Ein preußischer Minister in Paris
Politiker reisen. Und der Paris-Korrespondent des „Berliner Tageblatts“, Theodor Wolff, lässt im Juli 1904 seine Leser an der Sinnhaftigkeit der Unternehmung teilhaben.
Theodor Wolff im „Berliner Tageblatt“ vom 22. Juli 1904
Der preußische Minister des Inneren, Herr v. Hammerstein, wird in Paris erwartet. Ich sage, in Paris und nicht etwa von Paris, denn das Pariser Publikum sieht im Laufe eines Jahres äußerst viele hervorragende, durch Reichtum, Macht, Eleganz oder geistige Gaben ausgezeichnete Gäste, und ein Minister des Inneren, dessen Name einstweilen durch keine Ruhmestat dem Auslande bekannt geworden, verschwindet naturgemäß in der Menge. Aber Herr v. Hammerstein wird von den Vertretern Deutschlands erwartet, von den Sekretären und Geheimräten, die ihm als Führer und vielleicht als Dolmetscher dienen werden. Unter dieser gewiß sehr fachkundigen Leitung wird er die ernsten Studien beginnen, die ihn mitten im Hochsommer hier beschäftigen werden.
Denn es scheint, daß Herr v. Hammerstein ernster Studien halber und keineswegs nur zum Vergnügen nach Paris kommt. Dieser Minister, der im Herrenhause bisweilen – und dann allerdings irrtümlich – Goethesche Citate anwendet, will hier nicht nur ergründen, »wie leicht sich's leben läßt«; er verfolgt auch höhere Ziele. Wenn er am Abend in den reizenden und amüsanten Restaurants des Bois bei Zigeunermusik dinieren wird, so wird er diese kleine Erquickung redlich verdient haben und sich sagen können, daß er tagsüber an der Größe und Wohlfahrt Preußens gearbeitet. Ein beglaubigtes Gerücht will wissen, daß der Minister des Inneren in Paris die städtische Verfassung und die polizeilichen Einrichtungen zu studieren gedenke. Das Gerücht ist seltsam, denn besonders die Verfassung einer Stadt kann man besser aus den Büchern als auf einem Sommerausflug kennen lernen; aber gerade weil es so seltsam ist, klingt es wahrscheinlich.
Sollte die Reise des Herrn v. Hammerstein wirklich dem Studium der Pariser Stadtverfassung gelten, so würde sie, so ernst sie sonst auch sein mag, nicht eines gewissen Humors entbehren. Man hat nie gehört oder gemerkt, daß die preußische Regierung sehr bestrebt gewesen, sich die Gesamtheit oder irgendwelche Einzelheiten der französischen Verfassung zum Muster zu nehmen, und die freiheitlichen und demokratischen Prinzipien, nach denen das politische Leben in Frankreich sich regelt, gelten in Preußen als staatsgefährlich. Aber in der Architektur des französischen Staates gibt es einen Punkt, der nicht nach diesen Prinzipien geregelt scheint. Inmitten der Freiheiten des französischen Volkes gibt es eine Unfreiheit – und gerade dieser Punkt und diese Unfreiheit reizen den Nachahmungstrieb der preußischen Regierung. Die Pariser Selbstverwaltung ist weniger unabhängig als die Berliner, und während alle anderen französischen Städte einen Maire wählen, steht Paris unter einem ernannten Seinepräfekten. Wäre es nicht ein schöner Triumph, wenn die Gegner der Berliner Selbstverwaltung auf dieses Beispiel verweisen und erklären könnten, daß selbst in dem republikanischen Frankreich die Hauptstadt unter Kuratel gestellt sei?
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