehr Unterhalt zahlen. Sie könnte versuchen, gerichtlich gegen ihn vorzugehen, aber im Moment fehlt ihr dafür die Kraft. Und die Zeit.

An einem Sommerabend sitzt Sarah Bentner in ihrer Wohnung. Der Wäschetrockner läuft, daneben steht ein Korb mit Kleidern und Unterwäsche, die sie noch falten muss. Sie sagt, sie sei müde. Trotzdem macht sie Witze, lacht. Sarah Bentner spricht immer schnell und einnehmend. Dann fragt man sie nach ihrem Kontostand, und sie wird still. Sie sagt, sie habe seit Tagen nicht mehr nachgesehen. Sie greift zum Handy, tippt auf dem Display herum: »1200.«

Plus? »Nein, minus.«

Sie schaut weiter auf ihr Handy und sagt: nichts.

Dann liest sie einige Ausgaben aus den vergangenen Wochen vor:

795 Euro, die Miete.

61 Euro, Strom.

125 Euro, Gas.

60 Euro, der Studienkredit, den sie noch abbezahlen muss.

110 Euro, die Rate für ihre Stromnachzahlung vom letzten Jahr.

67 Euro, für den Geburtstag von Hanna, weil sie Geschenke kaufen und einen Nudelsalat machen wollte.

469 Euro, eine Woche Campingurlaub.

Dazu kommt eine lange Reihe weiterer Zahlungen: Essenseinkäufe, Benzin, Telefon, Internet, Versicherungen.

Eingegangen sind:

784 Euro, das halbe Netto-Monatsgehalt ihres alten Jobs.

886 Euro, das halbe Netto-Monatsgehalt ihres neuen Jobs.

593 Euro, Unterhalt von ihrem Ex-Mann.

438 Euro, Kindergeld.

Sarah Bentner sitzt da, mit einer Mischung aus leerem und nachdenklichem Blick. Sie sagt, erst im März habe ihr Vater ihr Konto ausgeglichen, mit 1500 Euro. Sie hatte gehofft, dann werde es besser. Aber Versicherungen, Rechnungen, der Urlaub, und auf einmal, sagt sie, sei man wieder in den Miesen. Es sei frustrierend. »Weil man das Gefühl hat: Ich mache ja. Ich hänge ja nicht irgendwie rum und mache mir einen faulen Lenz, sondern den ganzen Tag tue ich etwas, doch es reicht trotzdem nicht.«

Sarah Bentner will kein Mitleid erregen. Ihr ist bewusst, dass viele Menschen in Deutschland es schwerer haben als sie. Sie hat ein Auto, sie hat ­einen Wäschetrockner, sie hat einen Hund. Man könnte sagen, da ist noch Einsparpotenzial. Aber ohne das Auto würde sie es nie schaffen, rechtzeitig von der Kita zur Arbeit zu kommen und von der Arbeit zur Kita. Ohne den Trockner würde ihr der Wäscheberg vollends über den Kopf wachsen, aber vermutlich werde das nun bald passieren, dass sie den Trockner abschafft, sagt sie.

Und der Hund? Er ist krank, hat Diabetes und einen gutartigen Hirntumor, immer wieder war sie mit ihm beim Tierarzt, für die Behandlungen hat sie sehr viel Geld bezahlt. »Was soll ich denn machen?«, sagt sie. »Er ist doch mein Hund.«

Sarah Bentner liegt mit ihrem Einkommen mehrere Hundert Euro über der Armutsschwelle. Auf der sozialen Skala gehört sie zur unteren ­Mittelschicht. Vielleicht ist diese Krise auch deshalb so besorgniserregend, weil sie sogar bei jemandem wie Sarah Bentner das Gefühl verstärkt, nicht mehr mithalten zu können.

Spricht man mit alleinerziehenden Müttern im ganzen Land, merkt man: Sehr vielen geht es genau wie ihr.

Eine Innenarchitektin aus Tübingen, 36, zwei Kinder, sagt, sie habe sich dabei erwischt, wie sie nur eine Scheibe Toast gegessen hat, um eine Mahlzeit zu sparen.

Eine Altenpflegerin aus Paderborn, 46, eine Tochter, sagt, sie habe keine Angst vor Altersarmut. Sie habe sich schon damit abgefunden.

Eine Sozialberaterin aus Osnabrück, 44, eine Tochter, sagt, früher habe sie die Pfandflaschen neben der Mülltonne stehen lassen, jetzt nehme sie welche mit. Wenn sie an ihre finanzielle Situation denke, fühle sie sich wie in einer Seifenblase. Es komme ihr unwirklich vor.

Eine Schulhelferin aus Berlin, 37, eine Tochter, sagt, sie gehe durch die Straßen und wirke so normal wie alle anderen. Aber wäre da nicht ihre Tochter, sie würde sich einweisen lassen.

Eines Abends in diesem Spätsommer, um acht Uhr, erhält Sarah Bentner einen Anruf. Eine Erzieherin aus der Kita ist dran, sie sagt, es gebe einen Fall von Affenpocken, die Kita müsse für zwei Wochen schließen. So erzählt Sarah Bentner es später. Sie habe gesagt: Okay, ihr könnt da ja nichts dafür, aber was soll ich jetzt machen?

Wenn ein Arbeitnehmer zu Hause bleiben muss, weil ein Kind krank ist, gibt es Kinderkrankengeld. Man bekommt dann meist 90 Prozent seines Nettogehalts weitergezahlt. Die Erzieherin aber sagt, dies gelte hier nicht, da die Kinder nicht in Quarantäne müssten, das habe das Gesundheitsamt mitgeteilt.

Am nächsten Morgen stehen Mitarbeiter des Gesundheitsamts und des Jugendamts vor der Kita und beantworten Fragen der Eltern. Der Mann vom Gesundheitsamt erzählt von den Affenpocken. Sarah Bentner berichtet später, sie habe gefragt, was denn nun mit der Betreuung sei. Der Mann vom Jugendamt habe geantwortet, die liege in elterlicher Verantwortung. Als sie das hörte, sagt Sarah Bentner, musste sie ihre eigenen Hände festhalten. Das muss sie immer, wenn sie das Gefühl hat, vor Wut zu explodieren.

Sie ruft bei ihrer Arbeit an. Ihre Chefin sagt, sie könne unbezahlten Urlaub nehmen. Als Sarah Bentner erwidert, die Situation sei ja nicht ihre Schuld und unbezahlten Urlaub, das könne sie sich nicht leisten, antwortet die Chefin: Unbezahlter Urlaub, das sei schon kulant.

Sie spricht noch einmal mit dem Jugendamt. Man sagt ihr, wenn sie überfordert sei, könne sie Unterstützung beantragen, dann werde eine Mitarbeiterin vorbeikommen und ihr helfen, ihr Leben besser zu strukturieren. Sie sagt, darum gehe es nicht, was sie brauche, sei Geld.

Sie ruft ihren Ex-Mann an und fragt ihn, ob er vielleicht Urlaub nehmen und die Kinder zu sich holen könne, damit sie nicht zwei Wochen ohne Gehalt ist. Er lehnt ab.

Ihr Vater sagt später, sie hätte sich einfach krankmelden sollen. Dann hätte ihr Arbeitgeber das Gehalt weiterzahlen müssen.

Am Ende erfährt sie von einer anderen Mutter aus der Kita, dass es nun wohl doch Kinderkrankengeld gebe. Eine Richtlinie sei geändert worden. Ihre Krankenkasse schreibt ihr Wochen später, es könne »eine Weile dauern«, bis der Betrag berechnet und überwiesen wird. »Bitte haben Sie Verständnis.«

Sarah Bentner sagt, das sei bitter. Niemanden interessiere es, ob sie ihr Gehalt bekomme, nicht ihren Arbeitgeber, nicht ihren Ex-Mann, nicht den Staat.

Es sind Erlebnisse wie dieses, durch die Sarah Bentner viel Vertrauen verliert. Vertrauen in das Land, die Gesellschaft. Vertrauen, das auch durch das Entlastungspaket der Bundesregierung nicht zurückkehrt. Sicher, von manchen Regelungen hat sie profitiert, dem Tankrabatt, dem Energiegeld. Aber es bleibt das Gefühl, dass sie für das, was da gerade über das Land hereinbricht, nicht gewappnet ist.

Mitte September. Was immer noch da ist, sind die Wäscheberge. Was verschwunden ist, sind die ungeöffneten Briefe auf dem Küchenschrank. Sarah Bentner hat sie schließlich gelesen. Drei unbezahlte Rechnungen waren dabei, für Kinderkleidung und Hunde-Medizin, insgesamt 200 Euro.

Sie hat dann ihre Mutter angerufen.

Sarah Bentners Mutter war selbst alleinerziehend, auch wenn der Vater sich immer engagiert und mit gekümmert hat. Später wird die Mutter sagen, sie könne sich noch gut erinnern: die Erschöpfung am Abend, wenn man eigentlich noch das Haushaltsbuch führen müsste, um die Ausgaben zu kontrollieren, aber die Energie dazu fehle. Die Mutter ist selbst Sozialpädagogin, hat Menschen in sozialen Schwierigkeiten betreut, sie kennt die Stapel ungeöffneter Briefe von ihrer Arbeit damals, damit fange es immer an, sagt sie.

Als Sarah Bentner ihr von den Rechnungen und dem Minus auf dem Konto erzählt, überweist die Mutter 2000 Euro. Sarah Bentner ist dankbar für das Geld. Aber es ist auch demütigend. Sie weiß ja, dass ihre Mutter nur eine kleine Rente bekommt, die sie mit einem 450-Euro-Job aufstockt. Sie nimmt sich fest vor, nicht wieder ins Minus zu rutschen.

Dann kommt der Brief von NEW Energie, ihrem Gasversorger.

Nachdem im Keller der Empfang abgerissen war, ist Sarah Bentner wieder nach oben in die Wohnung gegangen. Erneuter Anruf, wieder Warteschleife.

»Hallo, willkommen bei der NEW, was kann ich für Sie tun?« Diesmal ist es ein Mann.

Sarah Bentner erklärt die Situation, gibt den ­Zählerstand durch, sagt, sie müsse wissen, wie viel sie ab Oktober zu bezahlen habe. »Da ich allein­erzie­hend bin, ist das nicht ganz unwichtig für mich.«

»Na ja«, sagt der Mann, »mit dem aktuellen ­Zählerstand ist es möglich, den aktuellen Verbrauch zu berechnen, aber nicht den für die Zukunft.«

»Ja, aber ich soll doch was unterschreiben für den 1. Oktober. Wäre nicht schlecht, wenn ich da Genaueres weiß.«

Der NEW-Mitarbeiter murmelt etwas, sucht ihren Vertrag heraus, sagt dann: »Wir haben den Bestandskunden ein Angebot gemacht, das Ihnen vorliegt.« Bleibe sie bei ihrem alten Tarif, dann sei der zwar weiterhin monatlich kündbar, aber es werde deutlich teurer. Nehme sie das Angebot an und wechsle in einen neuen Tarif, dann werde es nicht ganz so teuer, aber der Betrag werde fest vereinbart bis Ende 2023. Der Mann fängt an zu rechnen. Dann sagt er: Wenn Sarah Bentner beim alten Tarif bleibe, werde der Abschlag ein Drittel höher aus­fallen.

»Ein Drittel höher?«, sagt Sarah Bentner. »Also, ich habe jetzt einen Abschlag von 124 Euro, und dann ...«

»Nee, eigentlich ist es sogar mehr als ein Drittel. Eigentlich ist es schon fast eine Verdoppelung.«

»Eine Verdoppelung?« Das wären jeden Monat fast 250 Euro.

»Na ja, klar, von 10 auf 18 Cent pro Kilowattstunde«, sagt der Mann mit gemütlicher Stimme. Wenn sie auf den neuen Tarif umstelle, seien es 15 Cent, aber nur bis Januar, dann steige der Preis auf 17 Cent. »Das wäre dann auch fast eine Verdoppelung.«

»Okay«, sagt Sarah Bentner. »Danke für die Information. Einen schönen Tag noch.«

Sarah Bentner legt auf und schaut ratlos. Dann sagt sie: »Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich bin damit überfordert.«

Wird sie irgendwann noch mehr für das Gas bezahlen müssen? Wird die Politik eingreifen und den Anstieg der Gaspreise künstlich begrenzen? Wo wird das alles enden? Sie atmet schwer, hält sich die Hand auf den Magen, die Lebensmittelvergiftung. Dann schneidet sie einen Apfel, legt die Stücke in eine Plastikschüssel und bringt sie rüber ins Wohnzimmer zu den Kindern.

Es gibt jemanden, der die Probleme vieler Alleinerziehender grundlegend lösen könnte. Es sind die Männer, genauer: die Väter. Also jene Menschen, die , wenn ihre Partnerin ein Kind bekommt, in 93 Prozent der Fälle weiterhin Vollzeit arbeiten. Die in lediglich 25 Prozent der Fälle Elternzeit nehmen und dann wiederum meist nur den Mindestzeitraum von zwei Monaten. Die auch nach der Trennung fast immer Vollzeit arbeiten und sich oft bestenfalls am Wochenende oder vielleicht an ein oder zwei Werktagen mit ihren Kindern beschäftigen.

Weshalb ihre Ex-Partnerinnen meist keine andere Möglichkeit haben, als weiter Teilzeit zu arbeiten, auf bessere Betreuungsmöglichkeiten zu hoffen und im Notfall Unterstützungsleistungen vom Amt zu beantragen.

Viele Männer mögen das deshalb so handhaben, weil sie es nie anders kennengelernt haben, weil schon ihre Väter dieses Leben lebten, weil auch die Frauen es sich nie anders vorstellen konnten.

Aber eben auch, weil der Staat es unterstützt. Zum Beispiel, indem er durch das Ehegattensplitting den Paaren einen steuerlichen Anreiz liefert, an der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern festzuhalten. Oder indem er das volle Elterngeld auch dann auszahlt, wenn sich die Männer kaum an der Elternzeit beteiligen. Und auch, weil manche Arbeitgeber sich immer noch weigern, sowohl Männern als auch Frauen in Teilzeit Aufstiegsmöglichkeiten anzubieten.

Ein Morgen Ende September. Sarah Bentner bringt ihre Kinder in die Kita, das erste Mal nach zwei Wochen Schließung. Beide Mädchen tragen Gummistiefel in der Hand und einen kleinen Zopf zum Anstecken.

Hanna sucht an der Garderobe den Haken mit ihrem Foto. Dort hängt noch ihre Jacke, daneben liegt ihr Kuschelhase. Sie zieht ihre Schuhe aus, wechselt sie gegen Socken mit kleinen Noppen unter den Füßen.

Im Raum von Leas Gruppe sind schon einige Kinder am Frühstücken. Im Regal stehen Buntstifte, in der Ecke Spielzeugautos. »Es ist sehr schön, Sie endlich wiederzusehen«, sagt Sarah Bentner zu einer Erzieherin. Und zu Lea: »Du willst wieder fliegen, oder?« Sarah Bentner nimmt sie auf den Arm und übergibt sie der Erzieherin. Es ist ihr Ritual. Lea fängt trotzdem an zu weinen, Sarah Bentner küsst sie auf die Wange. »Bis heute Nachmittag!«

Sarah Bentner geht wieder zur Arbeit. Beim Zahnarzt, beim Orthopäden, beim Hautarzt, bei der Autowerkstatt hat sie noch nicht angerufen. Sie sagt, vielleicht schafft sie es nächste Woche.


HINTER DER GESCHICHTE

Anlass für diesen Artikel war ein Bericht, wonach sich die wirtschaftliche Lage von Alleinerziehenden in den vergangenen Jahrzehnten kaum verbessert hat. Die Autorin sprach daraufhin mit mehreren Dutzend alleinerziehenden Frauen. Bei der Kontaktvermittlung halfen der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter sowie die Stiftung Alltagsheld:innen.