Der Riss

von Elisa Schwarz

Sie tanzten zusammen durch die Nächte, Wange an Wange, zwei Frauen, eigentlich unzertrennlich. Dann kam das Virus, das ja nicht nur Lungen zerstört. Die Geschichte einer verlorenen Freundschaft

Als sie sich noch alles sagen konnten, standen sie auf der Tanzfläche und sangen Lieder mit, Lionel Richie, „All night long“, sie tranken Cocktails und lachten über die Tussis, die um sie rumstanden, steif wie Weinglasstiele.

Als sie sich noch alles sagen konnten, sagten sie nichts, sie stolperten nach Hause, Schweiß auf der Haut, sie hockten beim Frühstück wie verkaterte Teenager, gingen spazieren in der kalten Wintersonne, machten Fotos mit dem Handy, Wange an Wange, Arm in Arm. Sie sagten: Frohe Weihnachten. Sie sagten: Bis bald. Bis ganz bald.

Das war am 15. Dezember 2019. Ihr letztes Treffen. In Wuhan registrieren die Behörden da gerade ein neuartiges Virus. Die ersten Infizierten.

Sandra Röhren, 41, sitzt an ihrem Wohnzimmertisch in Hannover, sie tippt auf das Handy, die Bilder von dieser letzten Nacht, es sind die Details, die sie jetzt oft so fertigmachen: dass sie ihrer Freundin noch einen BH geliehen hatte, an den sie immer denken muss, wenn sie ihre Schublade aufmacht. An ihre Freundin. An die Lücke.

Drei Klicks sind es von den Bildern der letzten Nacht zu den Nachrichten in Whatsapp. Von der Normalität zu dem Wahnsinn, als alles eskalierte, ganz langsam, wie ein Unfall in Zeitlupe – Corona, Impfdiktatur, Goebbels, und dann der Aufprall, die letzte Nachricht, die sie von ihrer besten Freundin bekam: „Hallo Sandra, ich möchte erstmal keinen Kontakt mehr zu dir haben, ich wüsste nicht wofür?! Du kannst mich anscheinend nicht sein lassen wie ich bin (…) weil das nicht in dein Weltbild passt (…).“

Das war am 10. Juli 2020. Seitdem hat sie kein Wort mehr von ihr gehört. Nichts.

Man weiß mittlerweile ganz gut, was das Coronavirus alles zerstören kann. Die Lunge. Weihnachtsmärkte. Das kleine Bistro von nebenan. Es spricht ja auch die halbe Welt über das Offensichtliche: Über die Zahlen, den Impfstoff, über die Frage, wer alles an Silvester kommen darf – Dinner for one vor dem Fernseher, trauriger wird’s nicht mehr. Nur über eine Sache wurde geschwiegen, als wär’s die eigentliche Katastrophe. Dass an dem Virus nicht nur Menschen sterben, sondern auch Beziehungen zerbrechen.

Und natürlich hat jeder die Bilder gesehen von den Demonstrationen in Leipzig und Berlin, von Menschen, die Reichsflaggen schwingen und sich mit Sophie Scholl vergleichen. Wie leicht man sie verurteilen kann, wenn man sie nur aus den Nachrichten kennt. Wenn es nicht die eigene Schwester ist, die da mitmarschiert. Oder die beste Freundin.

Sandra Röhren und ihre beste Freundin kennen sich seit 23 Jahren. Sie waren 18, als sie nebeneinander in der Berufsschule saßen. Sie tragen das gleiche Parfüm. Sie waren zur selben Zeit schwanger. Sie trauerten, als die eine ihr Kind verlor und die andere ihre Ehe. Sie haben noch nie gestritten. Und hätte jemand zu ihnen, den beiden Krankenschwestern, vor einem Jahr gesagt, dass ihre Freundschaft am Streit über ein Virus zerbrechen wird, sie hätten gesagt: Nie im Leben.

Wo soll sie mit dem Erzählen beginnen? Am Anfang oder am Ende?

Sandra Röhren legt das Handy zur Seite und schiebt die Hände in den Schoß, als wären sie kalt geworden. Lieber am Anfang. Sie steht auf und geht zur Kaffeemaschine, eine kleine, blonde Frau, die so leise gehen kann, dass man nichts hört. „Darf man Kaffee überhaupt anbieten?“ Sie bleibt stehen, zwei Tassen in der Hand. Ihre Freundin würde lachen, mach dich nicht lächerlich, Sandra.

Wo also soll sie beginnen, doch lieber am Ende?

Ihr fällt das Fotoalbum ein, schwarze Seiten, silberne Schrift, das Album, das sie ihrer Freundin geschenkt hat, die in dieser Geschichte keinen Namen haben wird, aber dazu später. Vorne auf dem Fotoalbum war ein Herz und innen auf jeder Seite ein Foto, ein Ort, an dem sie gemeinsam waren. Dutzende Seiten.

Das erste Foto, der Ort, an dem sie sich zum ersten Mal trafen, muss das Henriettenstift in Hannover gewesen sein, 1997. Brauner Backstein, Chefärzte in Weiß. Sie träumte nie davon, Krankenschwester zu werden, sagt Sandra Röhren, mit 18, da hat man sowieso keinen Plan. Aber gut, es wurde ja dann doch ganz lustig in Hannover, vor allem in der Berufsschule, wo sie zuerst mit Ina rumhing, die ihre Meinung auf den Tisch knallte wie andere ihre Bücher.

Ina saß rechts von Sandra Röhren, und weil links frei war, setzte sich ihre Freundin daneben. So hat es angefangen, mit einer Lücke, die diese Freundin füllte.

Es gibt eine Studie, die sagt, dass Menschen circa 50 Stunden zusammen verbringen müssen, um Freunde zu werden, und 200 Stunden, um sehr gute Freunde zu werden. Sandra Röhren sagt: „Wir hatten Momente, die kann man gar nicht alle zählen.“

Die erste Party im „Béi Chéz Heinz“ in Hannover. Die Party, auf der die Azubis aus dem Jahr zuvor Schnaps besorgten und sich Spiele ausdachten für die neuen Krankenpfleger: Polonaise mit Windeln, einmal um den DJ rum. Ihre Freundin, die immer Spaß wollte, die tanzte, wenn die Tanzfläche leer war. Die Sandra mitzog durch die Nacht.

Der langweilige Unterricht, die strenge Lehrerin. Wie sie sich heimlich Zettelchen geschrieben haben, unter der Bank. Sandra, die nachmittags über den Büchern saß und lernte. Die ihre Freundin mitzog durch die Prüfungen.

Mit dem Fahrrad sind sie zusammen in die Nachtschichten gefahren, später, als sie im gleichen Krankenhaus arbeiteten. Wenn alles still war, wenn alle schliefen, trafen sie sich in der kleinen Stationsküche, kochten Nudeln und flüsterten leise über Patienten: Der eine, der immer klingelt, dem aber gar nichts fehlt. Morgens radelten sie wieder heim, und wenn gerade Sommer war, hielten sie an den Ricklinger Teichen, um zu baden. Wer zuerst drin war? Meistens war es ihre Freundin.

„Manchmal fühlt es sich so an, als gäbe es einen alten Teil in ihr und einen neuen“, sagt Sandra Röhren. „Und der alte Teil, meine alte Freundin, sie fehlt mir so.“

Wann zerbrechen Freundschaften? Vielleicht, wenn man was mit dem Freund der Freundin anfängt, andere Gründe fielen ihr nicht ein. Früher.

Es fing alles ganz harmlos an, Anfang des Jahres, als die Pandemie noch so weit weg zu sein schien. Schlimm, Wuhan, oh je. Und das Leben hier ging weiter, die Bäume wurden grün, draußen im Garten schönster Frühling, wie vergiftet. Aber Sandra Röhren dachte schon damals: Da kommt was auf uns zu, was soll sie auch anderes denken, als Krankenschwester, als Mutter: Sie hat schon Menschen röcheln gehört, und die hatten nicht mal Grippe. Sie hat ihren kleinen Sohn verloren, sie weiß, wie es ist, wenn einem alles genommen wird.

Sie nahm einen Mundschutz mit zum Einkaufen, als alle noch komisch guckten – sind Sie’s, Frau Röhren?

Sie brachte ihre Tochter früher ins Bett, damit sie die „Tagesschau“ sehen konnte, jeden Abend um 20 Uhr. Sie sprach mit ihrem Mann über die steigenden Zahlen, sie beruhigten sich: Kennen wir doch alles. BSE, Ebola und jetzt eben dieses Corona. Sie schlief schlecht.

Sandra Röhren nimmt wieder das Handy vom Tisch, tippt auf Whatsapp, den Chat mit ihrer Freundin, sie wischt nach oben, Juli, Juni, April, fliegende Nachrichten, hoch bis zum 12. März. „Da fing es an.“

Am 12. März schrieb ihre Freundin: „Du wirst sehen, es wird kommen, es ist die logische Konsequenz.“

Und natürlich hat sie sich erst einmal nichts gedacht bei dieser Nachricht, komisch, klar, logische Konsequenz, was soll das heißen? Dass der Lockdown kommt? Sandra Röhren arbeitete im Frühling nicht mehr als Krankenschwester, sie hat drei Kinder zu Hause, der Schichtdienst, die Familie, es ging nicht mehr. Aber ihr Mann war viel unterwegs, und irgendwie freute sie sich auch auf die Aussicht, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Sie antwortete: Ich glaube auch, dass der Lockdown bald kommen wird. „Wir machen uns es hier noch so schön wie es geht.“

Sie telefonierten, als der erste Lockdown ein paar Tage später kam. Sandra Röhren weiß noch, wie sie darüber sprachen, dass es wohl erst mal nichts wird mit dem nächsten Treffen. Wie sehr sie einander vermissten, wie unsicher plötzlich alles war.

Nächste Nachricht im Handy, das absurde Interview, das ihre Freundin schickte. Der Immunologe Stefan Hockertz sagt da, dass das Virus den gleichen Verlauf hat wie das Grippevirus. Dass keiner an Corona stirbt, sondern an Krankenhauskeimen. Müssen sie halt besser putzen im OP.

Das war der Moment, in dem Sandra Röhren dachte, dass etwas nicht stimmt. Dass es gefährlich ist, ein Virus zu relativieren, an dem Menschen sterben. Dass ihre Freundin es doch wissen müsste, als Krankenschwester. Dass es sie anwiderte, wie sich Hockertz wichtig machte: „Nicht das Virus macht uns krank. Die Angst davor macht uns krank.“ Sagte er. Als Immunologe.

Sandra Röhren schrieb: „Ich kann das nicht zu Ende hören, so ein Schwachsinn.“

Ihre Freundin antwortete: „Finde ich gar nicht, wieso ist das Schwachsinn für dich?“

Sandra Röhren schrieb damals jedes Argument auf, das ihr einfiel. Dass es faktisch falsch ist, Corona mit Influenza zu vergleichen. Dass Menschen sterben, egal ob mit oder an dem Virus. Dass die Wirtschaft leidet, schlimm, ja, aber was wäre die Alternative? Noch mehr leidende Menschen?

Ihre Freundin antwortete: „Ich finde es interessant wie die Leute an die Decke gehen (...), wenn man mal eine andere Meinung hat, als die gesamte Mainstream-Meinung. (...) Ich glaube nichts mehr, auch die öffentlich rechtlichen, ist alles eine Einheitspresse, das kommt von ganz oben. Wir werden sehen wies weiter geht, es wird einem ja alles diktiert.“

Sandra Röhren stöhnt, sie legt das Handy weg. „Ich glaub das einfach alles nicht“, sie starrt wieder auf die Nachrichten, auf das winzige runde Profilbild ihrer Freundin, die braunen Haare, das breite Lächeln. Das war der erste Bruch. Sie spürte, dass sie nichts mehr verstand. Einheitspresse? Mainstream? Dass sie nicht streiten wollte, nicht über Whatsapp, nicht jetzt.

Und dann sah sie die Statusmeldungen in Whatsapp, die kleinen Nachrichten, die man automatisch an seine Kontakte versenden kann, wie kleine Grußkarten. Der zweite Bruch. Früher postete ihre Freundin lustige Sprüche, Bilder von Landschaften, von ihren Kindern, von Freunden, bunte Herzchen überall. Jetzt wechselte sie ständig die Sprüche, völlig kryptische Nachrichten – Gates, Labor, Weltverschwörung.

Neuer Status: Rettet unser Bargeld.

Neuer Status: Kinder mit Masken auszurüsten ist Missbrauch.

Sandra Röhren las damals in einem Artikel, dass es ganz toll sei, wenn man Freunde hat, die anderer Meinung sind. So für den Perspektivwechsel.

Neuer Status: Man muss eine Lüge nur oft genug wiederholen, dann wird sie geglaubt.

Sie googelte. Ist das nicht von Goebbels? Ihre Freundin, die Nazis hasste, die immer mit allen ins Gespräch kam, die nie jemanden ausschloss – und jetzt offenbar Goebbels zitierte, im Ernst? Sandra Röhren stand in der Küche, als sie den Status las. Sie stand in der Küche und hatte keinen Hunger mehr.

Ihr Mann sagte, er hätte was gelesen über Verschwörungsideologen: Das sind Menschen, die eine Instabilität erlebt haben. Instabilität? „Wir hatten schon auch mal Phasen, in denen wir nicht so viel Kontakt hatten“, sagt Sandra Röhren. Erst die Männer, dann die Kinder. Ihre Freundin zog nach Magdeburg, verliebte sich in einen Polizisten, sie bekam zwei Söhne, so hatte jede ihr Leben. Aber nie haben sie sich verloren. Und nie hatte Sandra Röhren das Gefühl, dass ihre Freundin abdriftet. Gut, sie war offen für Alternativmedizin, sie brachte mal ein Pendel mit, sie glaubte an Schutzengel – und jetzt an Nazis, oder wie?

Sandra Röhren schrieb: „Warum rezitierst du einen der schlimmsten Menschen in der deutschen Geschichte? Ich verstehe diesen Post nicht, denkst du jetzt rechts?“

Ihre Freundin antwortete: „Um Gottes Willen Sandra, was hältst du denn von mir. Was Goebbels damals propagiert hat ist mit dem vergleichbar was gerade abgeht. (…) Diese Posts kommen von einer Plattform die nennt sich Freiheit der Gedanken, linker könnte es nicht sein.“

Sandra Röhren sagt, da war es vorbei. 23 Jahre – und sie wusste nicht mehr, wer ihre Freundin eigentlich ist. „Und immer habe ich mir Vorwürfe gemacht: Du musst sie retten, du darfst sie nicht aufgeben, du hast sie doch lieb.“

Aber es ging ja weiter, immer weiter, ständig neue Statusmeldungen – die Impfdiktatur wird kommen, Bill Gates wird uns zwangsimpfen, Corona kommt aus dem Labor, ihre Freundin schrieb: „Ich fühle mich seit Tagen verarscht, unsere Demokratie wird gerade abgeschafft. Ich poste so lange, bis es der letzte begriffen hat.“

Es war im April, als Sandra Röhren ihre Freundin bat, sie aus ihren Statusmeldungen rauszunehmen. Weil sie nichts mehr lesen wollte vom Weltuntergang. Weil sie keine Kraft mehr hatte, mit Argumenten gegen Emotionen zu kämpfen. Weil sie nicht über Whatsapp streiten wollte, wo man ja alles missversteht: Ist das jetzt ein Witz, was bedeutet dieser Smiley?

Sandra Röhren schrieb: „ (…) Ich möchte das nicht mehr sehen. Es ist schon schlimm genug, wie es zwischen uns ist, ich wollte das von Anfang an nicht.“

Ihre Freundin antwortete: „Ich nehme dich nicht aus meinem Status und hoffe auf ein versöhnliches Ende, ich möchte keinen Streit.“ Als hätte sie mit der ganzen Situation überhaupt nichts zu tun.

Sandra Röhren legt das Handy zur Seite.  Und das war ja erst der Anfang.

Worüber hat man früher gestritten? Ernsthaft gestritten? Über den Wehrdienst, die 68er, über Kriege und Atomkraft. Aber immer gab es einen gemeinsamen Nenner unter all diesen Brüchen, eine Grundlage, auf die man sich einigen konnte: Fakten sind Fakten. Und Meinungen sind Meinungen. Benno Ohnesorg wurde erschossen – Fakt. Kriege bringen nix – Meinung. Über Letzteres lässt sich streiten. Über Ersteres nicht.

An Corona sind bis jetzt fast 1,7 Millionen Menschen weltweit gestorben, es gibt unzählige Betroffene, die nichts mehr schmecken, die nichts mehr fühlen, die nicht mehr gehen können, die man theoretisch anrufen kann: Ich glaube der Presse nicht, aber erzähl mal, wie geht’s dir so mit deiner zerstörten Lunge? Macht nur niemand.

Stattdessen schreiben Verschwörungsideologen wie Ken Jebsen im Internet: Corona gibt’s nicht. Punkt. Lügen werden zu Fakten. Und plötzlich stehen sich die Menschen in brüllender Sprachlosigkeit gegenüber, weil es nichts mehr gibt, worauf man sich noch einigen kann. Mehr Social Distancing geht gar nicht.

Die Freundin.

Sie hat Hühnersuppe gekocht und Obst aufgeschnitten, sie steht schon lächelnd in der Tür, als man die Treppe zu ihr hochgeht. „Komm näher, komm rein, ich bin nicht krank.“ Darauf ein fester Händedruck.

Jetzt sitzt sie da auf ihrer Couch in Magdeburg wie reingeknautscht, braune Haare, blauer Pulli, die Beine angezogen wie ein Kind. Also, von vorne, die Sache mit Sandra. Aber da spricht die Freundin schon über ihre wahnsinnig anstrengenden Tage. Erst neulich sagte ihr Sohn, er habe Bauchschmerzen und wolle nicht mehr in die Schule. Kein Wunder, sagt die Freundin, er müsse ja auch ein tolles Schild tragen, „befreit von der Maskenpflicht“, „der neue Judenstern, wie ich schön sage“. Sie lacht, es klingt wie ein Seufzen, einsam und trotzig, und schon ist sie beim nächsten Thema.

Der Anschlag in Wien? Gefakt. „Es gibt Kameraeinstellungen, da haben sich die Toten noch bewegt und gerade hingelegt, und so’ne Scherze.“ Und im Fernsehen lief der Film „Wiener Blut“. Wiener Blut, Zufall oder wie? Friedensforscher Daniele Ganser, Massenmanipulation. Was, noch nie gehört? Die Freundin sitzt da und guckt wie eine enttäuschte Lehrerin, unangreifbar überlegen. Über dem Sofa hängt ein Bild von einer klapprigen Holzbrücke in einer sehr schönen Landschaft.

Eine Sache nur: Bloß keinen Namen. Nicht, weil sie ihre Meinung nicht öffentlich sagen würde, eher, weil sie Sorge hat, dass ihr etwas passiert. In Deutschland darf man ja nichts mehr sagen. Dann will sie doch ihren Namen in der Zeitung, gerade weil man in Deutschland ja nichts mehr sagen darf. Dann wieder nicht.

Die Freundin also sieht das so: Sie hat ihre Fakten. Und die Zeitung hat andere Fakten. Aber welche Fakten sind am Ende richtig? Wer hat recht? Seit Anfang des Jahres hat sie keine Nachrichten mehr gelesen. Sie sagt, sie glaubt keinen Zahlen vom RKI. Sie glaubt den Medien nicht, weil die Medien lügen. Weil die Medien über die App Telegram sagen, dass da nur Irre rumhängen, die sich eine Taschenlampe unters Kinn halten und Gruselmärchen erzählen. Sie sagt: „Das sind keine Leute, die da mit Taschenlampen sitzen, nee, das sind Leute, die über Corona einfach anders berichtet haben. Und das war sicher der Moment, wo ich mitgekriegt habe: Die Medien sind doch alle gleichgeschaltet.“

Seit dem Sommer liest die Freundin nur noch das, was in Telegram steht. „Schau.“ Sie öffnet die App und scrollt durch ihre Gruppen, „Stark bis zum Sarg“, „so werden wir dumm gehalten“, überall rote Ausrufezeichen, überall wütende Emojis, überall blinkende Nachrichten wie auf einem Jahrmarkt des Hasses.

Es begann nicht erst mit Corona, dass sie keinen Medien mehr glaubt. Es ging schon mit 9/11 los, als ihr Ex-Mann, der Polizist, sagte, schau mal, hier, dieser Journalist sagt was ganz anderes. Dieser Journalist war Ken Jebsen, der damals schon Lügen in die Welt trötete: 9/11, alles inszeniert.

Die Freundin findet ihn toll, warum, weiß sie nicht genau, sie nennt ihn „Ken“. Ken Jebsen hat seine eigene Telegram-Gruppe, wo er im Stundentakt Nachrichten reinballert. An diesem Nachmittag postet er einen Text zu den „Zeugen Coronas“, und dass wir alle ein „Schnupperpraktikum“ machen „als Bürger einer Diktatur“. Die Freundin findet das plausibel. Plausibler als die Zahlen vom RKI.

Es ist natürlich sehr leicht, hier einfach aufzuhören, weil man alles kennt, was jetzt kommen wird. Dass das Virus erfunden wurde, um die Gesellschaft zu spalten. Um dem kleinen Bürger Angst zu machen, damit man ihm alles nehmen kann. Die Freiheit, das Geld, die Würde. Und ganz oben, über den Wolken des Kapitalismus, sitzt Bill Gates und legt die Impfnadeln bereit wie Blitze. Für jeden Trottel da unten einen. So siehst sie das, die Freundin.

Aber sie ist eben auch Krankenschwester. Sie sagt, dass es 2018 eine Übersterblichkeit wegen der Grippe gab, was stimmt. Und dass es 2020 eben keine Übersterblichkeit wegen Corona gibt, was nicht stimmt. Sie sagt, wenn man nicht so viele getestet hätte, dann wären nicht so viele krank, was nicht stimmt. Sie sagt, die Maßnahmen rechtfertigen nicht die paar Toten in einem Land mit 80 Millionen. Darüber könnte man diskutieren. Aber die Freundin will nicht diskutieren. Sie will recht haben.

Es gab einen kurzen Moment Anfang des Jahres, als sie sich ernsthaft Sorgen machte wegen des Virus. Das war, als in Italien die ersten Toten gemeldet wurden. Sie stand im Krankenhaus und spürte die Panik der Kollegen, die sagten, das schwappt rüber, in zwei Wochen sind wir dran. Aber dann kam Woche eins – und im Krankenhaus war alles still. Woche zwei – und im Krankenhaus war alles still. Bald, Leute, werden sie euch einsperren und isolieren, mit der Begründung, ihr müsst andere schützen. So sagte das Ken Jebsen schon Anfang des Jahres, sagt die Freundin. Die Worte hallten in ihr nach wie ein Echo. Und das Echo wurde umso lauter, je länger das Krankenhaus leer und still blieb.

Man muss an dieser Stelle einmal kurz in die Vergangenheit springen, um die Angst zu verstehen, in die Menschen wie Ken Jebsen ihren Hass streuen. Die Freundin ist in der DDR geboren, in einer Stadt in der Altmark, in einem Haus, von dem aus man das Ortsschild sehen kann. Pioniernachmittage in der Schule, alle standen sie da mit hübschen Blüschen, alle sahen sie gleich aus, erinnert sich die Freundin. Sie war neun, als die Mauer fiel, und plötzlich ein Typ vor der Tür stand, „ein Wessi, der sagte, das Grundstück ist übrigens meins“. Sie sah die Hilflosigkeit ihrer Mutter, „es ging nur noch um Profit“.

Nach der Wende machte der Vater eine Umschulung zum Landschaftsgärtner, die Mutter fing in einem Steuerbüro an, sie stellten wenig Ansprüche an ihre Kinder. „Ich war stinkenfaul.“ Also kein Bock auf Schule, stattdessen hing sie als Jugendliche auf der Treppe bei der Sparkasse rum. Trinken, kiffen, Jungs. Die Noten wurden schlechter, sie wechselte vom Gymnasium auf die Realschule, wieder ein Verlust.

Zu Hause pflegte sie mit ihrer Mutter den Großvater, er war fast blind, sie brachte ihm Kaffee, sie rasierte seine Wangen, er sagte: Du bist meine Liebste. Und weil ihre Mutter sagte, sie könne so toll mit Menschen, bewarb sie sich schließlich am Henriettenstift in Hannover. Der Großvater starb. Sie zog um. Und mit ihr die Angst, jemals wieder etwas verlieren zu müssen.

Die Angst war wieder da, als sie später auch auf Telegram las, was keiner ihrer Kollegen zu merken schien: Dass Corona eine Waffe ist, um die Gesellschaft zu spalten. Dass man dagegen was tun müsste, Gesicht zeigen statt Maske. Aber im Krankenhaus rüsteten sie die Station um und stellten mehr Betten auf. Schutzkittel und Masken wurden knapp, Lieferengpass. Sie wurden angewiesen, die Handschuhe nur noch nach Patientenkontakt wegzuwerfen, die Masken den ganzen Tag aufzulassen, immer, sagt die Freundin. Sie ließ sich ein Attest vom Arzt geben, weil sie irgendwo im Netz las: Masken machen krank. Und blieb gesund, als sie auf der Arbeit trotzdem einen Mundschutz tragen musste.

Und dann kamen sie ja doch, die Patienten. Von März bis Mai wurden in dem Krankenhaus, in dem die Freundin arbeitet, 15 Corona-Patienten aufgenommen. Zwei von ihnen starben, sagt die Freundin. Woran? „Die hatten Vorerkrankungen.“ Der ist nicht an Corona gestorben? „Es gibt keine Corona-Toten.“ Sagt wer? „Der eine Rechtsmediziner aus Hamburg.“ Professor Klaus Püschel, der das so übrigens nie sagte – auf Facebook wurde ihm ein falsches Zitat angedichtet. Also: Professor Püschel hat doch nie behauptet, dass an Corona keine Menschen sterben. Die Freundin sagt: „Sorry, Fake News Media einfach nur.“ Sie hat ihre Fakten.

Und die Kollegen? Auch alle blind? Ja, nein, wobei. Ein Kollege von der Intensivstation erzählte ihr mal die Geschichte vom aufgeschwemmten Patienten. Der aufgeschwemmte Patient war ein Mann um die 40, der so starke Symptome hatte, dass ihr Kollege auf der Intensivstation gar nicht mehr wusste, wie sie den behandeln sollten. Dass sie ihn wechselseitig legten, weil er so aufgequollen war. Der Kollege sagte: Ich habe so was noch nie erlebt. Die Freundin sagt: „Es gibt keine Corona-Toten.“ Auf Station sagte sie das nie, wozu auch, sind ja alle brainwasht, die Kollegen, der Chef. Ihre beste Freundin.

Im Bücherregal der Freundin stehen Bilder von ihren Söhnen, von ihrem Freund, Bilder von ihrem 40. Geburtstag vergangenes Jahr. Sie trägt ein langes Kleid, Lippenstift, drum herum Frauen, dicht an dicht. Und mittendrin Sandra Röhren, die sie in den Armen hält wie ein großes, lachendes Geschenk.

„Sandra und ich haben uns am Ende nur noch missverstanden.“ Die Freundin steht auf und bleibt vor dem Bild stehen, als sähe sie es zum ersten Mal. „Sie wollte meine Sorgen überhaupt nicht verstehen, null, es ging immer nur um ihre Meinung.“ Sorgen? Na, die digitale Diktatur. Der Hass, den die Menschen ihr entgegenschleuderten, in der U-Bahn: „Aus welcher Scheißblase kommen Sie denn?“ Im Supermarkt: „Dahinten läuft eine ohne Maske!“ Und alles, was Sandra Röhren übrig hatte, waren Vorwürfe: Du bist rechts, du bist ein anderer Mensch, deine Meinung ist falsch, meine ist richtig. Und tschüss.

Aber echte Freunde hauen doch nicht einfach ab. Echte Freunde blockieren sich nicht gegenseitig, das ist ihr überhaupt noch nie passiert, sagt die Freundin. Gut, sie hat jetzt andere Freunde als früher. Im Sommer war sie in Berlin bei der „Querdenker“-Demo, die Kinder waren dabei und hatten schon gequengelt, da drehte sich ein Mann um und sagte: Deine Eltern gehen auch für dich auf die Straße. Toll, oder? Ein fremder Mann, der versteht, um was es geht. Ach, und eine alte Schulfreundin meinte neulich, hör zu, ich finde deine Meinung scheiße. Aber die schmiss sie nicht gleich aus ihrem Leben.

Die Freundin nimmt ihr Handy vom Tisch, drei Klicks sind es von Telegram zu Whatsapp, zu dem kleinen runden Profilbild von Sandra Röhren, blass und schwarz-weiß, und so weit weg wie der Mond. „Mein Freund hatte sie eingeladen zu meinem Geburtstag, obwohl sie mich blockiert hatte. Trotz allem. Ich hab gesagt, komm, wir klammern das Thema aus, mach ich sowieso ständig, wir quatschen einfach nur, und alles ist gut.“ Sie telefonierten noch einmal im Sommer. So wie Paare, die sich trennen und dann doch nicht loslassen können.

„Und sie sagte, du, ich komm nicht zu deinem Geburtstag. Ich komm nicht, weil ich keinen Streit will.“ Kein Wort darüber, dass Sandra doch diejenige war, die ihr die Freundschaft gekündigt hatte, weil sie ihre Nummer blockierte. Kein Wort über den Rauswurf, den Bruch, keine Entschuldigung, nichts. Stattdessen oberflächliches Blabla, wie geht’s der Familie, lass uns doch ein anderes Mal treffen, ich blockier dich auch nicht mehr. Wie kindisch. Bis zum nächsten Block-down oder wie.

Die Freundin postete weiter in ihren Whatsapp-Status wie zum Trotz: Keine Mikrochips im Menschen, weiter, weiter – es ging doch um die Zukunft. Wieder blockierte Sandra Röhren ihre Nummer. Und als sie das sah, sagt die Freundin, ist etwas in ihr zerbrochen. Sie stand da gerade auf Station, wo ihr mal eine Patientin erzählte, dass sie ihren Sohn jetzt nicht mehr drücken dürfe, wegen Corona. Wie sehr sie das doch brauche. Und die Freundin dachte: Was für ein Leben, einsam und krank, wegen einer verdammten Lüge.

Sie sammelte ihre Wut, schob Sätze durch ihren Kopf, verwarf sie wieder, sie fuhr nach Hause und schrieb ihre letzte Nachricht an Sandra Röhren. „Hallo Sandra, ich möchte erstmal keinen Kontakt zu dir haben. Du kannst mich anscheinend nicht sein lassen wie ich bin. Verstehst nicht ansatzweise meine Sorgen und Ängste in dieser Zeit, weil es nicht in dein Weltbild passt. Du bist nicht die einzige, die meine Posts nicht mag oder verstehst, aber du bist die einzige, die mir Vorwürfe macht und mich mit einem Wisch, und das scheint dir ja leicht von der Hand zu gehen, aus deinem Leben wischst. Ich bin darüber sehr traurig, aber nicht so sehr wie noch vor ein paar Wochen, da war schon so viel kaputtgegangen und es hat mich tagelang beschäftigt. Jetzt in diesem Moment fühlt sich meine Entscheidung richtig an. Ich wüsste nicht, was wir miteinander besprechen wollen oder was ich dir anderes schreiben soll. Lass mal Gras drüber wachsen, vielleicht finden wir ja wieder zusammen.“

Das war am 10. Juli 2020. Die letzte Nachricht. Bei „Maischberger“ diskutieren ein paar Wochen später Politiker über die Frage, ob und wie Corona die Gesellschaft spaltet.

Die Freundin sitzt da, die Hände auf den Knien, das erste Mal, dass alles still wird in dem kleinen Wohnzimmer. Draußen vor dem Fenster rauscht der Wind im Baum. Sie will etwas sagen, öffnet den Mund, schließt ihn, legt das Handy weg, dann steht sie auf und kommt wieder, den Arm voller Fotoalben. Sie sagt: „Wir haben uns wahnsinnig gut verstanden, immer, verstehst du, in beschissenen Zeiten und in ganz tollen Zeiten, sie war mir so wichtig, so wichtig.“

Ihre Stimme zittert, sie schlägt das erste Album auf: „Freunde und Familie“. Bilder von der Mutter, die sie neulich anrief und sagte, du und dein Corona, pass auf, was du im Krankenhaus sagst. Ihre Schwester, die angeblich genauso denkt wie sie, nur dass sie den Maskenquatsch mitmacht. Bilder von Sandra, wie sie dasteht mit einer Sonnenblume in der Hand. Sandra, wie sie auf einer Decke sitzt an den Ricklinger Teichen, breit grinsend. Sandra auf Rügen, wie sie posiert, Sonnenbrille, Löwenmähne, als hätte es damals schon Instagram gegeben. Ihre Freundin lacht, quietscht fast, sie fährt mit den Fingern über die Bilder, Sandra, die Wandelbare, die mehr Schuhe hatte als Heidi Klum. Die mal mit einem schwarzen Pixie-Schnitt in die Schule kam, ausgerechnet sie, die Schüchterne.

Das nächste Album, ein Rausch aus Erinnerungen, ein schwarzes Fotoalbum mit silberner Schrift. „Das hat sie mir zum Umzug geschenkt, ich hab’s bei mir im Schlafzimmer.“ Sie schlägt die erste Seite auf und beginnt, laut vorzulesen.

„Dieses kleine Album soll dich an neun schöne Jahre erinnern. Hier in Hannover haben wir uns kennengelernt, Gott sei Dank, sonst hätte sich nie eine so wundervolle Freundschaft entwickeln können.“

Nächste Seite: „Oh nein, das Sindo, der Sushiladen wird jetzt pleitegehen, ohne uns!“

Nächste Seite: „Im Juli 2004 bist du meine Trauzeugin geworden! Ich könnte mir keine bessere Trauzeugin vorstellen, du bist wirklich immer für mich da, das weiß ich, das gilt auch für dich!“

Letzte Seite: „Die Tage sind gezählt, dann verlässt du Hannover endgültig. Mit wem soll ich nun die ganzen schönen und unvergesslichen Momente erleben? Das geht mit niemandem so gut wie mit dir …“

Die Freundin bricht ab, starrt aus dem Fenster, setzt neu an, liest den letzten Satz: „Du bist und bleibst meine allerbeste Freundin“, sie schließt das Buch, sie weint, es klingt wie ein Wimmern.

Auf ihrem Handy leuchtet eine neue Nachricht. Ken Jebsen hat was auf Telegram gepostet.