Totale Kontrolle

von Harald Maass

Auf der Polizeiwache musste ich meine Hosentaschen leeren, den Gürtel und die Schnürsenkel abgeben. Dann setzten sie mich auf einen Eisenstuhl und stellten Fragen.“ – Kairat Samarkhan, Gemüsehändler aus dem Regierungsbezirk Altai, Region Xinjiang, China

Mit einem Wink deutet der chinesische Grenzpolizist auf das Förderband. Mit erhobenen Händen muss ich mich auf das schmale Band stellen, das mich langsam durch eine große, graue Maschine zieht. Ein Brummen ertönt, während die Elektronik mich von Kopf bis Fuß durchleuchtet.

 

Mockup des nominierten Textes von Harald Maas von der SZ-Magazin-Website
SZ-Magazin / BDZV

Gleich werden die Beamten mein Gepäck durchwühlen. Die privaten Fotos und Nachrichten auf meinem Handy begutachten, Dokumente auf meinem Computer öffnen. Meine Fingerabdrücke scannen, mein Gesicht fotografieren. Und sie werden Fragen stellen: Warum ich einreisen will? Was mein Beruf ist? Ob ich Freunde oder Bekannte habe, die ich besuchen werde? Eine halbe Stunde dauert das Verhör. Dann stehe ich im gleißenden Sonnenlicht auf der Straße.

Durch die Region Xinjiang im Westen Chinas zogen einst die Karawanen entlang der Seidenstraße, um Gold und Glas ins Reich der Mitte sowie Seide und Porzellan auf dem Rückweg zu transportieren. Über Jahrtausende hinweg verbanden die Oasenstädte hier den Osten mit dem Westen. Heute ist das Wüstengebiet, mehr als viermal so groß wie Deutschland, ein Experimentierfeld für Chinas Überwachungsstaat – technisch hochgerüstet wie kein anderer Ort der Welt. Eine Dystopie aus Hightech-Kontrollen und Polizeiwillkür.

Ein Gebiet, in dem die Menschen rund um die Uhr vom Staat bespitzelt werden. Von Kameras, die jeden Weg und jede Begegnung aufzeichnen. Von staatlichen Aufpassern, die sich für Wochen in den Häusern der Familien einquartieren und in deren Betten schlafen. Jeder steht unter Verdacht: ein Bart oder traditionelle Kleidung? WhatsApp, Facebook oder andere verbotene Apps auf dem Handy? Regelmäßiges Beten? Häufiges Tanken? In Xinjiang reicht das, um in einem System aus geheimen Umerziehungslagern und Gefängnissen zu verschwinden.

Kairat Samarkhan

Sie verhörten mich tagelang, ohne Unterbrechung. Irgendwann schlief ich ein. Dann hörte ich Gebetsrufe. Ich stellte mich schlafend. Es ist ein Trick: Wenn man auf die Gebetsrufe reagiert, sagen sie, man sei ein religiöser Extremist.

Korgas am Rand des Tianshan-Gebirges, Grenzstadt zwischen Kasachstan und China. Entlang der sechsspurigen Hauptstraße ragen Hochhäuser und Baukräne in den Himmel. Peking hat hier, mehr als 3000 Kilometer von der boomenden Küste entfernt, große Pläne. Korgas soll ein Verkehrsknotenpunkt für den Handel mit Zentralasien und Europa werden. Für Milliarden von Yuan entsteht im Grenzgebiet der größte Trockenhafen der Welt. Ein Vorzeigeprojekt für Chinas Wirtschaft. Doch die Stadt wirkt wie im Krieg. Die Eingänge zu den Gebäuden sind mit Panzersperren aus Stahl und Stacheldraht verrammelt. An den Straßenkreuzungen stehen Militärposten mit Maschinengewehren. Polizeiautos rasen mit jaulenden Sirenen durch leere Straßen. Nur noch wenige Händler und Reisende überqueren die Grenze. Zu gefährlich ist die Fahrt in Chinas Westen. Binnen eineinhalb Jahren – fast unbemerkt von der globalen Öffentlichkeit – hat China in Xinjiang ein gewaltiges Lagersystem errichtet. Nach Schätzungen sind bis zu eine Million Menschen, Angehörige muslimischer Minderheiten, in Umerziehungslagern interniert. Ein Bericht des US-Kongresses spricht von der „größten Masseninhaftierung einer Minderheitenbevölkerung weltweit“.

„Neue Grenze“ bedeutet Xinjiang auf Deutsch. Für Chinas Kaiser waren die Wüsten und Gebirge lange der äußere Vorposten ihres Einflussgebietes. In den Oasen lebten vor allem Uiguren, ein muslimisches Turkvolk mit zentralasiatischen Gesichtszügen, dessen Sprache mit dem Türkischen verwandt ist. Dazu kamen Kasachen, Mongolen, Kirgisen und Tadschiken. Ein Schmelztiegel aus Sprachen, Kulturen und Religionen. 1949 besetzten Mao Zedongs Truppen das Gebiet. Xinjiang wurde zur Provinz der neu gegründeten Volksrepublik China und bekam später den Status einer Autonomen Region. In den folgenden Jahrzehnten schickten Pekings Kommunisten Millionen von Han-Chinesen als Arbeiter und Bauern in den bis dahin vor allem von Muslimen besiedelten Westen. Staatliche Unternehmen begannen, die reichen Bodenschätze auszubeuten. Noch mehr Chinesen kamen. Heute sind die elf Millionen Uiguren und 1,6 Millionen ethnischen Kasachen an vielen Orten eine Minderheit in ihrer eigenen Heimat.

„Strebt nach dem Glück des Volkes, nach dem Wiedererstarken des Landes“, steht in roten Schriftzeichen auf der Wand in einer Fußgängerunterführung. Unter der himmelblau beleuchteten Decke lächelt der Staats- und Parteichef Xi Jinping vom Poster. Vor der Busstation bewachen schwarz uniformierte Polizisten den Eingang. Jeder Reisende muss seinen Personalausweis auf ein elektronisches Lesegerät legen. Eine Kamera mit Gesichtserkennung prüft die biometrischen Daten. Erst wenn auf dem Bildschirm ein grüner Balken erscheint, darf man passieren. Dreimal wird jeder Fahrgast auf diese Weise noch kontrolliert – am Kartenschalter, beim Zugang zum Wartebereich, im Bus. Jede Fahrt wird so von den Behörden registriert und aufgezeichnet.

Mit einem schwarzen Handscanner, der wie ein größeres Handy aussieht, macht einer der Polizisten ein Foto von mir und lädt es hoch. Ab jetzt bin ich in Xinjiangs Überwachungssystem registriert. Es überwacht Telefongespräche, E-Mails und Chats. Es zeichnet auf, was Menschen einkaufen, welche Internetseiten sie aufrufen, wie viel Strom sie verbrauchen, wann sie wen besuchen. Dieses System wird sich in den folgenden 13 Tagen meines Aufenthalts als nahezu lückenlos herausstellen. In jeder Straße, jeder Gasse, selbst in den entlegensten Dörfern überwachen Videokameras das Leben der Menschen. Sie sind auf Metallbrücken über der Straße installiert, an Hauswänden, an Straßenlaternen, auf Kiosken. Sie starren einem in Geschäften entgegen, in Restaurants, Büros, Schulen, Moscheen, Behörden, Krankenhäusern, in jedem Taxi und Bus. Der Staat hat Millionen Augen.

Kairat Samarkhan

Ich sei illoyal gegenüber dem Vaterland, sagten sie. Sie fesselten mich an Händen und Füßen und zogen mir einen schwarzen Sack über den Kopf. Dann brachten sie mich ins Lager.

Nach wenigen Kilometern stoppen Polizisten unseren Bus. Sicherheitskontrolle. Die vier Han-Chinesen dürfen sitzen bleiben. Alle anderen Passagiere, rund ein Dutzend Uiguren, ethnische Kasachen und ich, müssen aussteigen und werden von Uniformierten in eine Halle dirigiert. Dort beginnt das Prozedere von Neuem: Ausweiskontrolle, Gesichts- und Ganzkörper-Scan. Eine Frau und ein Mann müssen ihre Handys abgeben. Die Polizisten schließen die Handys an ein kleines Gerät an, das alle Fotos, Nachrichten, Chats und Anruflisten herunterlädt. Das Muster ist überall in Xinjiang gleich: Die Kontrollen beziehen sich ausschließlich auf die Muslime, die der Staat als Sicherheitsrisiko sieht. Morgens beim Verlassen des Wohngebäudes, bei der Fahrt im Bus, während der Arbeit, beim Betreten des Supermarkts, auf der Straße – ständig werden die Menschen inspiziert.

Chinas Regierung rechtfertigt die Praxis mit dem Schutz vor Terrorismus. Seit einigen Jahren häufen sich Unruhen und Anschläge, die die chinesische Bevölkerung verunsichern. 2014 stürmten mit Messern bewaffnete Angreifer einen Bahnhof in Kunming, Provinz Yunnan, und stachen 31 Menschen nieder. Ein Jahr zuvor hatten uigurische Selbstmordattentäter ein Auto in eine Menschenmenge auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gesteuert. In Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang, kam es 2009 zu Massenprotesten und gewaltsamen Aufständen, von Chinas Militär brutal niedergeschlagen. Fast 200 Menschen starben in diesen Tagen. Peking macht uigurische Terrorgruppen für die Anschläge verantwortlich und verweist darauf, Uiguren würden an der Seite des Islamischen Staates in Syrien kämpfen.

„Es besteht kein Zweifel, dass die intensiven Kontrollen zum Frieden im heutigen Xinjiang beitragen“, schreibt die staatliche Zeitung Global Times: Man habe ein „chinesisches Syrien“ in der Region verhindert.    

Viele Beobachter sehen das anders, für sie sind die Unruhen ein Ausdruck der wachsenden Verzweiflung der Uiguren: Seit den Neunzigerjahren hat China die Rechte der Minderheiten immer weiter beschnitten und ihre Kulturen zurückgedrängt. An den Schulen werden die Kinder heute fast ausschließlich auf Hochchinesisch unterrichtet – selbst in den Pausen und in Elterngesprächen dürfen die Lehrer nicht Uigurisch sprechen. Frauen dürfen keine Schleier mehr tragen, die ihr Gesicht verhüllen. Imame wurden verhaftet, Moscheen geschlossen.

Auslandsreisen sind für viele unmöglich geworden – ab 2016 sammelten die Behörden die Reisepässe der Uiguren und ethnischen Kasachen ein. In manchen Orten dürfen nur noch Messer verkauft werden, in die die Ausweisnummer des Käufers als QR-Code mit einem Laser auf die Klinge graviert ist, zum Schutz gegen mögliche Messerattacken. Dutzende muslimische Namen sind als „extremistisch“ verboten, darunter so alltägliche wie Mohammed und Fatima. Kinder mit diesen Namen müssen umbenannt werden.  

„Volkskrieg gegen Terrorismus“ nennt Peking die Kampagne, die in Wirklichkeit ein Krieg gegen das eigene Volk ist. Als obersten Feldherrn schickte Chinas Kommunistische Partei 2016 den Parteisekretär Chen Quanguo nach Xinjiang. Chen hatte sich zuvor in Tibet den Ruf eines Hardliners erarbeitet. 90 000 neue Polizeistellen ließ Chen allein im ersten Jahr nach seinem Antritt ausschreiben. Hunderttausende neue Überwachungskameras wurden installiert. 2017 verdoppelten sich die Ausgaben für Polizei und Sicherheit auf umgerechnet 7,3 Milliarden Euro. Manche Landkreise geben ein Zehntel ihres Budgets für den Überwachungsstaat aus.   

Kairat Samarkhan

Das Lager liegt im Gebiet Altai neben einem Gefängnis, ein großer Neubau für mehrere Tausend Insassen. Ich musste mich nackt ausziehen. Dann haben sie mich untersucht und meine Haare kurzrasiert. Ich kam in einen Raum mit 16 Leuten. Ein Loch im Boden war die Toilette. Als Neuankömmling musste ich neben der Toilette schlafen.

In Gulja im Norden von Xinjiang liegt der Duft von gebratenen Hammelspießen und Chilinudeln in der Luft. Aus den Kaufhäusern an der Straße der Befreiung dröhnen chinesische Popsongs. Plakate werben für Handys und Gesichtscremes. Auf den ersten Blick wirkt Gulja, mehrheitlich von ethnischen Kasachen bewohnt, wie eine normale chinesische Stadt. Dann fallen einem die Wachleute mit den meterlangen Holzknüppeln auf, die vor Märkten und an Kreuzungen stehen. Die Sicherheitsschleusen vor den Geschäften, Restaurants und Hotels. Mit Metalldetektoren und Röntgengeräten werden Menschen auf Waffen und Sprengstoff kontrolliert.

Alle paar Hundert Meter stehen Polizeiwachen entlang der Straßen, blau-weiß gestrichen. Davor sind Volkspolizisten mit Sturmgewehren, Schlagstöcken und Schilden postiert. „Nachbarschaftspolizei Servicestationen“ heißen die hochgerüsteten Gebäude, die in den vergangenen zwei Jahren zu Tausenden errichtet wurden. Sie sind Teil des flächendeckenden „Rasters zur Verwaltung der Gesellschaft“, mit dem das Volk überwacht wird. Jede Polizeistation ist für etwa 500 Einwohner zuständig, die sich gegenseitig bespitzeln und denunzieren sollen. Auf den Dächern der Polizeiwachen blinken rund um die Uhr Alarmlichter in Rot und Blau, sie tauchen die Stadt nachts in ein stets zuckendes Licht. Vor manchen Stationen parken gepanzerte Militärwagen. Wachhunde bellen. Sirenen heulen. Die Bevölkerung soll in ständiger Alarmbereitschaft gehalten werden. Und in Angst.

Die staatliche Zeitung Xinjiang Ribao schreibt: „Viele Menschen sagen aus ihrem tiefsten Herzen: Die glücklichsten Muslime der Welt leben in Xinjiang.“

Kairat Samarkhan

Wir mussten jeden Tag dem muslimischen Glauben abschwören und erklären, dass wir die Gesetze Chinas respektieren. Bei jedem Essen riefen wir im Chor: Lang lebe Xi Jinping!

Am Abend im Hotel „Jade Hauptstadt“ werde ich aus dem Bett geklingelt. Ein Mann von der Sicherheitspolizei wartet an der Rezeption. Er will wissen, warum ich in Gulja bin. Dann macht er ein Foto von mir, für das ich den aufgeschlagenen Reisepass unter mein Gesicht halten muss. Obwohl ich offiziell als Tourist reise, bin ich verdächtig. Die meisten Hotels in Xinjiang dürfen keine Ausländer mehr aufnehmen. Jede Übernachtung muss den Behörden gemeldet werden. In der Stadt Aksu, einer späteren Station meiner Reise, werden mich Sicherheitsbeamte in Zivil stundenlang verfolgen. In der Oase Yarkant muss ich auf Anweisung der Polizei Fotos von meiner Kamera löschen. Zuvor wurde ich Zeuge einer politischen Umerziehungsstunde auf offener Straße: Bewacht von Aufpassern mit Holzprügeln, saßen 200 uigurische Männer und Frauen auf dem Boden und sangen ein Lied mit der Strophe: „Ich liebe China, ich liebe mein Vaterland“. Als ich mich näherte, stürzten sich die Aufpasser auf mich und wollen mir die Kamera entreißen. „Sie dürfen nur Bilder von Sehenswürdigkeiten machen“, sagte ein Polizist und warnte, meine weitere Reise könne „sehr unangenehm“ werden.

Das Internet wird in Xinjiang noch strenger zensiert als im restlichen China. Ausländische Mail- und Messenger-Anbieter sind blockiert, ebenso die wichtigsten globalen Webseiten. Erlaubt sind nur chinesische Apps wie der Kurznachrichtendienst WeChat oder die Navigations-App Baidu Maps, bei denen die Behörden in Echtzeit alles mitlesen und auswerten können. Die Daten laufen – zusammen mit den Daten aus Überwachungskameras, Kontobewegungen, Bewegungsprofilen, Informationen über das Einkaufsverhalten und den Gesundheitszustand – in die „Integrierte gemeinsame Operationsplattform“, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Künstliche Intelligenz und selbstlernende Algorithmen werten die Daten demnach systematisch aus und schicken, sobald sie verdächtige Aktivitäten – oder auch nur Abweichungen beim Einkaufsverhalten – feststellen, automatisch eine Meldung an die zuständige Polizeistation. An manchen Orten müssen Uiguren zusätzlich die Überwachungs-App Jingwang („Sauberes Web“) auf ihr Smartphone laden, die sämtliche Kommunikation kontrolliert. Unter dem Deckmantel kostenloser Arztuntersuchungen sammeln die Behörden Genmaterial und Stimmproben der muslimischen Bevölkerung ein, die ebenfalls in den Datenbanken landen.

„Xinjiang ist ein Testlabor für Chinas digitalen Überwachungsstaat“, sagt der China-Forscher Zenz. Viele neue Techniken wie Big Data, Iris-Scans und die Personenidentifikation über die Stimme werden erst in Xinjiang getestet, ehe sie im ganzen Land zum Einsatz kommen werden. Der nächste Schritt ist der Export der Techniken an autoritäre Staaten. Pakistan, Malaysia und Zimbabwe nutzen schon heute chinesische Überwachungstechnik.

„In gewisser Weise ist es eine Hightech-Version der Kulturrevolution“, sagt Zenz: der Versuch, die totale Kontrolle über das Leben und Denken jedes Einzelnen zu erlangen.

Anhand eines Fragebogens, den viele Bewohner in Xinjiang ausfüllen müssen, wird die Bevölkerung kategorisiert. Wer männlich und im militärfähigen Alter ist, wer Verwandte im Ausland hat, in eines von 26 bestimmten Ländern gereist ist, arbeitslos ist, mehrmals am Tag betet oder Angehöriger einer Minderheit ist, bekommt einen Punktabzug und wird als „nicht vertrauenswürdig“ eingestuft. „Pluspunkte bekommt man, wenn man an der wöchentlichen Flaggenzeremonie teilnimmt und die Nationalhymne singt“, berichtet ein Händler aus Gulja.

Kairat Samarkhan

Jeden Morgen mussten wir unsere Bettdecke falten, wie beim Militär. Wenn der Aufseher nicht zufrieden ist, musst du wieder von vorne anfangen. Einmal schmiss ich meine Decke aus Wut weg. Zwei Wachmänner brachten mich in einen Raum, in dem an einer Wand Eisenscharniere befestigt waren. Dort schnallten sie mich fest und fesselten mich mit einer langen Eisenkette. Nach drei Stunden hatte ich so starke Schmerzen, dass ich nur noch schrie: Ich tue alles, was ihr wollt! Danach habe ich mich nie wieder getraut, aufzubegehren.

Eine Fahrt in die Oasenstadt Kuqa. Auf dem Bildschirm im Bus laufen Musikvideos und Ringkämpfe. Wir stoppen an einer Tankstelle, die wie alle anderen in Xinjiang mit Stacheldraht und Metallsperren bewacht ist. Weil nur der Fahrer auf das Gelände der Tankstelle fahren darf, müssen sämtliche Passagiere aussteigen und in der Mittagshitze am Straßenrand warten. An einem Automaten registriert sich der Fahrer mit Personalausweis und Gesichtsscan, dann darf er tanken. So überwacht der Staat, wer wann wie viel Benzin tankt. Jemand könnte damit Brandbomben bauen. Zusätzlich sind Autos und Busse mit GPS-Sendern ausgestattet, mit deren Hilfe die Polizei die Fahrzeuge jederzeit orten kann. Als unsere Fahrt weitergeht, läuft auf dem Bildschirm eine Gesangs-Castingshow mit Uiguren und Chinesen, die sich am Ende innig umarmen. The Voice of the Silk Road heißt die Sendung. 

Die Kuqa-Moschee, erbaut im 16. Jahrhundert, ist das zweitgrößte Gebetshaus in Xinjiang. Am Eingang wieder Metallsperren und Stacheldraht. Im Inneren ist außer zwei Wachleuten mit Schlagstöcken niemand zu sehen. An den Wänden hängen Kameras, die jeden Winkel ausleuchten. Die Gebetshallen, die 3000 Gläubige fassen, sind leer. Während meiner fast zweiwöchigen Reise begegne ich keinem einzigen betenden Menschen. Nicht ein Mal höre ich den Ruf eines Muezzins. Jede Form von Religionsausübung gilt als verdächtig. Die Firma Hikvision aus der Küstenstadt Hangzhou, Marktführerin im Bereich Überwachungskameras, erhielt vor Kurzem den Auftrag, 967 Moscheen in Xinjiang mit hochauflösenden Videokameras auszurüsten, die eine automatische Gesichtserkennung ermöglichen.

In der Altstadt von Kuqa treffe ich auf Menschen, die ihr Hab und Gut auf Lastwagen verladen. Das Viertel soll in den kommenden Tagen abgerissen werden. „Wir haben Geld bekommen und eine neue Wohnung“, erzählt ein Anwohner. Ein Stück weiter graben Bagger bereits Fundamente für die Hochhäuser, die hier entstehen sollen. Viertel für Viertel wurde in den vergangenen Jahren in Xinjiang abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Ganze Städte wurden zerstört. Mit den alten Häusern und über Generationen gewachsenen Strukturen geht ein weiterer Teil der uigurischen Kultur verloren. Eine alte Frau winkt mich in ihr leer geräumtes Haus und zeigt auf die mit Schnitzereien verzierte Holzdecke. „Alles kaputt“, sagt sie in gebrochenem Chinesisch. An der Innenwand des Hauses sind zwei Kameras befestigt – stumme Zeugen des Überwachungsstaates, der bis in den privatesten Bereich der Menschen hineinreicht.

Teams aus Parteikadern und Polizisten besuchen regelmäßig die Häuser und Wohnungen muslimischer Familien, um – wie es in offiziellen Berichten heißt – „extremistisches Verhalten“ sowie „Tumore“ auszumerzen. „Fanghuiju“ heißt die Kampagne. Als verdächtig gilt schon, wer keinen Alkohol trinkt oder im Ramadan fastet. Eine andere Kampagne heißt „Jieduirenqin“, das bedeutet so viel wie „Familie werden“: Muslimische Familien müssen für eine bestimmte Zeit einen Han-Chinesen aufnehmen. Der chinesische Gast unterrichtet die Muslime in Chinesisch, singt mit ihnen die Nationalhymne und spioniert das Familienleben aus. 1,6 Millionen Familien, die meisten Uiguren und ethnische Kasachen, mussten bereits einen solchen Aufpasser bei sich beherbergen. Wer nicht genug Vaterlandsliebe zeigt oder einen Koran zu Hause hat, bekommt Besuch von der Staatssicherheit.   

Viele der in Xinjiang lebenden Chinesen scheinen das harsche Vorgehen gegen die Minderheiten gutzuheißen. Das Misstrauen zwischen den Volksgruppen sitzt tief, auch die Vorurteile. „Die Städte sind jetzt sicher“, sagt eine Lehrerin im Zug in die Stadt Yarkant und ergänzt: „Die Uiguren kriegen vier, fünf Kinder und kümmern sich nicht um die Bildung. Das ist das Problem.“ In Hotan, in den vergangenen Jahren zu einer modernen Hochhausmetropole gewachsen, sagt ein Ladenbesitzer über die Uiguren: „Wir können die Infrastruktur verbessern und die Wirtschaft aufbauen. Aber das Niveau der Menschen hier zu heben, ist sehr viel schwieriger.“

Kairat Samarkhan

Der Tagesablauf war immer gleich. Um sechs Uhr aufstehen, Frühstück, Betten machen. Dann Unterricht: Die Ergebnisse des Parteitags auswendig lernen. Die Nationalhymne und Parteilieder singen. Abends mussten wir Aufsätze darüber schreiben, was wir künftig besser machen wollen.

Es war Nacht, Dolkun Tursun war im Videochat mit seinen beiden erwachsenen Töchtern, als es gegen seine Wohnungstür in Gulja hämmerte. „Jetzt sind sie da, um mich abzuholen“, sagte er noch. Dann wurde der Bildschirm schwarz. Das war im Oktober 2017. Kurz darauf verschwand der damals 51-Jährige in einem Umerziehungslager. „Wir wissen nicht, wie es ihm geht“, sagt seine Ehefrau Gülnur Beikut bei unserem ersten Treffen. Sie trägt ein blaues Kleid, um den Hals eine schlichte Goldkette. Das Interview mit ihr und anderen Angehörigen von Lagerinsassen, die in diesem Artikel vorkommen und denen es allen wichtig ist, dass sie mit ihren echten Namen genannt werden, müssen wir an einem geheimen Ort außerhalb von China führen. Wer in Xinjiang mit einem Ausländer spricht, wer auch nur ein Telefonat mit dem Ausland führt, der riskiert, sofort festgenommen zu werden und im Lager zu verschwinden.

Dolkun Tursun ist eigentlich ein Vorzeigebeispiel für Chinas Minderheitenpolitik. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei und hatte sich vom Mathematiklehrer zum stellvertretenden Leiter der städtischen Märkte in Gulja hochgearbeitet. Wie Zehntausende andere ethnische Kasachen war er 2011 für die Rente ins benachbarte Kasachstan gezogen, auch weil das Leben dort billiger ist.

Die Wohnung in Gulja behielt die Familie. Im März 2017 erhielt Torsun einen Anruf von seinem letzten Arbeitgeber. Es gebe Fragen zu seiner Rente, er solle bitte für zwei Tage nach Xinjiang kommen, berichtet seine Ehefrau: „Er dachte, das sei nur eine Formalie.“ Als er in Gulja ankam, wurde ihm der Pass abgenommen. Die Behörden warfen ihm vor, dass er WhatsApp auf seinem Handy installiert hatte. Für 14 Monate musste Tursun ins Lager. Seit Dezember lebt er unter einer Art Hausarrest in Gulja. Die Familie hofft darauf, dass er wieder nach Hause darf. Es gibt keine formale Anklage, keinen Prozess, kein Urteil. Meistens werden die Menschen in der Nacht oder am frühen Morgen abgeholt. In manchen Fällen erfahren die Familien, in welchem Lager die Verhafteten sitzen. Andere verschwinden ohne Spur.

Mehr als ein Dutzend Familien aus Xinjiang berichten mir über die Internierung ihrer Angehörigen. Viele legen Fotos und Ausweiskopien vor. Von den Bildern blicken Väter, Söhne, Onkel, Großväter, die in den vergangenen Wochen und Monaten unter willkürlichen Vorwänden in die Umerziehungslager gebracht wurden. Ihr einziges Vergehen: Sie sind keine Han-Chinesen.

Der Kleiderhändler Erbolat Savut wurde während der Arbeit festgenommen. „Sie warfen ihm vor, er habe zu viel Benzin getankt“, berichtet sein Bruder Bolatzhan Savut. Ein halbes Jahr verbrachte der 33-Jährige in einem Umerziehungslager. Auch nach seiner Entlassung darf er den Landkreis nicht verlassen. Den Rentner Islam Madinam, der früher bei China Telecom gearbeitet hat, holten sie in seinem Zuhause im Kreis Tarbaghtay ab. Kannte er durch seine Arbeit Geheimnisse? Zuvor hatten die Behörden Überwachungskameras in der Wohnung installiert, berichtet die Tochter Kurmangül Slamkyzy. „Meiner Mutter drohten sie, dass sie auch ins Lager kommt, wenn sie über die Festnahme spricht.“ Der 57-jährige Bolat Razdykham erholte sich im Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Ürümqi von einer Krebsoperation am Kehlkopf, als ihn Sicherheitskräfte mitnahmen. Er sei illoyal, weil er Familie im Ausland hat. Monatelang wusste die Tochter, Liza Bolat, nicht einmal, in welchem Lager ihre Eltern festgehalten werden. Im Dezember 2018 wurden sie überraschend freigelassen. „Es geht ihnen einigermaßen gut“, berichtet die Tochter. 

Den Familien ist es meistens unmöglich, Kontakt zu den Inhaftierten zu halten. Aybibi Kozhamkul erfuhr nur durch Zufall, dass ihr Ehemann Zhengis Zhumadylkhan im Lager krank geworden war. Bekannte hatten den Manager einer Eisenfabrik zufällig im Krankenhaus gesehen, wo er offenbar behandelt wurde. „Was ist mit Papa?, fragen die Kinder. Sie malen jeden Tag ein Bild für ihn“, sagt Kozhamkul, deren Mann erst Monate später freigelassen wurde. In wenigen Fällen dürfen Angehörige die Lagerinsassen besuchen. Über einen

Videomonitor hätten die Eltern drei Minuten lang mit seinem Bruder sprechen dürfen, erzählt Bolatzhan Savut. Einige müssen für die Umerziehung der Familienmitglieder zahlen. Jeden Monat würden ihm 650 Yuan – umgerechnet 85 Euro – von der Rente abgezogen, berichtet eine Frau über ihren internierten Mann. Andere müssen Berichten zufolge in Fabriken auf dem Lagergelände arbeiten. Der Vorwurf der Zwangsarbeit sei „höchst glaubwürdig“, erklärt ein Sprecher von Amnesty International.

Jeder neunte Uigure und Kasache im Alter zwischen zwanzig und 79 Jahren wird derzeit in einem der Umerziehungslager interniert, schätzen Fachleute wie der deutsche China-Forscher Adrian Zenz. „Wir sprechen hier von einer riesigen humanitären Katastrophe“, sagt Zenz. In manchen Regionen gebe es Zielvorgaben für die Einweisungen in die Lager, berichtet der Auslandssender Radio Free Asia unter Berufung auf Interviews mit lokalen Parteikadern. In vielen Dörfern sind die Felder unbestellt, weil zu wenige Männer da sind. Überall in Xinjiang müssen neue Kinderheime gebaut werden, weil beide Eltern interniert sind.

Lange bestritt China die Existenz der Lager. Noch im August 2018 erklärte Pekings Vertreter Hu Lianhe vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen: „So etwas wie Umerziehungslager gibt es nicht.“ Zum Schutz vor Terrorismus habe man in Xinjiang lediglich die „Sicherheit und das soziale Management“ gestärkt. Nachfragen der UN-Kommission zu einzelnen Fällen wies die chinesische Delegation als „nicht faktenbasiert“ zurück.

Mittlerweile hat Peking seine PR-Strategie geändert. Dass es die Lager gibt, wird nicht mehr bestritten, es handelt sich laut der Regierung jedoch um „Berufsausbildungszentren“. Das staatliche Fernsehen zeigt Bilder, auf denen fröhlich singende Uiguren an Unterrichtsstunden teilnehmen und sich beruflich weiterbilden. Ein neues Gesetz soll den Einrichtungen den Anschein der Legalität geben. Ihr Ziel sei, „das Umfeld und den Nährboden loszuwerden, der Terrorismus und religiösen Extremismus ausbrütet, und gewaltsame terroristische Angriffe zu verhindern“, sagt der Gouverneur von Xinjiang, Shohrat Zakir. Bislang verweigert China Menschenrechtsorganisationen den Zugang zu den Haftanstalten. Auch die chinesische Bevölkerung soll von der Lage in Xinjiang nichts mitbekommen. Im chinesischen Internet löschen Zensoren systematisch Hinweise auf die Zwangslager. Der Sprecher des Außenministeriums in Peking sagt: „Die Gesamtsituation der Gesellschaft in Xinjiang ist stabil, die wirtschaftliche Entwicklung ist gut, und die ethnischen Gruppen leben in Harmonie.“

Eine Debatte über Chinas Minderheitenpolitik gibt es nicht – darf es nicht geben. Der in Ürümqi lebende Han-Chinese Zhang Haitao ist einer der wenigen, der Pekings Maßnahmen öffentlich hinterfragte. „Die sogenannten ethnischen oder religiösen Probleme sind im Grundsatz ein Menschenrechtsproblem“, schrieb er in sozialen Medien: „Es ist schamlos, wenn Chinas Kommunisten sich als Retter aufspielen und erklären, sie hätten die Uiguren aus der Armut befreit.“ Zhang wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Die beiden zitierten Sätze waren der Beweis für eine „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht“. Zhangs Strafe: 19 Jahre Haft.   

Kairat Samarkhan

Nachts mussten wir abwechselnd Wache halten, damit niemand versucht, sich umzubringen. Einer hat es probiert, er wollte sich mit seiner Unterwäsche aufhängen. Zur Strafe bekam er eine Woche Hand- und Fußfesseln.

Kashgar war jahrhundertelang das kulturelle Zentrum der Uiguren. Am Platz des Volkes erhebt sich Mao Zedong als riesige Statue über die Straßen und Märkte. Die einst prächtige Oasenstadt ist heute vor allem unter chinesischen Touristen beliebt, die in fröhlichen Gruppen durch die Altstadt ziehen. Wundern sich die Reisenden über die Wachleute mit Stahlhelmen, die die Besucher an den vielen Kontrollpunkten sortieren? Han-Chinesen nach rechts, wo sie durch einen eigenen Eingang ohne weitere Kontrollen passieren dürfen. Uiguren und andere Minderheiten nach links: Anstellen zur Polizeikontrolle. Fällt den Touristen auf, dass es in der Stadt keine offenen Straßenrestaurants und Cafés im Freien mehr gibt? Zur Straße gerichtete Fenster von Geschäften sind mit Metallgittern befestigt oder zugemauert. Merken sie, dass die Messer und Beile, mit denen die Metzger auf den Straßenmärkten das Fleisch zerteilen, mit Eisenketten am Hackblock festgeschweißt sind? Kashgar – eine Stadt als Kulisse. Eine Stadt, in der die Menschen verschwinden.   

Die Umerziehungslager sind ein gut gehütetes Geheimnis. Sie sind in keiner Karte verzeichnet, es existieren keine offiziellen Fotos. Die meisten liegen abgeschirmt und schwer zugänglich auf dem Land – unerreichbar für ausländische Reisende. Viele der Anlagen sind als Schulen, Krankhäuser oder Firmen getarnt. Es ist unklar, wie viele Menschen genau dort festgehalten werden.

Adrian Zenz, der an der European School of Culture and Theology in Korntal bei Stuttgart forscht, hat Hunderte Dokumente lokaler Behörden sowie Informationen im Internet ausgewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass es bis zu 1300 Umerziehungslager in Xinjiang gibt, in denen „zwischen mehreren Hunderttausend und etwas mehr als eine Million“ Menschen interniert seien. Experten der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen rechnen mit ähnlichen Größenordnungen. Ein Lagersystem im industriellen Maßstab – manche der Anlagen fassen wohl 8000 Menschen. Wer einmal in dem System ist, kommt kaum wieder heraus. Fachleute schätzen, dass bislang nur wenige Tausend Menschen aus der Umerziehung entlassen wurden.

Kairat Samarkhan

Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten. In einer Nacht, als ich Wache halten sollte, bin ich mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen. Immer wieder. Ich wollte nicht mehr leben.

Eine hohe Mauer im Norden von Kashgar, mit zweifachen Rollen aus Stacheldraht gesichert. Entlang der Straße stehen Wachposten mit Gewehren. Durch das vergitterte Eingangstor sieht man Schäferhunde. „Das glorreiche Licht der Partei erleuchtet das Tianshan-Gebirge“, steht auf einem Propagandabild. Auch die Gassen rund um das weitläufige Gelände sind ungewöhnlich scharf bewacht. Auf jeden Hauseingang der umliegenden Straßen ist eine Überwachungskamera gerichtet. Auf einem Schild am Haupteingang steht: „Schule für Handel und Finanzen“. In Wirklichkeit ist die Anlage ein Umerziehungslager. Was passiert hinter diesen Mauern? Wer lebt in den Gebäuden, die Satellitenbilder auf dem Gelände zeigen? Sind es Männer wie Algumar Ratai? Der 23 Jahre alte Musiker wurde neun Monate lang in Lagern festgehalten und leidet heute an Rücken- und Herzschmerzen, wie seine Frau Aigerim Akimakyn erzählt. Seine Tochter, die kurz nach der Festnahme geboren wurde, sah er nach seiner Entlassung zum ersten Mal. Als ein Onkel sich bei der Polizei nach ihm erkundigte, wurde auch er weggesperrt. Sind es Fälle wie der 41-jährige Händler Tursun Mamet Düisenbei, der zur Beerdigung seines Vaters nach Gulja gereist war und dort verhaftet wurde? Sind es Menschen wie die Familie von Aitoldy Bektur, die in Kasachstan Design studiert? Ihre Mutter und ihr Bruder kamen ins Lager, nachdem sie über eine chinesische App mit Bektur gechattet hatten. Sie habe Angst, sagt Bektur, als ich sie treffe, dass ihre Familie „misshandelt und geschlagen“ wird. Heute sind Mutter und Bruder wieder frei.

Aber auch ein digitales Überwachungssystem hinterlässt Spuren. Eine kleine Gruppe ausländischer Forscher und Menschenrechtsaktivisten sucht im chinesischen Internet nach Ausschreibungen lokaler Behörden für Sicherheitstechnik oder Bauarbeiten, die Hinweise auf den Ort und die Größe von Umerziehungslagern geben. Sie studieren die Bewerbungen und Lebensläufe ehemaliger Wachleute, aus denen sich die Zahl der Anlagen in einem Landkreis ableiten lässt. Sie durchforsten Chatgruppen und Berichte lokaler Medien, um versteckte Hinweise zu finden. „Das sind alles Informationen, die ich nutzen kann“, sagt der Jurastudent Shawn Zhang. Ihm ist es von Vancouver in Kanada aus gelungen, als einer der Ersten weltweit die geheimen Lager aufzudecken. 66 von ihnen hat er bislang identifiziert. Mithilfe von Satellitenbildern auf Google Earth vollzieht er die Errichtung der Haftgebäude und Wachtürme und sogar der Absperrungen aus Stacheldraht nach. Es sind die bis heute einzig sichtbaren Indizien und Beweise für die Existenz der Lager. Mittlerweile erhält Zhang – heimlich über Mittelsmänner im Ausland – Nachrichten und Hinweise von Anwohnern, früheren Häftlingen und sogar Wachleuten. Eines der von ihm aufgedeckten Umerziehungslager ist die erwähnte „Schule für Handel und Finanzen“. Auch ein zweites von ihm identifiziertes Lager in Kashgar wird bei meinem Besuch scharf bewacht. Auf dem Eingangsschild steht: „Psychiatrisches Krankenhaus“.

Kairat Samarkhan

Ich wachte im Krankenhaus auf. Zwei Polizisten standen an meinem Bett. Erst dachte ich, dass ich wieder ins Lager muss, und weinte. Doch dann lösten sie meine Handschellen. Ich sei frei, sagten sie. Ich konnte es kaum glauben.

Shawn Zhang, 29 Jahre alt, ist Han-Chinese, geboren in der Provinz Zhejiang, Studium in Peking. Er begann, sich mit der Lage in Xinjiang zu beschäftigen, weil er die Berichte westlicher Medien kaum glauben konnte. „Ein riesiges heimliches Lagersystem? Ich hielt das für unglaubwürdig. Es gibt ja so viele ›Fake-News‹“, sagt er heute. Er setzte sich an seinen Computer und suchte nach eigenen Quellen. Die Ergebnisse erschreckten ihn: „Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde, dass die Umerziehungslager wirklich existieren.“ Für sein Engagement zahlt Zhang einen hohen Preis. Weil sein Name offenbar auf Chinas Fahndungslisten steht, kann er nicht mehr zurück in seine Heimat. Vor Kurzem hat Zhang in Kanada eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis beantragt. Ob man in Peking die Ironie erkennt? Die gleichen digitalen Techniken, mit denen China die Minderheiten unterdrückt, helfen dabei, das geheime Lagersystem zu entlarven. Und gerade ein Han-Chinese, der selbst nie in Xinjiang war, liefert der Welt die Beweise.

Kairat Samarkhan

Sie legten mir mehrere Dokumente vor: Eine Erklärung, dass ich alles geheimhalten muss. Dass ich nichts mehr mit Religion zu tun haben würde. Dass ich keine Schadensersatzforderung stellen würde. Ich unterschrieb alles.

Nach drei Monaten und 25 Tagen wurde Kairat Samarkhan im Februar 2018 aus dem Lager entlassen. Kurz darauf gelang ihm die Flucht aus China. Der Dreißigjährige lebt heute an einem geheimen Ort im Ausland.