Raus aus der Manege
von Hatice Akyün
Ich war lange die gut integrierte Vorzeigetürkin. Was mit dieser Rolle nicht stimmt und wie sie Gleichberechtigung verhindert
Es war dieser eine Moment, als ich merkte, dass es sich nicht mehr gut anfühlte. Ich war Gast einer Fernsehsendung. Es war nichts Spektakuläres, ich stand wieder mal Rede und Antwort für etwas, was sich zu meinem Beruf entwickelt hatte, meine Integration. Der Moderator schwärmte von meinem bemerkenswerten Deutsch, obwohl meine Eltern doch Analphabeten seien, und überhaupt war er ganz angetan von meiner Erscheinung, meinem Kopf ohne Tuch, fragte mich, warum es bei anderen nicht so gut laufe und was sie von mir lernen könnten. Ich fühlte mich wie ein Zirkuspferd, das in der Manege als Musterbeispiel gelungener Integration stolz vorgeführt wurde.
Sechs Jahre ist das her. Ich hatte diese unangenehme Situation schon fast vergessen, als ich mich Anfang November wieder daran erinnerte, als die Firma Biontech aus Mainz bekannt gab, dass sie für ihren Corona-Impfstoff BNT162 nach einer siebenmonatigen Testphase eine Zulassung beantragen würde. Wir saßen gerade beim Frühstück, als ich zu meiner 13-jährigen Tochter sagte: „Es gibt einen Impfstoff. Zwei Türken haben ihn entwickelt.“ Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Zwei Türken? Wieso waren Uğur Şahin und Özlem Türeci, die GründerInnen von Biontech, plötzlich Türken für mich? Warum empfand ich Stolz für etwas, womit ich nichts zu tun hatte? Meine Tochter murmelte: „Hmmmh, toll.“
Ich wünschte, ich hätte so lässig reagieren können. Das Paar als das sehen, was sie sind: WissenschaftlerInnen, die in Deutschland studiert haben, in Deutschland leben, in Deutschland forschen. Şahin, der mit vier Jahren nach Deutschland kam, Türeci, die im niedersächsischen Lastrup geboren wurde. Aber dieses Land tickt nicht so. Und ich offenbar auch nicht, obwohl gerade ich es doch eigentlich besser wissen müsste.
Dafür, wo man hinkommt, ist es in Deutschland immer noch entscheidend, wo man herkommt. Da kann man strampeln, so viel man will, der Schuster bleibt oft nur bei seinen Leisten. Bis auf die Ausnahmen. Die vielen Ausnahmen. So viele Ausnahmen, dass sie eigentlich keine mehr sind, aber wie gesagt, so tickt dieses Land nicht.
Die Brandanschläge in den 90ern, die Blutspur des NSU, Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen, in denen er MigrantInnen in nützlich und nutzlos aufteilte, die Morde von Hanau, unzählige Erlebnisse im Alltag: Immer wieder bekommen wir zu spüren, dass wir nicht dazugehören. Nur wenn wir erfolgreich sind, bekommen wir Anerkennung. Der Regisseur Fatih Akin zum Beispiel, der 2004 mit seinem Film „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären der Berlinale holte. Mit jedem neuen Preis wurde er deutscher. Aus dem türkischen Regisseur wurde der deutschtürkische Regisseur, bis ihn der amerikanische Filmpreis „Golden Globe“, den Fatih Akin für „Aus dem Nichts“ bekam, zum deutschen Regisseur machte.
Oder Mesut Özil, der für uns Türkischstämmige noch nie den Anschein erweckt hatte, Deutscher sein zu wollen. Aber solange er Tore für Deutschland schoss, durfte er es sein. Bis zu jenem Tag, als er es für eine gute Idee hielt, sich mit Präsident Erdoğan fotografieren zu lassen. Das Foto machte ihn über Nacht wieder zum Türken und die Integration Millionen Türkischstämmiger wurde für gescheitert erklärt.
Wie mit Özil umgegangen wurde, haben wir sehr genau beobachtet. Es war nicht die Kritik am Foto – das Foto öffnete Tür und Tor für hemmungslosen Rassismus. Viele von uns hatten selbst längst die Erfahrung gemacht, dass wir in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche aufgrund unserer Herkunft benachteiligt werden. Wir fragten uns: Wenn sogar einem Weltmeister das Deutschsein abgesprochen wird, wenn man ihn zurück nach Anatolien verfrachten will, obwohl Özil in Gelsenkirchen geboren wurde, wie deutsch kann jemand werden, der es nicht so weit gebracht hat? Viele von uns haben nach der Özil-Geschichte die Hoffnung aufgegeben, jemals als Deutsche angesehen zu werden. So wandte sich die eine Seite ab, weil die andere Seite sie ablehnt.
Seinen wirtschaftlichen Erfolg hat Deutschland auch der Migration zu verdanken, den Unterschieden, den Unterscheidungen, den vielen Gegensätzen, der Vielfalt, die auch im Schatten von Vorurteilen Wurzeln schlagt. Deutschland kann so wunderbar offen sein, nach innen aber herzlos verschlossen wirken. Als Migrantin wird man ganz genau beobachtet, Fehler darf man sich nicht leisten und besser, als die anderen sollte man auch sein. Und dann blickt plötzlich die ganze Welt auf Uğur Şahin und Özlem Türeci, Türkischstämmige erleben zum ersten Mal etwas, was sie vermisst haben: Wertschätzung. Es ist ja nicht der Erfolg von Şahin und Türeci, der uns mit ihnen verbindet, es sind ihre Biografien, die unseren ähneln. Die beiden stehen für eine ganze Generation von Gastarbeiterkindern, die um ihren gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft gekämpft hat.
Bestimmte Gruppen, so eine krude These von Sarrazin, würden das Bildungsniveau in Deutschland senken und Zuwanderung bedrohe die deutsche Wirtschaft. Es waren diese Sätze, die bis ins Mark verletzt haben, Beleidigungen wie „Gemüsetürke“ und „Kopftuchmädchen“. Dabei sagten die Zahlen schon immer etwas anderes. In Deutschland beschäftigen türkischstämmige UnternehmerInnen 500 000 MitarbeiterInnen, mit einem Jahresumsatz von rund 50 Milliarden Euro. Der Umsatz von Biontech noch nicht mit eingerechnet. So kann man wohl sagen, dass die Migrationsgeschichte von Uğur Şahin und Özlem Türeci dieses Land im wahrsten Sinne des Wortes bereichert.
Es ist ein Dilemma. Auch für mich. Als Vorzeigemigrantin muss ich dem süßen Gift widerstehen, der Mehrheitsgesellschaft als gutes Beispiel dafür zu dienen, warum ich etwas geschafft haben soll, was andere mit meiner Biografie nicht geschafft haben. Aber ich ziehe mir gleichzeitig den Argwohn jener zu, die mich als überangepasste Deutsche sehen, sich anmaßen, darüber bestimmen zu können, wie ich meine Identität lebe. Sichtbarkeit ist wichtig, um Anerkennung zu bekommen, aber sie birgt auch die Gefahr, dass der Erfolg immer nur als Ausnahme wahrgenommen wird. Diese Ambivalenz auszuhalten ist mühsam, oft frustrierend, weil die Erwartungen unmenschlich hoch sind. Wie soll man das je erfüllen mit Vorbildern wie Şahin und Türeci? Es gibt sie, die erfolgreichen MigrantInnen in Deutschland. Sie werden nur nicht gesehen, weil sie keine Wunderkinder sind, weil sie nur „normal“ erfolgreich sind. Dazu kommt, dass ein prügelnder Türke und eine kopftuchtragende Türkin für viele immer noch besser als Klischee taugen als die türkischstämmige Friseurin, die ihren dritten Laden eröffnet hat und 20 MitarbeiterInnen beschäftigt.
Ja, dieser Stolz fühlt sich eigenartig an. Ich empfinde ihn aber, wenn ich sie sehe, die türkischstämmigen WissenschaftlerInnen, SchauspielerInnen, RegisseurInnen, PolitikerInnen, PflegerInnen, SchriftstellerInnen, PolizistInnen, KöchInnen, AnwältInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und all jene, die schon längst in allen Bereichen arbeiten. Damit meine ich nicht patriotischen Nationalstolz, sondern eher einen unschuldigen biografischen Stolz, vergleichbar mit dem Stolz eines Kindes, das gelobt wird, weil es etwas geschafft hat.
Eines sind wir alle: integriert. Aber die Frage ist, integriert in was eigentlich? Was bedeutet es, wenn von gelungener Integration gesprochen wird? Was soll es heißen, nicht integriert zu sein? Und wer entscheidet über das Maß der Integration?
Wenn gesellschaftliche Teilhabe damit gemeint ist, Chancen wahrnehmen zu können, wenn man darunter versteht, ein gleichberechtigtes Leben in der Mitte der Gesellschaft zu führen, wenn es bedeutet, gleiche Rechte und Pflichten zu haben und nicht nur Pflichten erfüllen zu müssen, sondern auch Rechte einfordern zu können, spätestens dann wird klar, dass der Integrationsbegriff sich nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund beschränkt. Integration ist nicht statisch, sie ist nicht irgendwann abgeschlossen. In einer vielfältigen und modernen Gesellschaft wird sie nahezu täglich neu verhandelt.
Die Geschichte von Uğur Şahin und Özlem Türeci ist eine von Millionen Erfolgsgeschichten von Menschen, deren Eltern von woanders nach Deutschland gekommen sind. Die mit viel Fleiß und Entbehrungen ihre Kinder zu BürgerInnen dieses Landes gemacht haben. Manche von ihnen haben die Verbindung zu ihrer Herkunftskultur aufrechterhalten, manche mussten sie trennen, um Deutsche werden zu können. Erst nach vielen Opfern wird der Zugang gestattet, in den exklusiven Club der 83 Millionen Deutschen in einer Welt der über sieben Milliarden Nichtdeutschen.
Vielleicht hat es bei mir ganz gut geklappt, weil Nordrhein-Westfalen, wo ich aufgewachsen bin, schon immer integriert hat. Lebenslustige Rheinländer mit dem rauen Charme der Westfalen und dem Vielvölkerstaat des Ruhrgebietes. Unter diesen großartigen Umständen war es ein Leichtes, auch uns in ihrer Mitte aufzunehmen. Es gab Distanz und Ablehnung gegenüber den Fremden, aber man war Arbeiter in der Grube, im Stahlwerk, und so wussten die Michalskis, Podolskis und Schimanskis, wie sich die Şahins, Çeliks und Akyüns fühlten. Als wir mit unserem deutschen Nachbarn in unseren Garten saßen, legte Jupp die Hand auf die Schulter meines Vaters und sagte: „Weisse, Rafet, jetz bisse eina von uns.“
Meine Integration habe ich wie viele andere MigrantInnen in diesem Land Menschen zu verdanken. Menschen, die uns unsere Fehler verziehen, NachbarInnen, die uns bei den Hausaufgaben halfen, LehrerInnen, die hinter unseren schwarzen Haaren und dunklen Augen unseren Verstand sahen und uns förderten. Menschen, die zufällig in mein Leben traten. Mein persönlicher Erfolg, so kann man es vielleicht rückblickend sagen, war ein Glücksspiel, in dem ich gewonnen habe.
Sieger erkennt man nicht an der Startlinie. Wie wäre es, Deutschland für alle so chancenreich zu machen, dass sich jeder nach seinen Bedürfnissen und Begabungen entfalten kann? Erfolgreiche MigrantInnen möchten nicht auf ein Podest gestellt, nicht durch die Manege geführt werden. Bis es keine Vorbilder mehr braucht, bis die vielen Ausnahmen als Selbstverständlichkeit sichtbar sind, solange wird es all jene geben, die im Namen der anderen Vorbilder sind. Irgendwann, so hoffe ich, ist so ein Text wie dieser nicht mehr nötig, weil es selbstverständlich ist, dass Uğur Şahin, Özlem Türeci, Fatih Akin und Hatice Akyün Deutsche sind, die ihren eigenen Weg gegangen sind. So wie Millionen andere, denen wir jeden Tag begegnen. Nicht in der Manege, auch nicht angekommen, denn wir waren ja nie weg. Sondern ganz selbstverständlich da.